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Eine Stadt, genannt Schneehuhn

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„Hier gibt es Amazonen, hier trifft man Menschen mit Hundeköpfen und Zyklopen mit einem Auge mitten auf der Stirn. Hier leben die, die Solinus Ymantopeden nannte, die Einbeinigen, die auf einem Beine herumhüpfen.. Diese Sätze stammen von Bischof Adam von Bremen, sie wurden vor rund 900 Jahren geschrieben und bilden eigentlich die erste „Reportage“ eines Deutschen, der Lappland und das nördliche Schweden besucht hat. Zwar mag dem Verfasser bei seiner „Reportage“ ein wenig die. Phantasie durchgegangen sein — was ja auch hin und wieder modernen Schreibern passieren soll —, bezeichnend jedoch ist damals wie heute, welchen starken Eindruck eine Lapplandreise auf den Mitteleuropäer macht. Der moderne Chronist

sieht sich nicht in der Lage, die Nachrichten Bischof Adams von Bremen zu bestätigen, eines kann er jedoch kundtun nach seinen zwei Reisen, die erste zur Zeit der Mitternachtssonne, die zweite in die „ewige Nacht“ unternommen: Lappland und Kiruna sind nach wie vor Gebiete, die auęh dem modernen Reisenden den Atem nehmen, Kiruna — das Wort kommt aus dem Lappischen und bedeutet Schneehuhn — ist eine Stadt der Superlative, der Kontraste, der Großartigkeiten und Überraschungen. Hier nur einige von ihnen: \

Kiruna ist zunächst flächenmäßig die größte Stadt der Welt, die Gesamtfläche der Stadt ist so groß wie der Regierungsbezirk Oberbayern. . Hier fährt die nördlichste Straßenbahn der Welt und werden wohl ,die höchsten Löhne in ganz Europa gezahlt. Man kann in Kiruna ein Hotelzimmer mieten, in dem man 24 Stunden täglichen Sonnenschein hat — im Sommer natürlich —, und in vier langen dunklen Winterwochen erhebt šich die Sonne überhaupt nicht über den Horizont. Mehr: Im „Stadtgebiet" rauscht der gewaltige Torneträsk, bekannt geworden durch das gigantische, utopisch anmutende Atlantikprojekt, das den Bau eines Superkraftwerkes mit einer Wasserableitung durch die norwegischen Berge zum Atlantik hinunter vorsieht. „Natürlich“ — so ist man fast versucht zu sagen — erhebt sich auch Schwedens höchster Berg, der Kebnekajse, in der Stadt, die im übrigen von Schweden, Finnen und Lappen — hier Samen genannt — bewohnt wird. Auch 30.000 Rentiere, Milliarden Mücken und eine Handvoll Wölfe, Lüchse und Bären hausen in den „grünen Vorstädten" von Kiruna. Das schließt wiederum nicht aus, daß Neonlicht, amerikanische Luxusäutomöbile, die neuesten Hollywoodfilme und andere „Segnungen“ der Zivilisation hier unbekannt sind. Ein luxuriöses Bad im Stil einer „Schwimmoper“, ein funkelnagelneuer Großflugplatz — und

nur wenige Meter weiter beginnt die atemberaubende Weite der Wildmark, die- weg- und steglose Tundra Lapplands, die man als Europas letzte Wildnis bezeichnet. .Außerdem — aber das wäre falsch ausgedrückt, liegt hier doch der Grund für alles andere — befindet sich in Kiruna eine der größten Erzgruben der Welt.

Wahrhaftig eine unglaubliche Stadt, die immer noch ein wenig die Atmosphäre einer Göldgräbersiedlung des amerikanischen Mittelwestens atmet, anderseits eine der modernsten Siedlungen Nordschwedens ist.

Die Geschichte der Stadt am Kiruna- vaara — dem Schneehuhnberg — und zugleich die Geschichte Lapplands beginnt im 17. Jahrhundert; aus dieser Zeit datieren die ersten Aufzeich-

nungen der Erzvorkommen. Freilich konnte noch niemand ahnen, welche Bedeutung „das Gold Lapplands“ noch einmal bekommen sollte. In den ersten Jahrhunderten schleiften die- Lappen mit der Ackja — dem bootförmigen Rentierschlitten — die Erzbrocken Stück für Stück in tagelangem Marsch an die Küste, wo es in kleinen Öfen verarbeitet wurde. Selbst in der Zeit, als die Könige Karl Johann XIV. und später Oskar I. von Schweden die Erzfelder in Lappland besaßen, kam es nicht zum systematischen und im gro-

ßen Stil betriebenen Abbau. Die moderne Geschichte der Stadt beginnt mit dem Bau der Erzbahnen nach Lu- leä und Narvik um die Jahrhundertwende. In wenigen Jahrzehnten wuchs das kleine Dorf mit etwa 300 Einwohnern zur Stadt heran, ,zur Stadt der Kontraste und Paradoxien. Kiruna liegt 150 Kilometer jenseits des Polzirkels, auf der gleichen Breite wie Mittelgrönland und Nordalaska — bis zur nächsten Großstadt sind es 1400 Kilometer. Selbst die schnellen elektrifizierten D-Züge brauchen rund 16 Stunden nach Stockholm hinunter. Das hochwertige Erz wurde bisher in Kiruna- vaara, Luossavaara und Malmberget — wörtlich: der Erzberg — im Übertagebau gewonnen; heute ist man zum Untertagebau übergegangen. In Kiruna

lagert die gewaltige komprimierte Erzscheibe im Berg. Die Ausmaße sind wahrscheinlich fünf Kilometer lang, durchschnittlich hundert Meter dick und mindestens 800 Meter tief. Aber genau weiß man das noch nicht, wie auch die anderen Erzvorkommen in Lappland in Sappavaara und anderen Gebieten noch auf die Erschließung warten. Wozu auch, hat man doch errechnet, daß man -allein in Kiruna noch 200 Jahrd Erz abbauen kann — so gewaltig sind die Vorkommen. Das Lapplanderz mit seinen etwa zwanzig

Qualitätssorten ist weltberühmt. Der Eisengehalt beträgt bis zu 69 Prozent. Im Rekordjahr 1960 hat man rund 16 Millionen Tonnen Erz gebrochen, rund 50 Prozent der Produktion wird an Rhein und Ruhr verschifft. Weitere Abnehmer sind Großbritannien, Belgien, kleinere Lieferungen gelangen auch nach Polen und in die USA und gehen in die eigene Produktion. Die Grube wurde im Jahre 1957 durch den schwedischen Staat übernommen, nur noch ein winziger Teil der Aktien befindet sich in Privatbesitz. Die Produktion und der Export von Lapplanderz schlägt natürlich im schwedischen Außenhandel kräftig zu Buch; rund acht Prozent des Gesamtexports entfallen auf Erz. Gegenwärtig befinden sich Kiruna und die Grubengesellschaft LKAB — beide kann man gut in einem Atem nennen, denn manchmal vermischen sich hier die rein kommunalen und geschäftlichen Interessen, Was bei eitlem jähtllchetl Steueraufkommen von rund vier Milliarden nicht verwunderlich erscheint — iii einer hektischen Periode der Expansion. Seitdem die gigantischen Spezialfahrzeuge, die das Erz direkt vom Übertagabbruch in das Brechwerk schafften — die „Lastwagen“ fassen 30 Tonnen, haben zwei Dieselmotoren mit zusammen 400 PS, zehn Vorwärts- und zwei Rückwärtsgänge —, ihre Bedeutung verloren haben, konzentrierte man sich mehr auf die Gruben selber. Rationalisierung und Automation, wo es nur irgend geht, heißt die Parole! Die unterirdischen Anlagen sind gewaltig in ihren Dimensionen, mehrere hundert Meter hoch sind die im Berg eingebauten Taschen, in denen das Erz gelagert wird. Das Beladen der Erzzüge selbst erfolgt tief unten im Berg auf dem 230-Meter-Niveau. Mehr als drei

ßig Erzzüge verlassen täglich Kiruna, in kühnen Bogen, durch Tunnels schwingt sich die Bahnlinie die 550 m Höhenunterschied am tiefblauen Ofot- fjord hinunter zum Atlantik. Doch die Kapazität der Erzbahn und der Häfen — das sind Narvik, eisfrei ganzjährig dank des Golfstroms, und Luleä am Bottnischen Meerbusen, sieben Monate eisfrei — reicht nicht mehr aus. Enorme Investitionen müssen gemacht werden, damit der Erzhunger Europas auch noch im Jahre 1970 — voraussichtliche Exportquote 30 Millionen Tonnen — gestillt werden kann. Gegenwärtig will man neue Erzwagen konstruieren, die statt 42 nun 60 Tonnen fassen. Da Narvik nicht mehr weiter ausgebaut werden kann, plant man die Anlage eines neuen Hafens im RombacksfjOrd. Auch in Luleä-Sandhamn entsteht ein neuer Erzhafen, dazu kommen neue Aufbereitungs- und Anreicherungswerke. Ein erster lappländischer „Wolkenkratzer“; das neue supermoderne Bürogebäude der LKAB, wurde gerade am Fuße des Schneehuhnberges elH- geweiht.

Obwohl seit dem Jahre 1928 Arbeitsfriede in Kiruna herrscht, die Arbeiter hier die höchsten Löhne in ganz Schweden erhalten und Stundenlöhne bis zu 50 und 75 ö. S. hier keine Seltenheit sind, mangelt es nicht an Problemen. In dem Land, in dem man leicht während der Zeit der Mitternachtssonne einen regelrechten „Sonnenschwips“ bekommen kann und die Kontrolle über einen geregelten Lebensverlauf verliert, im Gebiet der „ewigen Nacht“, in der nur der Schnee, der Mond und die grandiosen Nordlichter leuchten, wächst ein eigenartiger Menschenschlag heran. Im ganzen Gebiet der Nordkalotten beobachtet man einen Hang der Menschen hin zum Extremen. Die ärztlichen Statistiken weisen weitaus höhere Ziffern für Geisteskrankheiten auf, der Alkoholis- mus hat hier ganz andere Dimensionen als im übrigen Skandinavien, und die „Lappsjuka“ — die „schwarze Schwermut“ der Nordländer — ist hier ein fester Begriff. Die linksextremen Parteien haben hier — das gilt für das reiche Nordschweden als auch für die ärmeren Gebiete auf gleicher Breite in Finnland und Nordnorwegen — ihre stärksten Stellungen. In Kirunas Stadtverwaltung sitzen zum Beispiel 21 Sozialdemokraten, neun Kommunisten und nur vier bürgerliche Abgeordnete, in den Gewerkschaften haben die Kommunisten eine starke Stellung, was — durch die Sprachbarriere zwischen Schwedisch, Finnisch und Lappisch verstärkt — leicht zu Auseinandersetzungen führen kann. Eine Reise nach Lappland im Winter gehört mit zu den mehr ungewöhnlicheren Abenteuern, doch die eigentliche Zeit der Tundren und Wälder am Kebnekajse und am Lappentor, am Torneträsk und an den Wildwassern der Nordkalotten beginnt später. Im Mai bricht das Eis im Bottnischen Meerbusen auf, mit unglaublicher Schnelligkeit bricht fast über Nacht und ohne Übergangsfrühling der Sommer herein.

Eine Flugreise in der Einsamkeit der Lapplandseen zur Zeit der Mitternachtssonne, das gehört mit zu den unwirklichsten Erlebnissen, die man sich denken kann.

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