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Stadt der verschobenen Zeiten

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AUF EIN GEWALTIGES TALBECKEN schwebt man zu, das sich zwischen zwei hochaufragenden Gipfelketten öffnet, bevor das Flugzeug zur Landung ansetzt. An den Hängen des Witoscha-Gebirges und des Balkans

breitet ich Sofia aus, die nur spärlich bewaldeten, erdbraunen und felsigen Grate ragen über die Stadt, und auf welchen Plätzen und Straßen man auch steht, die Bergspitzen blicken herunter, sie beherrschen die Szenerie.

Kaum in einer anderen Metropole der östlichen Satellitenstaaten hat man so deutlich den Eindruck, in einer von uns unendlich fernliegenden Gegend der anderen Hemisphäre zu sein. In Sofia ist Asien nahe, aber nicht der Orient aus Tausendundeiner Nacht. Im Vergleich zur bulgarischen Hauptstadt verspürt man etwa in Bukarest einen Hauch von Welt, und, wie das einfache Volk in Bulgarien bei dem Wort ,,ja“ mit dem Kopf unsere Nein-Bewegung ausführt und umgekehrt, so verschieden ist auch sehr vieles andere. Außerdem entspricht der Charakter Sofias sehr wenig der bei uns gebräuchlichen Vorstellung einer Balkanstadt. Die Menschen erwecken alles andere als den Eindruck von Beweglichkeit und Geschicklichkeit, ganz im Gegenteil, das Mißtrauen, die Verschlossenheit, die Indifferenz jedem Zeitbegriff gegenüber und eine beinahe derbe Offenheit, wenn die wortkarge Haltung einmal geschmolzen ist, bestimmen die Wesensart.

•TSOFIA HATTE, ALS DAS LAND 1877 endlich von den Türken befreit wurde, insgesamt 20.000 Einwohner. Von 1382 an war dieses Gebiet ein halbes Jahrtausend lang ein Teil der Türkei. Die christliche Kultur wurde bis auf wenige Spuren vernichtet, die Bevölkerung in bitterer Armut niedergehalten. Als 1877 die russische Armee das türkische Heer zurückschlug, begann Bulgarien ungefähr dort, wo es 1382 seine Entwicklung beendet hatte. 500 Jahre Europa waren nachzuholen. Heute zählt Sofia fast 800.000 Einwohner, also das Vierzigfache wie vor 85 Jahren, und noch 1949 verzeichnete man erst 300.000 Personen, die Bevölkerung verdoppelte sich also während der letzten dreizehn Jahre. Die neuen Städter aber sind die Bauern und Gebirgsleute von gestern, die in gewaltigen Zuzugswellen nach Sofia geflutet waren. So ist die bulgarische Metropole zwar eine Großstadt, aber

ihre Einwohnerschaft hat sich von den Gewohnheiten, der Verhaltensweise eines in den Bergen lebenden Volkes — und die Berge sind ja auch hier so nahe — nur äußerlich gelöst. Sie sind noch mitten auf dem Weg zum heutigen Europa, auch zu jenem Europa, wie es die östliche Hemisphäre zu bieten imstande ist.

Obwohl die Stadt mit den Randbezirken weit ausgedehnt daliegt, kann man fast alle wichtigen Angelegenheiten zu Fuß besorgen. Der Stadtkern ist klein, und man geht vom Leninplatz kaum länger als zehn Minuten zu den Büros der Ministerien, der Verlage, des Schriftstellerverbandes, zu den Theatern und Museen. Geographisch findet man sich rasch zurecht, gerät aber im Sinne der geistigen Orientierung vorerst in immer ärgere Schwierigkeiten. Viele Gebäude, die erst nach dem Sturz Stalins errichtet wurden, prangen noch im klotzigen Repräsentationsstil der stalinistischcn Epoche. Das mit riesigem Geldaufwand unter reichlicher Verwendung von Marmor erbaute Hotel ,,Balkan“, das Parteihaus, das große ZUM-Waren-haus, sie sind Beispiele der damaligen Monsterarchitektur, die hier auch nach dem 20. Parteitag noch ausgeführt wurde. Erst in den letzten drei Jahren stellte man sich in dieser Hinsicht merkbar um, doch war das Bild des Zentrums bereits festgelegt, und für den neueren Stil blieben hauptsächlich die Wohnbaukomplexe weiter außerhalb. Übrigens hatte es im Zentrum, wo jetzt die Stalinbauten stehen, erhebliche Bauschäden durch 16 Luftangriffe der Amerikaner gegeben, obwohl Bulgarien nicht aktiv am Krieg teilnahm, allerdings dem Drei-Mächte-Pakt beigetreten war.

DAS DIMITROFF-MAUSOLEUM, von zwei reglos wie etwa vor dem Buckinghaim-Palace stehenden, historisch gekleideten Posten Tag und Nacht bewacht, ist heute noch ein Monument des Personenkults, der in der UdSSR selbst nur mehr Lenin gdten darf. Zweimal in der Woche öffnen sich die Tore, und Schulklassen aus fern und nah werden ins Innere geführt: vorbei an der balsamierten Leiche Dimitroffs, die in gelb gedämpftem Lampenlicht wie schlafend daliegt, wachsfigurenhaft, gespenstisch. Nicht nur die großen historischen Etappen der zivilisatorischen Entwicklung, auch die Phasen des und anfangs verwirrende Weise ineinandergeschoben. Sofia gleicht außen und innen einem Bild, das aus mehreren übereinanderkopierten Aufnahmen entstand, und man weiß anfangs nie ganz sicher, im Bereich welcher Kopie man sich eigentlich wirklich befindet.

Abends drängt ein südländischer Korso über die Gehsteige auf die nur von wenigen Autos befahrenen Straßen, Neonlicht erhellt die Boulevards, von den vielen Gärten her duften die Rosen, da und dort erhebt sich die dunkle Kontur einer einstigen Moschee mit dem Turm des Muezzins. Man findet recht viele historische Gebäude, Sveti Georgi, die älteste Kirche Sofias, die Sveta Sofia, die unter Justiimian errichtet wurde, die sogenannte „Große Moschee“, in der heute das Archäologische Museum untergebracht ist, die „Rote Moschee“, und natürlich die Zeugnisse der Bauperiode nach der Türkenbefreiung, wie die große Alexander - Newski - Gedächtniskirche mit ihren weithin leuchtenden goldenen Kuppeln. Folgt man dem Strom der am Abend dahinschlendernden Menschen, so steht man bald vor dem Tor des acht Stock hohen ZUM-Waren-hauses. Es ist bis neun Uhr abends und auch Sonntag vormittags geöffnet. Man kann hier fast alles kaufen, was in diesem Land zu haben ist. Lebensmittel und Schuhe, Textilien, Spielwaren, Blumen und Radioapparate. *

EIN SEHR BESCHEIDENES DASEIN fristen hier die Menschen, halten aber auf Sauberkeit und Ordnung. Man findet liebevoll aus einfachsten Mitteln zusammengestelltes Kinderspielzeug; Plastiktiere, Schwimmreifen und Luftmatratzen aus Kunststoff, alles aus wenig strapazierfähigem Material. Die Enereie. über die alltäglichsten Notwendigkeiten hinauszukommen, ist unverkennbar. Auch die ganze Anlage des Warenhauses mit Aufzügen und breiten Galerien zeigt dieses Streben, obwohl die zu erstehenden Objekte schlicht genug sind. Die Preise erreichen eine stattliche Höhe, vor allem, wenn man sie an der Qualität der Waren und dem möglichen Einkommen mißt. Eine Mittelschullehrerin verdient 80 Lewa monatlich, rund 1600 S, ein Ladenmädchen aber nur 20 Lewa weniger, also 1200 S, ein Redakteur, ein Rechtsanwalt oder ein Arzt rund 120 Lewa, also 2400 S, Schauspieler und Sänger erhalten 150 bis 200 Lewa (3000 bis 4000 S), absolute Spitzenkräfte bis 3 50 Lewa, also 7000 S.

Ein Anzug kostet etwa 70 Lewa (1400 S), Schuhe zwischen 7 und

24 Lewa (140 bis 480 S), der Meter Anzugstoff 18 bis 27 Lewa (360 bis 520 S), Radioapparate bekommt man für 53 bis 135 Lewa, das sind 1060 bis 2700 S, Fernsehapparate von 265 bis 295 Lewa (5300 bis 5900 S). Recht ungünstig sind die Preise der Lebensmittel: Fleisch kostet rund 4 Lewa pro Kilo, mit reichlich Knochen als Zuwaage (80 S), Butter 2,60 Lewa (52 S), 1 Kilo Äpfel 1 Lew (20 S), 1 Kilo Brot nach Qualität zwischen 1.50 und 3.40 Lewa (30 S bis 68 S), Bedenkt man, daß Bulgarien vor allem als Agrarland bekannt war, dann fallen diese Preise immerhin auf. Oft gibt es zeitweise keine Butter oder das Fleisch bleibt aus; dann muß man verzichten oder in einem anderen Bezirk auf die Suche gehen.

DIE FRAUEN ARBEITEN SCHWERER UND MEHR als die Männer, dafür bleibt dem Mann stets die angenehmere Beschäftigung vorbehalten; besonders auf dem Land ist diese alte Türkengewohnheit noch sehr deutlich in Erinnerung. In Sofia arbeitet man viel, aber nicht, ohne gelegentlich ausgedehnte Amtswege durch die verschiedenen Gärten zu unternehmen. Wahrscheinlich sind sie auch der Entstehungsort der zahlreichen Witze, in denen der erfundene armenische Sender ,,Erevan“ und die stehende Figur des schlagfertig naiv-schlauen Armeniers Karabet eine immer wiederkehrende Rolle spielen. Sender Erevan beantwortet alle Fragen stereotyp positiv, Karabet ist eine rustikale Bobby-Variante. Ungefähr so: „Kann man sich auf einen Igel setzen?“ Sender Erevan erwidert: „Ja, natürlich. Mit der Sitzfläche des anderen oder, wenn man dem Befehl der Partei folgt.“ Oder: ..Kann man die Schweiz sozialisieren?“ Sender Erevan: „Sicherlich, aber es wäre schade.“ Es ist ein eigenartig östlicher, fast orientalischer Witz, der sich da bemerkbar macht.

DIE WIRTSCHAFTLICHE SITUATION ist schon deshalb schwierig, da Bulgarien seinerzeit den industriellen Anschluß vollkommen versäumt hat und die Agrarprodukte im Export nur geringen Wert haben. Der radikale Aufbau einer neuen Industrie zieht nun Kräfte von der Landwirtschaft ab und wird noch viele Jahre benötigen, bis er etwa -das Lebensniveau der CSSR ermöglicht, die, von Sofia aus gesehen, wirtschaftlich wie ein silberner Westen erscheint. Die früher bloßfiißigc Landbevölkerung trägt jetzt Schuhe, aber die Zeit, die noch vergehen wird, bis halbwegs normale Verhältnisse — normal im Vergleich zu unserem Lebensstandard — erreicht sind, ist kaum absehbar.

Bulgarien war infolge seiner geringen wirtschaftlichen und organisatorischen Eigenständigkeit nach dem zweiten 'Weltkrieg ein sehr leicht zu bestimmendes Land: Rasch wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft durchgeführt, und mit 90 Prozent verstaatlichtem Boden steht Bulgarien

an der Spitze aller Satelliten (in Polen sind nur 12 Prozent kollektiviert!). Auch für diese Gefolgschaft gegenüber den Russen gibt es historische Voraussetzungen, denn die Verbindung mit Rußland besteht seit der christlichen Missionszeit — sie dokumentiert sich unter anderem auch in der Schrift und der vielfach dem Russischen ähnlichen Sprache — und wurde mit der Türkenbefreiung durch russische Truppen noch besiegelt.

Man blickte schon immer recht aufmerksam nach Moskau, und dies auch nach dem Einmarsch und baldigem Abziehen der Truppen Stalins. Freilich ließ man.sich nach dem 20. Parteitag im Jahr 1956 Zeit mit der Veränderung der Parteilinie. Dann aber mußte der stalintreue Parteichef Tscherwen-kow weichen, und Todor Schiwkow schwenkte stärker auf den neuen Kurs. Allerdings, wie man hört, noch keineswegs ausreichend für Chruschtschows Wünsche, und so sollen nach dem letzten Besuch des russischen Machthabers manche Sessel in Bulgarien heftig wanken. Man gibt einer neuen Parteigröße, dem etwa fünfund-dreißigjährigen Mitko Grigorow, einem nach bester Pariser Mode gekleideten Intellektuellen, die größten Karrierechancen in der künftigen Entwicklung. *

DIE MINORITÄT, DIE EINST DAS MONDÄNE SOFIA dargestellt hat, ist zum Teil nach dem Westen geflohen, zum anderen im Land selbst verstreut und lebt, soweit es sie noch gibt, unter harten Bedingungen. Auch die Kirche hat wenig Einfluß, einerseits weil das orthodoxe Christentum politischjViel indifferenter ist als etwa die katholische Kirche, die in Polen einen nachdrücklichen Machtfaktor bildet, anderseits weil die bulgarische Bevölkerung nie von starkem religiösem Glauben geleitet war. Der Staat säkularisiert langsam die Klöster — vor wenigen Monaten wurden die letzten Mönche sogar aus dem berühmten Rila-Kloster entfernt —, man nimmt ihnen alle karitativen Möglichkeiten, alle Einkünfte bis auf ein kleines staatliches Gehalt. Die Weihnachtsund Osterfeiertage wurden, im Gegensatz zu anderen Satelliten, restlos abgeschafft. Die Hochämter an den sonst arbeitsreichen Festtagen, mit ihren herrlichen Chören, in denen die slawischen Bässe aus mystischen Tiefen in den Kuppeln widerklingen, werden in Fernsehfilmen festgehalten, im Sinn einer aussterbenden Folklore.

NACHT FÜR NACHT WÄSCHT MAN die Straßen von Sofia mit Spritzwagen und viel Personalaufwand, weit über den praktischen Zweck hinaus, jede Spur von gestern, jede Vergangenheit, soweit sie nicht ins Museum gehört, verschwinden. Geht man abends über die Boulevards oder spaziert auf dem Leninplatz und sieht dieses unermüdliche Fegen und Schwemmen, so erhält es geradezu symbolische Bedeutung: als läge darin der unermüdliche Versuch, mehr als ein halbes Jahr-

tausend bitterster Armut wegzutilgen. Seitdem die Türken 1382 diesen Teil des Abendlandes überfluteten, lag hier dunkler Schatten. Lind auch heute befindet sich noch alles in der Nachhut. Bulgarien fährt, so scheint es, im letzten Waggon Europas.

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