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Kasan — russische Großstadt

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Wir sollen in ein Lager in der Wolgastadt Kasan versetzt Werden. Nach drei Jahren Waldatbeit in den einsamen Regionen der „Saklutschonni“, der Verschickten, für die Dostojewskis „Memoiren aus einem Totenhaus“ immer noch gelten; gleichbleibend seit vielen Menschenaltern, unberührt vom Szenenwechsel der Geschichte. Die Freude ist groß — was man so Freude nennt im Leben der Gefangenen.

Der Pefsonenzug — pünktlich und ordentlich wie alles Verkehrswesen in Rußland — nähert sich der Stadt. Die Mitreisenden, meist Arbeiter, greifen in die Tasche nach Machorka und Papitossi und bieten uns an unter freundlichem Plaudern. Aus dem neugierigen Woher-Wohin spricht wärmes Mitempfinden. Sie wissen alle, was es heißt, gefangen zu sein. Doch nur der namenlose kleine Mann spricht uns dn. Die besser Gekleideten, sichtlich Funktionäre und Beamte, die zur Stadt fahren, schweigen reserviert. Ein Wort des Hasses, der Politik fällt selten. Sie wundern sich, daß wir noch da sind, nicht schon längst entlassen: „Das ist so, man muß warten; nichts hilft."

Schon sieht man von ferne die Stadt. Das Abendlicht beglänzt die alten tatarischen Kremlmauern mit den Glockentürmen und die bunten Zwiebeln und Kuppeln der Kirchen. Unter welchem Turm mag die „heilige Muttergottes von Kasan“ auf ihre Gläubigen warten?

Unsere lange Kolonne zieht durch die Straßen. Wo haben wir doch diese Häuserfluchten schon einmal gesehen? Wo diese Fensterläden und Hinterhöfe, schmucklos, überquellend von Menschen, ohne erkennbares ordnendes Prinzip? Chaotisches Durcheinander östlicher Städte: in Polen, in Wolhynien, in Weißrußland nicht anders als hier. Ein mittelalterlicher Stadtkern um eine tatarische Burg mit Tortürmen und Palisadenmauern, fremd, asiatisch anmutend, einer läiigst versunkenen Vergangenheit zugehörig, ist umdrähgt von einer beziehungslos wuchernden Masse von Häusern, Ländliche Holzbauten, manche noch mit geschnitztem Zierat, rücken in die Stadt ein. Rohziegelfassaden traget! den Charakter des Improvisierten an sich, und Vernachlässigung und Verfall beginnen schon mit dem Er-

Sauen. Nichts wird bleiben, nichts wird Dauer haben, niemand weiß, was morgen sein wird. Mitten aus dem Häuserwirrwarr der zaristischen Zeit und den neuen Zusiedlungen ragen die Betonkolosse der neuen Epoche, halbfertig, in den pathetischen Bauformen des totalen Staates: Ministerien, Verwaltungsgebäude, Schulen.

Die sauberen, gut beleuchteten Hauptstraßen entlang sausen auf den Betonstraßen bis zum Stadtrand, wo sich die Wege in die Grundlosigkeit des flachen Landes verlieren, die neuen eleganten Autos der Typen „Moskwitsch" und „Pobjeda", nach der Formverwandtschaft im Plennyjargon „Moskwopel" und „Opel-Pobjeda“ genannt. Sie überholen die modernen Straßenbahnen und Obusse, die sich von denen in Westeuropa Picht unterscheiden.

Wir arbeiten am Bau eines gut geplanten riesigen Theaters, mitten in der Stadt. Ein paar Schritte von der Baustelle enfernt steht die Universität, ein klassizistischer Bau mit Säulenhalle ind Architrav darüber, der von Klėnzė oder Eosander v. Goethe gebaut sein könnte und wie er wenig abgewandelt das Stadtbild des alten St. Petersburg oder Warschau architektonisch geprägt hat. Der Atem der revolutionären Feuergeister Puschkin, Lermontow und Nekrassow scheint noch herüberzuwehen, deren Schwärmerei zum ersten frühen Ferment der Leninschen, der endgültigen Revolution wurde. Ein „Kulturpark“, offiziell so benannt, den jeder russische Ort als Sinnbild der neuen Errungenschaften hat, liegt davor: hölzerne Triumphbogen mit den Emblemen von Stern, Sichel und Hammer, Fahnendraperien, Losungen und den Gipsbüsten der bolschewistischen Heroen. Es sind dieselben Sprüche und Leitsätze wie in der Fabrik, im Kontor, auf der Baustelle, am Bahnhof, auf der Straße. „Es lebe der 31. Jahrestag der siegreichen Oktoberrevolution, die das russische Volk und alle friedliebenden Völker befreit hat.“

Viele Menschen eilen vorbei. Wir suchen die Gesichter zu deuten, zu erraten, was hinter den Stirnen vor sich geht, welche Schicksale diese Herzen bewegen mögen. Die meisten tragen Arbeitskleidung und Schlosserblusen wie wir, doch fehlt auch die Eleganz der oberen Zehntausend nicht, die wirklich verdienen, die die Herren des Landes sind. Auch diese Oberschichte trägt als traditionelles Bekenntnis zum Proletariat die Sportkappe, ehemals Jakobinermütze. Doch hat die Mode die verschiedensten Ausführungen geschaffen. Der jugendliche Dandy klebt sie mit kaum zentimeterbreitem Schild schräg auf den Scheitel, der Snob trägt dunkelblau mit übergroßem Schirm, der Kinoliebhaber markiert durch Mütze und breitgestreiftes Ruderleibchen den Matrosenhelden des „Panzerkreuzers Potemkin“. Dazwischen bummeln Studenten, jugendlich sympathisch, beschwingt vom Gefühl, daß ihnen ihr Sechstel der Erde zur Gestaltung gegeben ist, eine Auslese, die elastischen Schrittes durch die Straßen geht: sie haben’s geschafft. Die Bettler mit den Beinstümpfen dagegen, denen die Hausfrauen nach dem Einkauf im Magazin ein Stück Brot abbrechen und zuwerfen, haben auch Iftl Siegerstaat den Krieg verloren. Schlanke junge Tatarinnen blicken aus braunen Mandelaugen neugierig Zu unserer Baustelle empor. Fast alle Mädchen sind geschminkt. Die Frauen sind Schrittmacherinnen der Rezeption jenes Westens, von dem durch heimkehrende Soldaten Wunderdinge erzählt werden, für die wir oft als Zeugen angerufen werden. Schmucke Polizistinnen regeln das Auf und Ab der Straße, vom Scheitel bis zur Sohle Repräsentantinnen des Staates. Die Kinder sind sauber und herausgeputzt.

Viele Leute sprechen uns an, hier in der Stadt noch freundlicher als draußen auf dem Dorfe. Eine Frau steckt uns Brot zu und segnet uns. Ein Mädchen bringt einen Strauß Maiglöckchen, als sie uns auf den Gerüsten singen hört. Wir rauchen Und plaudern ih den Arbeitspausen mit den Männern, viele Studenten darunter, die Deutsch oder Englisch lehnen. Ein schönes Auto fährt vorbei. Das sei der hiesige Bischof Godin, durch die Spenden der Gläubigen der reichste Mann der Stadt. Er sei ein bedeutender Mensch, vor kurzem erst hätte er gesagt, die Zeit sei gekommen, daß die Kirche wieder in die Mission gehe.

Ob viele Menschen zum Gottesdienst kämen?

Sie würden in den beiden Kirchen, die geöffnet seien, und ebenso in den beiden Moscheen keinen Platz finden. Oft würden 50 und sogar 100 Kinder auf einmal getauft.

Und welche Menschen gehen zur Kirche? Die kleinen Leute. Die Natschalniks, die Beamteten freilich nicht. Auch viele Soldaten seien darunter. Aber die Popen sind alt, es gibt fast keine mehr.

Ob man eine Bibel kaufen könne, fragen wir.

Ja, manchmal eine alte auf dem Basar, neue nicht.

Abends im Lager: Das stille Gespräch auf der Pritsche mit den Freunden. Was mag es für ein Geschehnis sein, wenn auf den Menschen des sowjetischen Alltags, dessen Denken und Tun vollauf erfüllt ist mit der Sorge um das tägliche Brot, dessen Denkbahnen voll sind von den Dogmensätzen der bolschewistischen Ideologie, die ihn für jedes Stichwort einen Vers gelehrt hat, wenn in dieses Herz der Strahl der Freiheit dringt, des Evangeliums, wenn Gottes Hand selbst in dieses Leben greift?

Zukunft des Christentums in Rußland? Komm, Herr und Lebendigmacher!

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