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Digital In Arbeit

YCW - Englands JOC

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London, Clampham-Road 106, 10 LThr abends, im August 1947. Drei Tage lang war ich unterwegs und nun stehe ich hier vor der Zentrale der Young Christian Workers, der englischen christlidien Arbeiterjugend. Das Haus ist kein Prunkbau. Durch den dunklen Hausflur gehe ich hinauf in den ersten Stock, zu einer Tür, hinter der Schreibmaschinen klappern. Ein wenig bin ich aufgeregt. Wen werde ich antreffen? Fast zwei Monate soll ich doch hier verbringen. Etwas zaghaft klopfe ich an. „Yes, come in“. Ein hellerleuchteter Raum. Ein paar Burschen sitzen in Hemdärmeln an Schreibmaschinen, die mit ein paar Tischen, einem Büchergestell und einem Telephonklappenschrank das In-, ventar bilden. Es herrscht reges Leben.

„Guten Abend.“ „Guten Abend, Father.“ „Ich bin noch nicht Father, sondern der Theologe aus Österreich, den Sie eingeladen haben.“ Da fallen sie über mich her! „Tee? Zigarette? Bad? Essen? Müde?“ 1000 Fragen. Eine herzgewinnende Freundlichkeit. Selbstverständliches, brüderliches Anbieten.' — Als ich Stunden später in mein Bett falle, weiß ich: Ich bin mehr als 1000 Kilometer von daheim und doch zu Hause.

„Wie hat sich die JOC eigentlich hier in England entwickelt?“ frage ich, als ich mit dem „Stab“ an einem der nächsten Abende beisammensitze. Knapp und einfach berichten sie: 1937 wurde angefangen. Es gab viel Widerstand: Das ist eine belgische Bewegung. Wir haben genug Vereine usw. Trotzdem 1938 bereits 20 Gruppen und 200 Führer. Dann kam der Krieg. Alle leitenden und viele andere Mitglieder eingerückt. 1945 dann die Arbeit in vollem Ausmaß fortgesetzt. Jetzt, Sommer 1947, die Bewegung in ganz England mit mehr als 15.000 effektiven Mitgliedern. Dazu die Leute, die enge mit uns in Fühlung sind, aber nicht immer regelmäßig kommen. Über 30.000 —

„Wie war diese gewaltige Arbeit möglich. Was waren die Bedingungen?“ „Das sehen Sie am besten selbst mit eigenen Augen.“

Einige Zeit später, anfangs September, steige ich im Bahnhof von Liverpool aus. Ein Bus bringt mich nach Rainhill. Hier, im Jesuitenkolleg, nur wenige Meilen weg von Wigan, der Wiege der englischen Bewegung, ist», ein Kurs für Theologen des Landes über die YCW. Etwa 70 englische Kleriker sind da und Gäste aus Amerika, Australien, Frankreich, und ein Deutscher. Von hier aus soll ich das Leben des- englischen Arbeiters gründlicher kennenlernen als in London. Das Gebiet ist voll Sdiwer-industrie.

In St. Helenis fahre ich hinunter in den schwarzen Schacht einer Kohlengrube. Die Bohrmaschinen dröhnen. Die Hämmer krachen. Gebückt arbeiten die Leute im Stollen. Eine heldenhaft* Arheir aber furchtbar. — In den Docks von Liverpool werden riesige Schiffe gebaut. Entlang dem Fluß Mersey Fabrik neben Fabrik. Gewaltige Blöcke, von Ruß und Kohle geschwärzt. Und überall rastlose, sdiwerste Arbeit.

Die Spätnachmittage und Abende führen midi zu den Wohnstätten der Leute. Viele lange Straßenzüge neuer, nahezu gleicher, schöner, freundlicher Ein- und Zweifamilienhäuser. Aus hellen großen Fenstern dringt Musik. Und die tiefersinkende Sonne durchleuchtet die weiten Parkanlagen. Draußen auf.den Sportplätzen regiert der Fußball — bis in die sinkende Nacht.

Doch auch andere Bilder sehe ich. Weite Plätze, von den deutsdien Bomben und

V-Geschossen kahlgefegt. Dichtgedrängt stehen hier die weißen „prefabricated hou-ses“, die „prefabs“, die, komplett in den Fabriken erzeugt, an den entsprechenden Plätzen nur zusammengesetzt werden müssen. Sie sind modernst eingerichtet und haben Raum auch für eine zahlreiche Familie. Im kleinen Garten, den die Leute dem Ruinenboden abgerungen haben, wachsen schon Blumen und Gemüse.

Es gibt aber auch noch ein anderes England. Das alte, langsam im Aussterben begriffene. Dunkle, winkelige Gassen, düstere, enge Höfe, in die kaum ein Sonnenstrahl dringt. Schwarze, knarrende Stiegen und graue, feuchte Zimmer, in denen Familien dichtgedrängt hausen. — Vor den „Pubs“ stehen Gruppen junger Burschen und grellbemalter Mädchen und drinnen trinken die

Männer und spielen Karten und werfen Darts. —

Jungarbeiter und -arbeiterinnen erzählen uns in diesem ' Milieu von ihrer Bewegung:

„Habt ihr daran gedacht, daß auch der Arbeiter unten im Stollen, der hartschaffende Mann am Schiffsgerüst und das grell-bemalte Mädchen auf der Strafte Kinder Gottes und unsere Brüder und Schwestern sind? Daß wir sie Heben müssen? Diese Liebe muß uns zwingen, sie an ihr wirkliches Sein, an ihre Würde zu erinnern. Wir haben die vielen Tausende in unseren Reihen nur dadurch gewonnen, daß wir ihnen zuerst die Bedingungen für ein wirklich christliches Leben gezeigt und ihnen dann zu deren Erreidiung geholfen haben.

Da ist zuallererst das Heim. Mit der jähen Industrialisierung unseres Landes vor 100 Jahren entstanden die häßlichen Massen-quartiere, die ,Slums'. Schon lange vor 1939 wurde an deren Beseitigung gearbeitet. Der Krieg hat dann' zahllose alte und neue Wohnstätten zerstört. Obwohl die öffentlichen Stellen seit Kriegsende wieder mit äußerster Kraftanstrengung bauen — die amtlidien Ziffern belaufen sich auf 11.922 Häuser und 4120 Pre'fabs, die im Juni dieses Jahres, 12.426 Häuser und 4883 Prefabs, die im Juli, und auf insgesamt 25 4.2 25 Häuser und Prefabs, die in den letzten Jahren fertiggestellt wurden —, gibt es doch noch genug Fälle, daß Familien in Häusern wohnen müssen, die schon vor dem Krieg als baufällig erklärt wurden, daß in einem Häuschen mit drei Schlafzimmern 21 Personen zusammengedrängt sind und daß Leute sich in alte Militärbaracken einnisten, weil sie keine Unterkunft finden können. Natürlich leiden auch unsere Leute unter dieser Not.

Wir haben ihnen keine neuen Häuser bauen können. Aber wir haben sie in einem acht Monate langen Feldzug den Wert des Heimes gelehrt, es sie dadurch hodischätzen gemacht und ihnen dann gezeigt, daß auch aus der ärmsten WohnstätU noch ein wohnliches Heim zu machen ist, wenn man es liebt. Und wir haben sie in zahllose andere Häuser gesandt und sie sehen und fragen lassen, was die sshwersten Mängel und Gebrechen sind. Diese Berichte und unsere entsprechenden Vorschläge haben wir dann den Behörden vorgelegt und Hilfe erhalten.

Teilweise durch den Krieg bewirkt, ist die Familienmoral in unserem Lande stark gesunken. Ein Zahlcnbeispiel: 1946 — 35.000 Scheidungen, 1947 — bis Jahresschluß voraussiditlich 40.000; Dagegen haben wir wieder einen Feldzug gestartet. Vier Monate lang wurde Woche für Woche in allen Gruppen unseres Landes von der richtigen Haltung zur Ehe gesprochen. Zuerst haben wir sie selbst die Fehler sehen gelehrt — und dann deren Folgen. Und dann haben wir ihnen den Wert der wirklichen, reinen Ehe gezeigt. Mütter und Ärzte haben das getan. Diese Kampagne haben wir auch auf Nicht-Katholiken ausgedehnt. Vielfach haben uns die Behörden darin unterstützt. In W a r-r i n g t o n zum Beispiel hat das Stadtjugendamt die Bevölkerung zum Besuch unserer Abende angeregt und die Räumlichkeiten und Mittel dafür zur Verfügung gestellt.

In zahllosen Firmen haben wir dafür gesorgt, daß die hygienischen Verhältnisse verbessert wurden. Und vor kurzem haben wir dem Home Office einen Bericht gegeben, über die Verhältnisse in 180 Geschäften mit einer Besdiäftigtenzahl von 1 bis 92 Personen und in 344 Firmen mit einer Arbeiterzahl von 1 bis 4000, also einen Querschnitt der Verhältnisse im ganzen Land. Bald darauf wurde unser Präsident zu einem mündlichen Bericht ins Home Office eingeladen und es besteht die Möglichkeit, daß die gegebenen Unterlagen und Vorschläge zu Änderungen in der Gesetzgebung betreffend die Arbeitsverhältnisse von Jungarbeitern führen werden.

“Wichtiger ist aber noch die moralische Sauberkeit. Wir wenden uns gegen unsittliches Gerede, Bild- und Schriftmaterial und bemühen uns um den Schutz von Schulentlassenen. Einen Bericht über die moralischen Verhältnisse in Betrieben haben wir an Parlamentsmitglieder, das Gesundheits- und das Erziehungsministerium gegeben.

Das geschilderte Vorgehen begründete auch die Voraussetzungen für ein religiöses Wirken. Von unseren mehr als 15.000 aktiven Mitgliedern gehen über 90 Prozent monatlich zu den Sakramenten, davon zirka 50 Prozent wöchentlich und viele täglich.

Wir erziehen unsere Leute nicht nur,“ sondern vertreten sie auch bei und in den Behörden und öffentlichen Körper s'c haften — wie es die Aufgabe einer, wahren Bewegung sein soll, örtlich vertreten sind wir in Jugendbehörden, Stadträten und Gewerkschaften, in Wohnungs- und Arbeitsbehörden. Seit Oktober 1946 sind wir als nationale Körperschaft anerkannt. Dadurch erreichten wir die Mitgliedschaft • der Standing Conference of National Voluntary Youth Organisations, deren Aufgabe die Behandlung sämtlicher Jugendfragen des Landes ist und die wieder in direktem Kontakt mit dem National Council of 'Social Service steht, das einen noch ausgedehnteren Arbeitsbereich hat. Durch die erstere Mitgliedschaft hat man Zutritt zu verschiedenen Ministerien, einschließlich des Erziehungsministeriums, die diese Körperschaft in allen Jugendfragen zu Rate ziehen. So wurde zum Beispiel im Auftrage der Kontrollkommission für Deutschland eine Delegation von zehn Mann dorthin entsandt zum Studium der Jugendprobleme und -fragen. Unser Präsident war einer der Delegierten.“

Aus vielen Aufschlüssen und Erfahrungen lernte ich verstehen, wie es kommt, daß von den Familien dieser Jungarbeiter der YCW der Geist der Hilfsbereitschaft und einer viele Gegensätze überbrückenden Liebe auf ganze Straßenviertel ausstrahlt. Die gesunde, aufrechte Haltung dieser jungen Mensdien, aus der bergfesten Fün-dierung ihres Glaubens, ist eine der tief einprägsamen, hoffnungerwachenden Er-sdieinungen des heutigen Englands.

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