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Schwarz-weißer Wahlkampf

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ENTSTEHUNG UND VERLAUF DER amerikanischen Negerrevolution können an verschiedenen markanten Wegzeichen gemessen werden: die sozialen Umschichtungen während des zweiten Weltkrieges, der Entscheid des Obersten Gerichtshofes in der Schulfrage (1954), Martin Luther Kings Busboykott von Montgomery (1956), der erste Sitzstreik („sit-in“) in North Carolina (1960), die blutige Freiheitsfahrt von Alabama (1961), der unerwartete Ausbruch der Krise im Frühsommer 1963 und die kürzliche Verabschiedung der Bürgerrechtsvorlage. Diese ins Auge stechenden Ereignisse sind für die Arbeit des Historikers nützlich, da sie das Wachstum eines kollektiven Bewußtseins demonstrieren. Die entscheidenden Leistungen wurden jedoch in mühsamer, langwieriger Kleinarbeit vorbereitet. Der Charakter der Negeremanzipation ist schwierig zu erfassen. Natürlich handelt es sich nicht nur um die Neger. Eine existentielle Krise stellt die Ordnung der Weißen und die demütige Existenz der Neger gleichermaßen in Frage. Überlassen wir die breitgetretenen negativen Auswüchse den Analytikern, die unter Verzicht der moralischen Komponente die Ausbrüche der Verzweiflung in den Gettos der Städte studieren und der Polizei die Lösung des Problems zuschieben.

Die positiven Aspekte der Krise sind entscheidender. Der Grad der Bedrohung umreißt den hohen Gewinn. Ihre Lösung bietet den Vereinigten Staaten die Chance, als erste aus der Prähistorie in ein neues Zeitalter brüderlicher Existenz einzutreten. Die Politiker verabschieden zögernd Gesetzesvorlagen. Die jungen Vorkämpfer der Rassengleichheit jedoch zielen nicht nur auf die Zerstörung der Rassenschranken, auf die Durchsetzung der Integration, sondern schaffen den Keim einer neuen Gesellschaftsordnung. Sie leben bereits als weiße und schwarze Brüder miteinander. Sie haben den Zustand des Nebeneinander überwunden und verstehen ihre von rassischen Vorurteilen geplagten Eltern nicht mehr. Ihre Radikalität erweist sich an ihrer Methode. Diese Revolutionäre praktizieren Gewaltlosigkeit und haben bewiesen, daß die Bürde des Tötens schwerer wiegt als das Los der Erschlagenen. Ihre Tätigkeit rehabilitiert die Mitbürger. Sie sind das Versprechen Amerikas.

EINE GRUPPE VON WEISSEN und schwarzen Studenten, welche der ungeduldigsten Bürgerrechtsorganisation SNCC (Student Nonviolence Coordinating Comitee) angehört und mit der wir gemeinsam die soziale Struktur gewisser Städte untersucht hatten, zielte in diesem Sommer auf die Schaffung eines bedeutungsvollen Präsedenzfalles: Mit den Negerstimmen eines Distrikts in Tennessee sollte einem Negerkandidaten in ein öffentliches Amt geholfen werden. Gleichzeitig wurde die Sheriff-Kandidatur eines liberalen Weißen unterstützt. Solche Pläne waren unerhört für Fayette County, einen Baumwollbezirk mit 25.000 Einwohnern. 70 Prozent sind Neger. Alle politische und ökonomische Macht wird von der weißen Minderheit ausgeübt. 1959 hatten die Bemühungen um die Registrierung der Wähler begonnen. Sie selbst sollten mit Hilfe des Wahlrechts ihre Demütigung beenden. Die Weißen reagierten sofort: Pachtverträge wurden annulliert, Darlehen zurückgefordert, Kredite verweigert, Stellungen gekündigt. Ein Belagerungszustand brach aus. In verzweifelter Gegenwehr zogen die Vertriebenen auf das Grundstück eines ihrer schwarzen Brüder und errichteten eine Zeltstadt. Zum erstenmal seit Jahrhunderten hatten Sie die Demütigung zurückgewiesen. Die Distriktswahlen dieses Sommers boten die Chance, die spirituelle Befreiung durch ein äußeres Zeichen der Macht zu bekräftigen. 40 SNCC- Freiwillige — Durchschnittsalter 21 — arbeiteten Nacht für Nacht, um die Wahlen zu organisieren. Ihr Erfolg fügt einen Stein in das historische Mosaik, welches die Aufhebung der bitteren Entfremdung,

in der das weiße und schwarze Amerika steht, dokumentiert. Die Anstrengungen solcher Gruppen, die an allen kritischen Stellen tätig sind, werden verhindern, daß die Verzweiflung in den Negervierteln einen Bürgerkrieg beschwört, welcher die Machtstruktur der Vereinigten Staaten zerstören würde.

WIR ZIEHEN BILANZ. Wahltag, neun Uhr morgens: die ersten Wähler treffen in den Wahllokalen ein. Wir haben Taxibrigaden organisiert, um alle registrierten Neger zum Wahllokal zu bringen. Die Trägheit der Apathischen stellt unser Hauptproblem dar. Außerdem ist es für die meisten ein furchteinflößendes Ersterlebnis. Als wir hier ankamen, hatten wir keine Vorstellung von der genauen Zahl der Angemeldeten. Statistische Unterlagen gibt es in dieser Wildnis nicht. Jeder von uns versuchte, Übersicht über einen Bezirk zu erlangen, um unsere Aussichten einschätzen zu können. Die Endsumme war geringer als wir angenommen hatten. Daher ist es wichtig, daß jeder Neger seine Stimme abgibt. Redfearn, unser Kandidat, äußerte sich optimistisch. Er rechnet sogar auf die Unterstützung einiger weißer Landproletarier, unter denen er geworben hat. Dies sollte den Ausschlag geben. Wir, die Aktivisten, haben mit den Weißen natürlich keine Beziehung. Die Arbeit im Negerviertel verurteilt uns zur völligen Isolierung von den „Kaukasiern“.

Bob und ich waren erst im Juni angekommen, da in New York viel organisatorische Arbeit erledigt werden mußte. Am Abend unserer Ankunft holte man uns sofort zu einer Massenversammlung im Distrikt 13 und stellte uns den Negern vor. Am Weg zur Kirche wurden wir über die Vorfälle der letzten Wochen informiert: zwei waren wegen Betretens fremder Grundstücke verhaftet worden; zwei hatte man aus dem Hinterhalt beschossen; zwei wurden mißhandelt. In unserem Fahrzeug rumpelten wir über die staubige Straße und schauderten ein wenig. Der Wechsel kam plötzlich. In diesem fremden, wilden Land, das uns so wenig vertraut war, hieß man uns nicht willkommen. Doch wir gewöhnten uns schnell ein. Das Bewußtsein der Gefahr würzte den Tag. Die Arbeit ist hart, mühsam, langweilig und vor allem heiß. Dem Alltag der Revolution fehlt jede Romantik.

WIR ARBEITETEN IN DREIERGRUPPEN. Negerfamilien, die eigenes Land besaßen, gaben uns Obdach. Wir wollten nicht von den weißen Herren abhängen. Wenige Neger in Fayette County sind so glücklich. Die Mehrzahl lebt als Halbpächter unter erbärmlichen Bedingungen.

Den Pächtern geht es nicht viel besser. Für Wucherzinsen borgen sie Geld von „Mr. Charley“, um sich die notwendigen Geräte und ein Zugtier beschaffen zu können.

Schwarze Landbesitzer sind selten. Meistens sind sie von Schulden geplagt. Von Jänner bis Juli muß man auf Kredit leben. Die Baumwollernte dauert von September bis November. Nach Verkauf der Ernte — wobei man die Neger übers Ohr haut — müssen die Rechnungen, eines ganzen Jahres bezahlt werden. Das Borgen beginnt von vorn. Fällt eine Ernte schlecht aus, ist alles verloren. Bis zum Erntebeginn leben manche vom Bohnen-Einbringen. Pro Pfund wird ein Cent bezahlt. Die guten Pflücker bringen es auf drei Dollar pro Tag. Drei Dollar für harte Arbeit in dieser Hitze! Das Thermometer steht ständig um 95° Fahrenheit. Die ökonomischen Bedingtheiten sind das verfluchte Übel dieser Gegend und machen das Problem so komplex. Guter Wille allein genügt nicht. Ein Beispiel: die Negerschule wird im Mai geschlossen. Die Kinder benötigt man zur Baumwollernte. Die Schule für die weißen Kinder läuft natürlich nach dem allgemeinen Plan von September bis Juni. Würde man gewaltsam integrieren, müßten die Negereltern aus schierer Not ihre Kinder während der Erntezeit aus der Schule nehmen. Das Niveau der Negerschulen liegt erschreckend tief. Die inferiore Erziehung bezahlen die Kinder mit der Verzicht auf eine Zukunft. Sie sind zum Baumwollpflücken verdammt, Jahr für Jahr, in erbarmungsloser Hitze.

UNSERE ANSTRENGUNGEN konzentrieren wir nun auf die Demonstration des Wahlvorgangs. Hier sind ja fast alle Neger demokratische Analphabeten, die überdies vom weißen Mann, der an der Wahlmaschine sitzt, eingeschüchtert sind. Zugleich versuchten wir die Schaffung einer rudimentären politischen Organisation, um nach unserer Rückkehr nach New York etwas Bleibendes zu hinterlassen. Im November werden sie es in der Hand haben, jenen Mann (Goldwater) zu besiegen. Tagsüber arbeiteten sie. So blieb nur der Abend. Wir gingen von Hütte zu Hütte, sprachen über die Funktion der Wahl in der Demokratie, wiesen auf die Möglichkeit hin, Einfluß auf das politische Geschehen und auf das eigene Schicksal zu nehmen.

In unserem Distrikt arbeiteten wir in engem Kontakt mit dem angesehensten Neger, den jedermann „Square Moorman“ nennt. Square ist ein großer, vierschrötiger Mann, mit einem breiten Grinsen und einer auffälligen Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen. Bei unserem ersten Zusammentreffen vertilgte er eine ungeheure Wassermelone in Rekordzeit. Sein schwammiger Bauch be zeugt die Häufigkeit dieser Leistung Square gehört zu den Wagemutigen, die als erste ihre Stimme abgaben kurz nach dem Krieg. Immer trägt, er eine 0,32 am Gürtel. Im Falle eines gewalttätigen Todes will er mindestens einen Weißen mitnehmen. Der feste Glaube an unsere gewaltlose Methode wurde hier erschüttert. Der tiefe Süden und die Gettos im Norden gehören einer prähistorischer! Epoche an, in der die Gewalt zählt. Wir haben noch keine Macht über sie. Square ist Vater von zehn Kindern. An der Baumwollernte verdient er gegen 600 Dollar. Dieser Betrag muß für ein Jahr reichen. Und Square gehört zu den Wohlhabenden unter seinen Brüdern…

NACH DER ARBEIT DES TAGES waren sie müde. Doch sie hörten uns begierig zu, uns „kommunistischen Agitatoren aus dem Norden“, wie wir verachtungsvoll von deq Weißen denunziert wurden. Große Versammlungen fanden in der Methodistenkirche statt, dem spirituellen und sozialen Zentrum der Negergemeinde. Wir waren als die weißen Freunde vorgestellt worden, die von schrecklich weit kamen, um den Weg zu weisen, Erleuchtung zu spenden, die zweite Ankunft vorzubereiten. Wir begriffen staunend, daß uns rangmäßig nur Jesus, Gott, Moses, F. D. Roosevelt und John F. Kennedy überflügelten (in dieser Reihenfolge). Wir lernten in Demut darüber hinwegzusehen. Unser Rednerpult war die Kanzel. „Wir müssen einig sein“, donnerte ich (und dachte an den uns quälenden Zwiespalt: wir gehörten nicht zur

Negergemeinde und waren von den Weißen verstoßen). „Der weiße Boß darf nicht mehr kommandieren“, verkündete Bob (der sich dabei schmerzhaft seiner weißen Farbe bewußt war und keinem herrischen Befehl unterstand).

Die Neger hörten beifällig zu, be kräftigten unsere Worte mit dröhnendem „Amen“ und „so ist es“. Oft brachen sie in Applaus aus. Wir dozierten nicht vor einem feinen, wohlerzogenen Auditorium, welches wohlpräparierte Ausführungen höchstens mit einem höflichen Räuspern begutachtet. Wir sprachen zu Menschen, die Not litten und Demütigungen ausgesetzt waren. Wit verwendeten die derben Worte ihres Alltags. Wenn ihnen etwas gefiel reagierten sie begeistert. Immer begann der Abend mit einem Gebet, einer Bibellesung, einem frommen Lied. Ihr Gesang ist eindrucksvoll Sie singen schön, dröhnend, wild Sie singen, bis sie von Begeisterung fortgetragen werden. Sie singen mit ausgebreiteten Armen, verrenkten Körpern. Sie rufen Jesus, trampeln mit den Füßen am Boden, tanzen zwischen den Bänken. Stöhnend und schluchzend wiegen sie sich in den Sesseln. Das Gebäude erzittert bis in die Grundmauern. Ihre Kirche ist der einzige Ort, wo sie vor Demütigung sicher sind. Hier zeigen sie die Tiefen ihrer Seele und legen die Bürde der Verfolgung ab.

DIE NACHRICHTEN VON DER WAHL laufen ein. Es gibt keine Zwischenfälle. Die Billigung der Bürgerrechtsvorlage, zahm wie sie ist, hat die Aggressivität der Weißen gedämpft. Als gute Amerikaner wollen sie den Boden der Legalität nicht verlassen. Wenn sie nur begriffen, daß der Weg zur eigenen Befreiung über die Anerkennung ihrer schwarzen Brüder führt! Untrennbar sind die beiden Rassen in diesem Staat aneinander gekettet.

Ich muß untätig beim Telephon sitzen, da ich an einem Fieberanfall leide. Es ist ein gewaltiger Sprung von New York in diese Wildnis. Unter solchen Umständen macht sich die primitive Lebensführung schmerzhaft bemerkbar. Dabei kann ich nicht klagen. Ich wohne bei einer Negerfamilie mit nur zwei Kindern. Nebenan sind es zwölf. In jedem Raum stehen vier, fünf Betten. Ich war natürlich drei Mahlzeiten täglich gewohnt. Zwei sind hier der Durchschnitt. Bei vielen reicht es nur für eine. Unser Haus ist die übliche Holzbude mit Alu-Dach. Doch es gibt Television. F. D. Roosevelts TVA-Projekt ermöglichte den ärmsten Negern die Verwendung von elektrischem Strom. Einige heruntergekommene Weiße leben in unserer Nachbarschaft. Dies bedeutet nicht viel. Man lebt nebeneinander in vollkommener Isolierung.

Es ist kein Vergnügen, mit 103° Fahrenheit auf das Klosett im Freien zu laufen. Die Arbeit hat mich ausgelaugt, ich bin erschöpft. Doch wir kämpften einen guten Kampf. Wir alle sind mit dem Leben davongekommen. Das Schicksal unserer Freunde in Mississippi, die auf tückische Weise ermordet wurden, blieb uns erspart.

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