7125212-1997_02_03.jpg
Digital In Arbeit

Der gnadenlose Triumph der Selbstsucht

Werbung
Werbung
Werbung

Vor 50 Jahren kehrte ich aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück. „Daheim“ gab es nicht mehr, denn meine Familie war Richtung Slowakei abkommandiert worden; also wählte ich Wien zum Studium. Ich schickte der FURCHE einen Artikel, der die offene und vorwärtsblickende amerikanische Zivilisation mit der noch immer starren Europas verglich. Er wurde gedruckt, und zu meiner technischen Spur gesellte sich eine literarische.

Während der nächsten zehn Jahre gelangen mir zwar Diplom, Doktorat und Familiengründung, dbch nicht, meine Eltern wiederzusehen. Prag blieb stur, und erst zum Begräbnis meines Vaters durfte ich über die Grenze. Von Europa hatte ich nun die Nase voll, und ein Jahr später folgte ich mit Kind und Kegel einer Einladung nach Amerika, „auf fünf Jahre“.

Nun sind es schon fast 40 geworden. Ich konnte meinen drei Buben hier gewiß viel mehr bieten als in Wien, aber dann kam Vietnam, und das Land der unbegrenzten Möglichkeiten entdeckte seine Grenzen. Der „Schmelztiegel“ ging in Scherben, und dem besiegten Riesen ging der alte „can-do-spirit“ verloren.

Dann versuchte Präsident Johnson mit seiner „Great Society“ sowohl den Krieg als auch die brüchige Rassenversöhnung zu tapezieren. Aber um den Panzerkreuzer United States auf neuen Kurs zu bringen, genügten weder gute Absichten noch Milliarden. Dennoch, kann man wirklich den verlorenen Krieg für die Wurzelfäule eines ganzen Volkes verantwortlich machen?

Die Symptome sind sattsam bekannt: die Armen werden immer ärmer, die Reichen reicher; pädagogisch liegt Amerika zwischen Bulgarien und Uganda; die Mordwelle schwemmt selbst über den „ Mittel-westen“; auf 20 Kanälen sieht man jeden Abend rot; Schwarzenegger ist der einzige Europäer, den jeder Amerikaner kennt. Und wie im alten Bom ist die Justiz ein Spektakel: Panem et circcnses (Brot & Spiele).

Aber während das römische Bürgertum Orgien feierte, erblühte in den Katakomben das Christentum. Vielleicht läuft auch in Amerika die Erneuerung bereits vom Stapel? Gewiß fehlt es nicht an Fernsehpredigern und engstirnigen Fundamentalisten, aber weder Glaube noch Liebe oder (am wenigsten) Hoffnung liegen in der Luft. Solipsismus regiert die Patrizier wie den Pöbel.

Dem Übel wird schwer abzuhelfen sein, denn seine Wurzel reicht direkt in das Grundgesetz des Landes, insbesondere die „Bill of Rights“. Diese Bürgerrechte waren seit jeher problematisch. Der „kontinentale Kongreß“ konnte sich 1779 nicht auf den Wortlaut einigen und nahm sie daher nicht in die Verfassung auf. Dann aber stellte sich heraus, daß ohne sie das Grundgesetz nicht ratifiziert werden konnte, und eine allseits akzeptierte (da nebelhafte) „bill“ wurde angeklebt. In den ersten 150 Jahren ihrer Existenz wurde sie kaum strapaziert, und schon gar nicht für Sklaven.

Theoretisch hatten die Neger (heute „Afro-Amerikaner“) zumindest seit dem Bürgerkrieg (1861-65) die gleichen Rechte wie die Weißen, blieben aber politisch ausgeklammert. Im Zweiten Weltkrieg durften sie mitbluten und nach der Heimkehr nahmen viele den Status quo nicht mehr hin. Auch Weiße (meist aus dem Norden) begannen unter Martin Luther King für die politischen Rechte der schwarzen Brüder mitzumarschieren.

Plötzlich waren Bürgerrechte „in“ und wurden zur ergiebigen Quelle für idealistische Juristen. Die „civil rights industry“ war vom Stapel gelaufen. Ks muß aber vorangestellt werden, daß der amerikanische „la-wyer“ nicht mit dem europäischen Rechtsanwalt ver-I gleichbar ist. Mit Recht hat seine Tätigkeit oft wenig zu tun, denn er ist primär Advokat, also Fürsprecher des Klienten. Solange er nicht ganz unverschämt lügt, drücken Richter beide Augen zu. Schließlich spielen sie ja Golf miteinander.

Seit „0. J.“ weiß man ja weltweit, daß ein tüchtiger (sprich teurer) Advokat seine Klienten vom Haken bekommt. Oder ihnen ein Vermögen zuschieben kann, nach Abzug eines Drittels für die eigene Tasche. Was weniger bekannt wurde, ist die Durchdringung des ganzen amerikanischen Alltags mit Juristen.

Die Kämpfe um die Gleichberechtigung erhöhten nicht nur das Profil der Juristen, sondern verliehen ihnen den Mantel der Ehrsamkeit. Traditionell betrachteten Amerikaner ihre Anwälte als Winkeladvokaten, die sich die unterste Sprosse auf der Vertrauensleiter mit Politikern und Gebrauchtwarenhänd-lern teilen mußten. Jetzt aber konnte man selbst als Jus-Student eine anständige Freundin finden. Die Anzahl der Juristen schwollen zusehends. Heute sind Amerikas Juristen nicht nur für die Auslegung und Vollziehung der Gesetze da, sondern weitgehend auch für deren Schaffung. Das heißt also, daß praktisch die ganze Regierung in den Händen der Brüderschaft ABA (American Bar Association) liegt.

Nicht nur Schwarze, sondern jede Minorität mußte ihren Platz in der Sonne gewinnen. Heute hat Amerika hunderte von „Minoritäten“, und wo vor zehn Jahren noch ein Volk lebte, gibt es heute nur mehr Bindestrich-Amerikaner.

Es ist wohl ironisch, daß am ausgiebigsten die UN-Minorität der Frauen von der ABA gemolken wurde. Körperlich Behinderte folgen mit Abstand, aber hohem Profil.

All das verblaßt aber gegen die Ausbeutung des „first amendment“, das Bede- und Pressefreiheit garantiert. Natürlich war das anno 1779 für politischen Meinungsausdruck gedacht, aber wie steht's mit Fahnen,, Abzeichen et cetera? Im Bah-men der Integrationsmärsche war das wichtig, und der Oberste Gerichtshof gestattete denn auch „symbolische Sprache“. Seither kann man nicht nur US-Flaggen im Protest verbrennen sondern auch lustig mit Hakenkreuzen am Arm und Droh-liedern im Mund durchs Judenviertel ziehen.

Heutzutage ist praktisch alles geheiligter „symbolischer Ausdruck“. Weder Elternvereine noch Politiker noch Kirchen konnten Grenzen für Sex- oder Gewaltsakte in den Medien durchsetzen. Ganz im Gegenteil -religiöse Fürsprecher fanden sich bald selbst auf der Anklagebank. Das Verfassungsgericht wurde von fanatischen Epigonen der französischen Revolution zu einer seltsamen Auslegung von „Religionsfreiheit“ bewogen. Das Erste Amendment garantiert nicht nur die freie Ausübung der Religion, sondern verbietet dem Staat „Gesetze betreffend der Einrichtung von Religion“. Was die Gründer damit wohl gemeint haben? Etwa Weihnachtskrippen auf öffentlichem Gelände? Oder gar eine Minute des Schweigens vor Unterrichtsbeginn? Die strenge „Trennung von Kirche und Staat“ wurde jedenfalls als Verbot solcher Taten ausgelegt. Selbst das Absingen von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ bei Kerzenschein in einer Schulfeier steht vor Gericht.

„Meine Sorgen möcht' ich haben!“ sagte Eugen Roth. Aber wer am Schulwesen bastelt, spielt mit der Zukunft der Nation. Nicht nur hat die „civil rights industry“ die Moral der Jugend abgegraben, sondern jede Autorität, einschließlich die der Schule, als Freiheitsentzug hingestellt. Zudem sind Manieren als „Beschränkung der Redefreiheit“ gleichfalls verpönt. Schüler sehen sich auf gleicher Ebene mit ihren Lehrern. So wittert denn auch in der Schule die Deliktbranche („tort law“) der ABA ein Potential für Schmerzensgeld. Wenn ein Lehrer etwa den erhobenen Arm eines wütenden Kindes abfängt, riskiert er seine Karriere. Durchfallen gibt es auch nicht mehr, diese Diskrimination gefährdet den „Selbstwert“ (seif esteem) des Schülers. Schulen, die ein Zeugnis verweigern, weil der Kandidat nicht zur Prüfung erschien, landen vor Gericht. Kein Wunder, daß Mittelschulen schwierigeren Fächern wie Mathematik oder Physik lieber ganz ausweichen, von Allgemeinbildung keine Rede. Nicht daß Juristen das Schulwesen im Alleingang entwurzelt hätten. Amerikas pädagogische Institutionen sind mehr um die „politische Korrektheit“ der Sprache als um den Inhalt des Unterrichts besorgt: Grimms Märchen müssen ebenso gesäubert werden wie die Weltgeschichte. So kam denn auch die Idee einer „wertneutralen“ Erziehung an den Zug. Eine ganze Generation ist bereits unter der These aufgewachsen, daß es kein „Gut und Böse“ gibt. Alles ist relativ. Und was früher mit „bitte“, „danke“ oder „das tut mir leid“ abgetan war, kann im heutigen Amerika nur ein Gericht entscheiden. Kein Wunder, daß jede zweite Ehe zerbricht und Kinder jetzt ihre Eltern klagen dürfen, wenn ihnen nach der Scheidung die Aufteilung der Elternpflichten nicht paßt.

Aus Johnsons „Großer Gesellschaft“ ist in der Tat ein „Großes Schlamassel“ geworden. Der Wähler protestiert durch Enthaltung von Stimme und Steuergeld. Gemeinnutz kommt weit nach Eigennutz.

Unter diesem Mißtrauen leidet natürlich auch die technische Infrastruktur. Für Dinge wie Europas TGV oder Schnellverkehrsnetz ist im „reichsten Land der Welt“ kein Geld mehr vorhanden. „Das ist Sache der Marktwirtschaft“, sagt der Amerikaner, und übersieht geflissentlich, daß die Wirtschaft nur am Reingewinn des nächsten Jahres interessiert ist.

Was würde wohl ein wiedergeborener Jefferson oder Franklin sagen, wenn er sein Werk heute betrachtet? So stolz waren sie darauf, daß ihr Land nicht von Potentaten sondern von Gesetzen regiert werde. Ben Franklin hatte schon Vorbehalte geäußert, den neuen „Hütern der Flamme“ mehr zu trauen als einem fernen König.

Jefferson wiederum würde darauf hinweisen, daß Demokratie nur funktionieren kann, wenn vor der Wahlurne Arme und Beiche wirklich gleich sind. Und die Beherrschung der öffentlichen Meinung durch ein paar Billionäre hätte er gewiß nicht zugelassen.

Alle Landesväter aber waren Pro-tektionisten. Daß internationale Konkurrenz auch nach 200 Jahren die Zahl produktiver Arbeiter und deren Einkommen drückt, würde sie kaum überraschen. Nicht vorhersehen konnten sie, daß der Wirtschaftsanteil von ,Parasiten ins Blaue steigen würde. (Die Zahl der Makler, Juristen, Bürokraten und so weiter wächst, wie auch ein breites Spektrum hochspezialisierter Konsulenten, die dem hilflosen Volk die AVirklichkeit erklären.)

Der Wohlstand dieser „Informationshändler“ geht' auf Kosten des Mittelstandes. Da die Neureichen ihre Kinder in Privatschulen schicken, dienen die öffentlichen Schulen immer mehr den Habenichtsen. So schmelzen die sozialen Kontakte Jahr für Jahr und die Polarisierung vertieft sich.

Ich hätte eben auf den Rat meiner Großmutter hören sollen: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich.“

Der Autor ist Wahlamerikaner und publizierte zuletzt vor SO Jahren einen Artikel in derFlRCUK.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung