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„Fallschirmjäger“ des Christentums

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Während Tausende von Missionären, Priestern und Ordensbrüdern, Klosterfrauen und Laienschwestern die christliche Lehre zu den Eingeborenenstämmen Afrikas, zu den buddhistischen Völkern des gelben Kontinents, zu den Wilden der Inselreiche bringen und jährlich tausende und aber tausende Ungläubige zu willigen, tätigen Christen machen, sieht sich die Kirche in Europa der Aufgabe gegenüber, die dem Taufschein nach rechtgläubigen, aber durch die Zeitereignisse den religiösen Problemen entfernten Menschen zurückzugewinnen. Vor Jahrzehnten schon wurden umfassende Versuche in dieser Richtung unternommen; aber die Erfolge blieben unbefriedigend. Fast in allen europäischen Staaten ist die Lage gleich: das Landvolk ist der Kirche treu, hält fest an den traditionellen Überlieferungen der Religion, geht gläubig zur Predigt und pflegt innigen Kontakt mit den Seelsorgern; auch das Bürgertum fühlt sich noch der Kirche verbunden. Wie aber steht es mit der breiten Masse, mit den Arbeitern?

Schlecht, antwortete darauf kurz und bündig der französische Abbe Godin und legte 1944 unter dem Titel „Missionsland Frankreich“ ein Buch vor, das in nüchternen Statistiken die ständig sich erweiternde Kluft zwischen dem Klerus und den Volksmassen aufzeigte und bewies, daß in großen Städten nicht mehr als 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung christlich denken und daß wieder nur 5 bis 10 Prozent dieser christlich Denkenden sich zu ėiner Gemeinschaft praktizierenden Christentums zusammenfinden.

Woher stammt aber diese ablehnende Haltung der Volksmassen gegenüber der Kirche? Auch darauf gibt Abbe Godin aufschlußreiche Antwort: die Arbeitermasse rekrutiert sich zum größten Teil aus der Landbevölkerung, die zugleich mit dem Verlust der eigenen Scholle auch mit allen bäuerlichen Traditionen gebrochen hat. Sie machte sich in den Städten seßhaft, ohne sich zunächst richtig in die städtische Sozietät einzugliedern, entwickelte sich abseits vom Bürgertum, außerhalb der städtischen Pfarreien, zu einem Volk im Volk, zum Träger eigener politischer Gedanken und Ziele. Und im gleichen Maße, da sich die Arbeiterschaft weglebte vom Bürgertum, entfernte sie sich auch immer mehr von der Kirche: denn der Priester in seiner traditionellen Erscheinung, so elend auch seine materiellen Verhältnisse sein mögen, ist in den Augen der Arbeiter schon ob seiner Kultur und seiner Lebensauffassung ein Bourgeois.

Und da hakt nun Abbe Godin mit seiner Forderung nach einer neuen Art von Priestertum ein: das traditionelle Apostolat des Pfarrers setzt die Existenz einer überwiegenden Mehrheit von Gläubigen voraus, die das Christentum wirklich praktizieren, die von sich aus zur Messe gehen, Sakramente empfangen, von sich aus versuchen, die Religion zu verstehen, in sich aufzunehmen, ihr nachzuleben. Ist diese große Mehrheit nicht vorhanden, dann muß die Kirche neue Wege beschreiten und für die Bekehrung kämpfen wie einst in den Tagen des Urchristentums.

Das Buch Abbe Godins wurde in den kirchlichen Kreisen Frankreichs aufmerksamst aufgenommen; ja mehr noch: man ging sofort daran, begeisterte junge Priester in verschiedene Missionen zusammenzufassen und ihnen völlig neue Aufgaben zu übertragen. Die ganze Aktion wurde von dem jetzt schon verstorbenen Erzbischof von Paris, Kardinal S u h a r d, geleitet, der der katholischen Kirche Frankreichs eine Frist von fünfzig Jahren stellte, in der es lediglich gilt, Erfahrungen für die neuen Methoden zu sammeln.

Das Ohr offen für die Sorgen der Arbeiter

Als eine der ersten wurde 1946 die Mission der „FilsdelaCharitė“ gegründet. Sie gehört zu den „rollenden Missionen, weil ihre „Truppen“ — jeweils drei oder vier Patres — sich in Wohnwagen eingerichtet haben, mit denen sie in die ärmsten Arbeiterviertel einer Großstadt oder in Bergwerksstädte ziehen —• nicht um zu predigen, wohlgemerkt! Jede Truppe absolviert jährlich drei Missionen zu je drei Monaten und eine Sommermission zu einem Monat. Sie nehmen sich ausschließlich der Arbeiterbezirke an und auch da nur jener, deren Pfarrer ihre Hilfe und Unterstützung erbeten haben.

Wenn eine solche Mission sich in einem Pfarrbezirk niedergelassen hat, nimmt sie sofort Verbindung auf mit dem Pfarrer und den oft spärlichen Gläubigen. Mit ihrer Hilfe verteilt sie in allen umliegenden Wohnhäusern katholische Wochenzeitungen und Einladungen zu einer Versammlung in einem gemieteten Saal. Und die Leute kommen wirklich, kommen zahlreich und ohne Zwang. Die Patres beginnen mit Erörterungen materieller, sozialer, arbeitstechnischer Fragen. Meistens wird nach der Versammlung ein Pater von diesem, der andere Pater von jenem Arbeiter eingeladen. Kollegen gesellen sich dazu, und über kurz oder lang ist eine Unterhaltung im Gange. Der Pater hört von Kummer und Sorgen der Arbeiter, von den täglichen Reibereien, den Mißständen in der Fabrik oder den unzulänglichen Familienverhältnissen. Ehe sie sich’s versehen, betrachten ihn die Arbeiter als Freund, der ihnen den oder jenen Rat zu geben vermag, der nicht mehr ist, nicht höher steht als sie. Nach der zweiten, dritten Einladung bringt er dann einmal den Pfarrer mit, um den Arbeitern zu beweisen, daß auch er keine unzugängliche, veraltete Figur ist, die zwischen Presbyterium und Sakristei ein nutzloses Leben verbringt. Zuweilen gilt es auch, den Pfarrer ein bißchen zu „modernisieren“. Mehrmals gelang es schon, Pfarrer zu überzeugen, daß es tunlicher sei, aus dem entlegenen oder düsteren Pfarrhaus aus- und in ein schlichtes Untermietzimmer im Herzen des Arbeiterviertels einzuziehen, um Wand an Wand mit den Zuspruchbedürftigen zu leben.

Und wenn dann eine solche Mission nach einem Vierteljahr den Bezirk, die Stadt verläßt, ist es meistens eine sehr große Gemeinde, die den Abreisenden ehrlich nachtrauert…

Der Film kommt auf Einschichthöfe

Auch die „MissionNotreDame verschickt ihre Patres in Wohnwagen. Sie spezialisiert sich aber auf weite Landstriche in Mittelfrankreich, deren Gemeinden des großen Priestermangels wegen sehr von der Kirche vernachlässigt werden mußten. Es ist eine Landschaft mit weiten Hochflächen, zahllosen Einschichthöfen und winzigen Ortschaften, die oft Dutzende von Kilometern von der nächsten Kirche entfernt sind. Tagaus, tagein sieht man dort die kleinen Wagen von Ort zu Ort, von Hof zu Hof fahren, gezogen von alten Delahayes, die die Steigungen nur schnaufend nehmen und oft der menschlichen Kraft bedürfen, um eine Anhöhe zu erklimmen. Je zwei Patres leben in diesen Wagen, und wenn sie vormittags am Dorfplatz parken, ist meist kein Mensch auf der Straße. Aber alle Welt ist an den Fenstern: „Seht einmal, da kommen die Kinopatres wieder!“ Während der eine Pater Holz hackt und das Essen bereitet, sucht der andere im Dorf eine größere „gute Stube“, wo die Filme gezeigt werden können. Er geht von Tür zu Tür, die Leute für den Abend einzuladen, spricht und plaudert mit ihnen, erhält rasch und unmerklich Einblick in die Familien. Am Abend finden sich dann Leute ein: manchmal drei, manchmal fünfundzwanzig. Mit einem alten Projektionsapparat werden dann Kurzfilme gezeigt. Ein komischer Streifen, der viel zu lachen gibt, bewirkt eine völlige Entspannung im Publikum. Die folgenden Dokumentar- und Lehrfilme, von den erläuternden Worten des Paters begleitet, bewegen sich um Themen, die der Landbevölkerung vertraut sind: die Bewegung der Gestirne, der Instinkt der Tiere, das Wunder eines Samenkorns usw. Themen, in die gleichzeitig religiöse Bilder — wie die Schaffung der Erde — eingeflochten werden können. Die Zuhörer lassen sich meist rasch packen, interessieren. Langsam werden sie mit einfachen Worten zur Erkenntnis geführt, daß es außer ihren eigenen, rein materiellen Problemen auch noch andere gibt…

Die Patres übernachten in ihren Wagen, um am nächsten Tag ein anderes Gehöft aufzusuchen. Sie kommen frühestens wieder in zwei Jahren in das Dorf zurück. Aber wenn sie zurüdekehren, finden sie die Erinnerung an ihren ersten Besuch noch wach, und der Empfang ist weitaus herzlicher…

An Drehbank und Ffobeltisch

Die „Mission de Paris“ ist in ihrer neuen Arbeit noch einen großen Schritt weitergegangen. Ihre Patres widmen sich ausschließlich den Industriearbeitern, und zwar in einem Maße, daß sie sich selbst zu Arbeitern machen. In vielen großen französischen Fabriken wirken sie bereits in ihren beschmutzten blauen Overalls. Um sich völlig eingliedern zu können in die Masse der Arbeiter, trägt der Arbeiterpriester niemals die Sutane, auch nicht außerhalb seiner Fabrik, ist immer auch in der Gewerkschaft und nimmt an ihren Streiks teil. Die Patres lernen dadurch nicht nur die manuelle Arbeit von Grund auf kennen, sondern auch die geistigen Anliegen der Arbeiter, ihre beruflichen und privaten Sorgen, ihre Familienverhältnisse. Meistens sind in einer Fabrik drei, vier Arbeiterpriester untergebracht. Sie leben nicht miteinander und treffen einander nur einmal wöchentlich, um die Erfahrungen auszutauschen. Sie unterstehen nicht einmal einer Pfarre, sondern direkt dem unmittelbaren Untergebenen des Erzbischofs von Paris, Kanonikus Hollande. Msgr. F e 111 n empfängt sie sehr oft, um ihre Erfahrungen, ihre Berichte zu hören. Denn diese Arbeiterpriester sind sehr frei in ihren Initiativen, und ihre christliche Aktivität gründet sich auf keine Richtlinien von oben, sondern allein auf ihre eigenen Eingebungen.

Ihre eigentliche Tätigkeit entfaltet sich nicht in den Fabriken, wo alle Gedanken der Arbeit gehören, sondern in der Freizeit, in den ganz bescheidenen Untermietzimmern, die die Patres bewohnen. Als einfache Arbeiter kommen sie hier in Kontakt mit den anderen Mietern, mit den Gästen am Stammtisch im bescheidenen Restaurant, mit den Händlern und den Arbeiterfamilien. Sie sprechen mit Vorliebe über die Arbeit, über die Höhe der Mieten. Und sie versuchen, wo sie können, ihren Mitmenschen unauffällig zu helfen. So findet der Priester Eingang in die verhärtetsten Herzen der Menschen seiner Umgebung. Sie betrachten ihn vorerst als Freund; aber sehr bald wird er ganz von selbst ihr Vertrauter für allen Kummer, allen Zwiespalt, der ihre Seele belastet. Er hält niemals eine Predigt; er, ein Arbeiter, geht lediglich mit gutem Beispiel den anderen voran. Diesen anderen obliegt es, daraus die Folgerung zu ziehen. Pater X liest freilich allabendlich seine Messe, ganz für sich. Nur zweimal wöchentlich findet sie zu einer bestimmten, fixen Zeit statt, damit die, die es von selber wünschen, daran teilnehmen können. Der Kreis der Andächtigen vermehrt sich ganz natürlich. Denn der Priester ist für sie jetzt kein Fremder mehr.

… und auf hoher See

Die letzte dieser neuartigen Missionen ist die „Mission de la Mer“, die drei Aufgabenbereiche übernommen hat: die Kaimission, die Bordmission und die Matrosenpatres. Die Kaimission unterhält in allen größeren Häfen der Atlantikküste und in Marseille Stationen, der drei, vier Patres — manchmal ist es auch nur einer — angehören. In Boulogne zum Beispiel sind es vier Franziskaner, in Rouen ein Jesuit. Wenn ein Schiff im Hafen einläuft, begibt sich ein Pater an Bord und stattet der Besatzung einen Besuch ab. Die Matrosen werden gleichzeitig eingeladen, in der Missionsstation billiges Quartier zu beziehen. Man hat dafür Schlafsäle eingerichtet, und außerdem steht ein großer - „Spielsaal“ zur Verfügung, in dem die Matrosen mit den Patres gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen und der Unterhaltung pflegen.

Die Bordmission schickt Ihre Priester auf Handelsschiffe, Kutter usw., die mehrere Monate unterwegs sind und einen Seelsorger wünschen. Zu Lande besuchen die Priester dann die Matrosenunterkünfte, studieren ihre Lebensbedingungen und suchen nach Möglichkeiten für eine Verbesserung ihrer Arheitsverhältnisse.

Die Priestermatrosen schließlich handeln wie der Arbeiterpriester. Sie tragen ebenfalls keine Sutane, reihen sich oft unerkannt unter den Besatzungsmitgliedem ein, arbeiten als Maate, Schiffsfunker, Kesselheizer oder Köche, packen überall mit an, wo Not am Mann ist, und ersetzen das direkte Apostolat durch vorbildliche Pflichterfüllung und eine christliche Lebensführung.

Es steht außer Frage, daß diese jungen Patres und Priester Unerhörtes leisten müssen. Sie werden jedoch für diese neuartigen Aufgaben vorerst gründlich geschult. Die Mission de France hat in Lisieux ein eigenes Seminar für sie eingerichtet, in dem den jungen Männern nicht nur eine besonders strenge und umfassende theoretische und philosophische Bildung zuteil wird, sondern auch eine spezielle praktische Schulung als Landarbeiter, Fabrikarbeiter, Matrose usw.

Noch ist freilich die Zeit viel zu kurz, um absehen zu können, wie weit die neuen Methoden, im großen gesehen, zu einem fühlbaren Erfolg führen werden. Eines aber steht fest: die Fühlungnahme zwischen diesem Priesternachwuchs und den Arbeitern auf der Grundlage der Gleichberechtigung hat in den kleinen Wirkungskreisen der ersten Pioniere bereits zu Ergebnissen geführt, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Es wäre nicht erstaunlich, wenn die katholische Kirche durch diese Initiative endlich innerhalb der großen Volksmasse ein wirksames Gegengewicht gegen die oft verführerischen politischen Parolen gefunden hätte.

Die öffentliche Meinung in Frankreich steht durchaus auf der Seite dieses neuartigen Priestertums. „Fallschirmjäger“ nennt man sie scherzhaft, diese jungen Geistlichen, aber es gibt keinen von ihnen, der sich nicht der Achtung, der Bewunderung erfreut. Wahrscheinlich hat die katholische Kirche in Frankreich mit ihnen einen sehr glücklichen Weg beschritten. Sie wird siegen, weil sie in klarer Erkenntnis der Sachlage nicht davor zurückgeschreckt ist, zu den Apostolatsmethoden zurückzukehren, die sich die ersten Christen zu eigen gemacht hatten.

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