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Das Experiment von Lens

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Wie läßt sich die große Masse der religiös Gleichgültigen seelsorglich erfassen? Diese Ueberlegung bildete den Ausgangspunkt für die neuartige Missionsmethode, die im Herbst letzten Jahres in einem großen entchrist-lichten Gebiet Nordfrankreichs zur Anwendung kam.

Es handelt sich um das Kohlengebiet von L e n s, zwischen den Städten Arrjs und Lille, mit annähernd 200.000 Seelen in 33 Pfarreien. Die Verhältnisse sind traurig: Hochburg des Kommunismus, großes Wohnungselend, Barackenleben, unbeschreibliche“ sittliche Zustände, ein zusammengewürfeltes Gemisch von Fremdarbeitern verschiedener Nationalitäten, trostlose und abstumpfende Arbeitsbedingungen in den Kohlenbergwerken. Im ganzen Gebiet gibt es 14.000 praktizierende Katholiken, meist Frauen oder aus bürgerlichen Schichten. Von den Bergwerksarbeitern, das heißt der Hälfte der ganzen Bevölkerung, praktizieren zwei bis drei Prozent (710 von 30.000).

Zunächst war dem Klerus und den Missionären im voraus klar, daß eine Mission im üblichen Stil einer Ausweitung in dreifacher Hinsicht bedürfe, um heutigen Verhältnissen gerecht zu werden;

Erstens stellt eine Pfarrei im Bewußtsein der' Leute (und zumal der Abgestandenen) nicht mehr ein in sich stehendes Ganzes dar. Die Menschen, gehen in ihrem bürgerlichen Beruf von einer Pfarrei in die andere an ihre Arbeitsplätze; sie haben meist kein Zusammengehörigkeitsgefühl. Es ist daher nötig, das ganze Gebiet, das im täglichen Leben eine Einheit bildet, auch hinsichtlich der Seelsorge zu einer Einheit umzugestalten. Darum wurde die Mission nicht nur in einer, sondern in 30 Pfarreien zugleich abgehalten. Aber mehr noch: Es wurden nicht 30 Missionen gleichzeitig nebeneinander durchgeführt, sondern alle 30 Pfarreien unterlagen dem gleichen Plan, arbeiteten intensiv zusammen, angefangen von den Missionären über die Pfarrgeistlichkeit bis zu den Laienhelfern, so daß wirklich von nur einer Mission im ganzen Gebiet gesprochen werden konnte.

Zweitens erkannte man, daß die beabsichtigte Breitenwirkung eine außergewöhnliche Dauer erfordere. An Stelle der üblichen Missionswochen nahm man eine Missionsperiode von mehreren Jahren in Aussicht. Drei Jahre vor der Mission im engeren Sinn wurde daher mit der Vorbereitung begonnen, und für die Zeit nach der Mission im engeren Sinn wurde eine ständig weiterwirkende Nachmission unter Mitwirkung der gleichen Missionäre vorgesehen.

Drittens war das Bestreben der Missionäre nicht so sehr darauf angelegt, möglichst viele Leute in die Missionspredigten zu ziehen, wo sie den Anstoß zur Bekehrung erhalten sollten. Die Predigten in der Kirche verfolgten vielmehr einen ganz anderen Zweck: Sie waren in erster Linie an die Gläubigen gerichtet, von denen man sicher wußte, daß sie kommen würden, die guten, bereits praktizierenden Katholiken, die naturgemäß anders angesprochen werden müssen als die Lauen und Abgestandenen. Zu den Nichtpraktizie-

renden aber gingen die Missionäre hinaus in die Wohnviertel, suchten dort in kleinen Kreisen mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ihre Schwierigkeiten anzuhören (!), ihre Vorurteile zu korrigieren und so den Weg zu einem religiösen Leben freizulegen. Ein solches Vorgehen erfordert nun freilich nicht nur einen anderen Typ Missionäre, sondern ebensosehr eine viel größere Anzahl. An der Mission in Lens waren darum auch 15 0 Missionäre aus den verschiedensten Orden beteiligt, von denen nur ein Teil Predigten in der Kirche zu halten hatte. Folgende Etappen wurden in Lens erprobt:

1. Zunächst traten die Missionsleiter mit dem ganzen Seelsorgeklerus zusammen, um die besondere Situation zu studieren. Eine von einem Spezialisten der Religionssoziologie durchgeführte Erhebung veranlaßte die Klerusversammlung, sechs Kommissionen zu bilden (religiöse Soziologie, Liturgie, Predigt, Katechismus, Wohngemeinschaften, spezialisiertes Berufsapostolat). Man bedauert es nachträglich, daß man nicht bereits in diese Kommissionen Laien- zugezogen hatte. Aus der Arbeit dieser Studiengruppen erwuchs von selbst ein Dekanatsrat, der für die Durchführung der als nützlich erkannten Reformen Sorge trug.

2. Erst nachdem auf diese Weise die eigentliche Seesorge ein einheitlicheres und die Gläubigen in eine bestimmte Richtung drän gendes Gepräge erhalten haue, wandte man sich an ausgewählte Laienhelfer, denen- man das Ergebnis der Untersuchungen vorlegte, und die man nun zu bestimmten Aktionen einsetzte (Presseaktieneri, Heranziehung zum Katechismusunterricht, Belebung der Vereine usw.).

3. Zur selben Zeit wandten sich auch an zwei Sonntagen die Missionäre in allen Kirchen an alle Gläubigen, um sie an ihre Berufung und ihre Pflicht zu erinnern, am Kommen des Reiches Gottes mitzuwirken.

4. Ein halbes Jahr später, im Mai 1952, versuchten die Laienhelfer in ihren Häusern mit den aktiven Christen ihres Hauses oder Wohnblocks Marienandachten abzuhalten und auch Abgestandene zuzuziehen.

5. Endlich im November 1952 Fand durch zwei Wochen hindurch die Mission imengeren Sinn s-tatt, die aber, wie schon erwähnt, keineswegs darauf' ausging, die Nichtpraktizierenden zu bekehren. Auf jede äußere Propaganda wurde darum verzichtet. Man wollte eine „echte Gebetsversammluhg im missionarischen Geist“.

6. Wandte man sich in dieser Missionszeit auch sehr spezialisiert in eigenen Vorträgen (und zwar je mehreren) an einzelne Berufs-gruppen: Ingenieure, Aerzte, Kaufleute, Lehrer und Schüler der oberen Gymnasialklassen.

Jetzt erst, in der dritten Woche der Mission im engeren Sinn,. suchte man außerhalb der Kirche die Nichtpraktizierenden endgültig zu erfassen. Vorausgegangen war freilich, wie das allgemein üblich, erstens der Besuch dieser Abgestandenen durch die Laienhelfer, dann der persönliche Besuch durch einen Geist-

liturgischen Leben noch fernsteht, eine Art Katechumenat, durch das er allmählich wieder an die Quellen des Lebens herangeführt wird.

Nach der ganzen Anlage dieser Mission ist es heute noch verfrüht, zu fragen, ob der Vorstoß in die Masse der Gleichgültigen gelungen sei oder nicht. Man müßte richtiger fragen, ob es gelungen sei, die aktiven Katholiken einschließlich des Klerus in eine organische missionarische Gemeinschaft umzugestalten, und ob dieser Sauerteig anfange, im Teig mächtig zu arbeiten. Wenn man die Frage so stellt, kann man sie offensichtlich in beiden Teilen positiv beantworten. Waren vor der Mission 14.000 praktizierende Katholiken, die ihren Glauben nicht ausstrahlten, so waren allein in der Zeit der Mission 50.000 erfaßt worden. 1000 Laienapostel verpflichteten sich bei der Schlußfeier dem anwesenden Bischof zu dauerndem apostolischem Einsatz. Neue Gruppen der JOC konnten unter der Arbeiterschaft gegründet werden. Ein neuer apostolischer Geist beseelte die ganze Gemeinschaft, und die Kerne neuer christlicher Lebensgemeinschaften waren überall in den Boden gesenkt.

Trotzdem sollen die Mißerfolge nicht verschwiegen werden: Der völlig entchristlichte Block der Kohlenarbeiter wurde von der Mission kaum berührt, man sprach dort bei der Arbeit nur wenig von der Mission. Dasselbe gilt von den Textilarbeiterinnen der Gegend. Gerade diese beiden Gruppen hatte man besonders zu erfassen gehofft. Es zeigte sich aber, daß die Ueber-beanspruchung der physischen Kräfte, die in diesen beiden Berufskategorien in Lens geübt wird, für die Freizeit nur in die Reaktion „Tanz, Kino, Flirt“ umschlägt. Man wird hier zuerst Wege suchen müssen, um die physiologischen und psychologischen Arbeitsbedingungen zu bessern, ehe man den religiösen Samen ausstreuen kann.

(„Orientierung“)

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