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Theologische Reise nach Frankreich

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Die französischen Behörden in Innsbruck haben im Oktober vier Professoren der theologischen Fakultät der Universität Innsbruck zu einer Reise nach Frankreich eingeladen, so wie am Ende des Sommersemesters je eine Gruppe von Dozenten der anderen Fakultäten eine Frankreichfahrt unternommen haben. Alle sind von drüben reich an neuen Kenntnissen und an persönlicher Fühlungnahme mit den Fachkollegen der französischen Wissenschaft heimgekehrt, mit dem leibhaften Gefühl, daß es im Reiche des Geistes keine Grenzen gibt und daß wir alle eine gemeinsame Kultur bauen und verteidigen.

Da wir Theologen in Frankreich zu unserer Freude feststellen konnten, wie bekannt und gelesen die „Furche” ist, möchte ein Teilnehmer an dieser theologischen Reise nach dem Westen dies und das erzählen von den Eindrücken, die er von dieser höchst anregenden Fahrt nach Hause nahm.

Man muß heute wirklich nach Frankreich fahren, wenn man wissen will, wie es um die Pflege der Theologie in der katholischen Welt steht. Ist es doch heute in manchem Belang ähnlich wie damals auf dem vatikanischen Konzil, als ein französischer Bischof in die Wirrnis einer hitzigen Debatte mit gallischem Geist Klarheit brachte und ein Mitglied des Konzils erleichtert den Vers aus dem Hymnus des hl. Ambrosius zitierte: „Gallo canente spes redit” — wobei „gailus” der Hahn heißt und zugleich der Gallier, und der sublime Scherz, den man nicht übersetzen kann, nur eben anzudeuten ist mit der Wiedergabe: „Wenn der Gallus kräht, kehrt die Hoffnung wieder.” Die französische Theologie (im weitesten Sinn, von den Problemen der alttestamentlichen Exegese über die Dogmatik bis zu den Fragen der Pastoral und der Liturgik) bewegt sich an der vordersten Linie der Front, also dort, wo es neues Land zu erobern gilt, wo man aber auch am unmittelbarsten gefährdet ist. Man hat eie „Nouvelle Theologie” genannt, hat sie gepriesen und verdammt — ich habe darüber in der Schweizer Zeitschrift „Orientierung” 11 (1947), S. 214 ff., im vergangenen Jahr ein abwägendes Urteil zu formulieren versucht. Das Für und Wider ist seitdem ruhiger geworden, und das ist für den Fortgang im Studium der echten, uns heute nun einmal unumgänglich aufgegebenen Fragen der Theologie nur von Nutzen. Einen ausgezeichneten Überblick über die augenblickliche theologische Lage in Frankreich gibt neuestens P. Yves Congar O. P. (Tendances actuelles de la pense religieuse) in einem eben erschienenen Sammelband, der den Titel trägt: Bilan franęais depui la liberation, Paris 1948 (Editions du Monde Nouveau), S. 33 bis 50. Was dort einer der führenden Geister der theologischen Bewegung in Frankreich gewissenhaft und wohlbelegt bucht, soll hier mit einigen persönlichen Erlebnissen lebendig gemacht werden.

Was das katholische Leben Frankreichs auszeichnet, ist zunächst die Existenz einer lebendigen geistigen Elite, die ganz und begeistert katholisch ist (ohne den uns so wohlbekannten heimlichen Seitenblick auf „Andersdenkende”, der als böses Erbe aus der liberalen Zeit immer zu sagen scheint: Entschuldigen Sie, aber ich bin katholisch), die aber diesen schlichten Stolz auch als berechtigt ausweist durch Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaften, der Literatur oder der sozialen Arbeit, welche einfach anerkannt werden müssen. Es besteht kein Zweifel: das katholische Leben Frankreichs gewinnt seine neue Lebendigkeit gleichsam von oben nach unten, von Paris aus aufs Land, von der Lehrkanzel zur Fabrik, man kann sogar sagen vom Dichter zum Arbeiter. Das ist eine jener guten Früchte, die, allem Menschenwitz zum Trotz, aus der feindseligen Trennung von Kirche und Staat zu Beginn unseres Jahrhunderts erwachsen sind. Es ist dem französischen Katholiken zur Gewohnheit geworden, ohne die Krücken einer fragwürdig gewordenen Tradition und einer staatlichen Hilfe zu stehen und zu gehen. Die Kirche hat sich, oft unmittelbar neben dem einst konfiszierten Besitz, aus eigenen Kräften neue Häuser gebaut und darin eine Jugend großgezogen, die kraftvoller weiß, um was es bei dem Bekenntnis zum Glauben geht. Das wurde uns Gästen aus Österreich sofort nach der Ankunft in Pari deutlich: wir fuhren unmittelbar vom Bahnhof zum großen Institut Catholique in der rue d’Assas, wo sich um den ehrwürdigen Kern des alten Karmaliterkloster die modernen Gebäude, Säle und Laboratorien der katholischen Universität erheben. Wenn man von da au die rue de Vaugirard weitergeht, gelangt man bald zur mächtigen Sorbonne und macht sich zunächst Gedanken über den Wert dieses erzwungenen Exodus de Katholischen au der berühmten Pflegstatt der französischen Kultur, die einmal unbestritten (oder scheinbar unbestritten) katholisch war. Heute ist an der Sorbonne und am College de France der katholische Forscher wieder heimisch — wenn er sich als wahrer Forscher auswein. Man denke hur an Etienne Gilson oder an Louis Massignon und manch anderen illustren Namen. Nein, die katholische Universität in der rue d’Assas strahlte Leben zurück und tut es heute ebenso. Ein Gang durch ihre Gebäude unter der Führung Seiner Exellenz des Rektors, Monseigneur Blanchet, hat uns das bewiesen. Noch waren Ferien, aber die Vorlesungsverzeichnisse der einzelnen Fakultäten gaben eine Vorahnung der für alle Fragen aufgeschlossenen Wissenschaft, die hier von guten und von großen Namen vertreten wird. Es wirkt wie ein Symbol, wenn die physikalische Fakultät mit rührender Sorge das Laboratorium des großen Physikers Edouard Branly hütet, der einst die Sorbonne verließ, um an der katholischen Universität seine weltberühmten Entdeckungen auf dem Gebiet der drahtlosen Telegraphie zu machen. Im Garten hinter den alten Mauern der Karmeliter wandeln die Pariser Theologen über die Wege, auf denen im September 1792 das Blut der papsttreuen Märtyrer floß, und man hütet dort in Kirche und Gruft die Blutspuren und Erinnerungen an diese heroischen Tage der französischen Kirche noch ehrfürchtiger als die überholten Apparate des Branlyschen Genius — ės ist, als sei beides wie ein Symbol der Einheit von Natur und Übernatur, überdacht von dem einen Haus der katholischen Weisheitsliebe: das Frankreich der hohen katholischen Tradition und das Frankreich der vorandrängenden Forschung.

Damit berühren wir aber ein zweites Grundproblem des katholischen Leben in Frankreich und in einer Theologie insbesondere: der leidenschaftliche Versuch, Tradition und Fortschritt in Einklang zu bringen. Den Repräsentanten dieser heute mehr und mehr unausweichlichen Bestrebungen erblicken wir in dem Oberhirten der Stadt Pari , Seiner Eminenz Kardinal Suhard. Ihm galt am folgenden Tag unser erster Besuch. Er empfing uns in seinem Haus in der stillen rue Barbet de Jouy, aus dem der Blick, mitten im lärmenden Paris, auf einen entzückenden kleinen Garten geht, man glaubt sich einen Augenblick wie in 18. Jahrhundert versetzt. Aber als der Kardinal eintrat, fühlte man sofort: das ist ein Mann von heute, der Kardinal der Arbeiter und der Gelehrten, der führende Geist des katholischen Fortschritts in Frankreich. Das ist der Kardinal des in der ganzen Welt berühmt gewordenen Hirtenbriefs vom Jahre 1947 über den „Aufstieg oder den Niedergang der Kirche”. Und während er uns in Worten, die wie von einem ruhig gewordenen Feuer erfüllt waren, über die Fragen der modernen Seelsorge, die von einer christusentfremdeten Großstadt wie Paris aufgegeben sind, berichtet, erinnerte ich mich der Worte, die in der Einleitung der deutschen Ausgabe seines eben genannten Hirtenbriefs stehen — sie gelten genau so für uns in Österreich: „Mag der stürmisch vorwärtsdrängende oder unbeugsam sich dem Heraufziehen einer neuen Zeit entgegenstemmende, in beiden Fällen ungebrochene Kampfesmut der französischen Katholiken hier weise Mäßigung, Unterscheidung und Ausgleich finden: der deutsche Katholik, in dem zumeist eine müde Resignation all diese Fragen dumpf überlagert, wird es vor allem begrüßen, daß diese Kruste einmal mutig und ohne Angst von kirchlicher Seite durchstoßen, ist in einem weltbejahenden, die neue Zeit begrüßenden, neue Wege und Methoden mutig wagenden Optimismus, der nicht nur unter Blitz und Donner Verbote erläßt und Bannstrahlen wirft, sondern das sieghafte Licht der Auferstehung von den Toten auch der modernen Zeit und Welt zuteil werden läßt.” Was der alte und weise Kardinal von Paris am Ende dieses Hirtenbriefs v n dem ewigen Frühling der Kirche sagt mit den Worten des unsterblichen Franzosen Bossuet, das war zugleich der Inbegriff dessen, was wir aus seinen Worten mitnahmen und was uns das katholische Paris lehrte: „Die christliche Kirche ist immer neu, weil der Geist immer neu ist, der sie beseelt.”

So ging es denn aus der stillen Vornehmheit des Kardinalshauses hinaus in das katholische Paris, wo Tradition und Fortschritt an der gleichen Front kämpfen: einer Heimholung der christusfremden Welt von heute. Seine Eminenz hatte uns eigens aufgefordert, dem Zentrum der sogenannten „Mission de Paris” einen Besuch zu machen. Davon soll gleich die Rede sein — aber zuerst drängt es mein Herz, die alten, wohlvertrauten Straßen wieder abzuwandern, auf denen ich vor langen Jahren täglich zur Nationalbibliothek und ihren unermeßlichen Schätzen an Wissenschaft geeilt bin: es zog mich zum wahren Herzen von Paris, zur Muttergottes von Notre Dame, wo die Kerzen brennen und die Frauen aus dem Volk beten. War es ja eben die Oktave des heiligen Patrons von Paris, Sankt Dionysius, und unter den gewölbten Bogen von Notre Dame sangen die Kanoniker die ewigen Gesänge der Liturgie und die köstliche Sequenz auf Monseigneur Saint-Denis. Draußen vor der Kathedrale rauscht das moderne Leben vorbei, mir ein paar Dutzend Gläubige knien in den ersten Bänken, Gruppen von neugierigen Reisenden durcheilen die gotischen Hallen — aber vorn am strahlend erleuchteten Hochaltar vollzieht sich mit einer himmlischen Unbekümmertheit das heilige Geheimnis. Hier lebt das unsterbliche Frankreich. Von da aus muß man nun mit der Untergrundbahn hinausfahren in die Vorstadt, wo sich in einem armseligen Miethaus, irgendwo oben über steile Holztreppen erreichbar, das Zentrum der „Mission de Paris” befindet. Da haben sich wagemutige Priester zusammengetan, die in Gruppen von zwei und drei, oft auch allein, dieses weite Missionsland der Großstadt nach neuen, vom Kardinal gutgeheißenen Grundsätzen zu betreuen suchen. Wir können sie nicht sprechen, denn sie sind gerade in gemeinsamen Exerzitien in die Stille Gottes versenkt, aus der allein der lärmenden Welt der neue Friede zufließen kann. Aber ein freundlicher Laiensekretär zeigt uns wie ein kleiner Feldherr auf der Riesenkarte der Millionenstadt die als rote Punkte eingezeichneten Orte, wo sich die Priester angesiedelt haben, nicht in einem Pfarrverband mit zugehöriger Kirche, sondern, wahrhaft „angepaßt von Herzen an die Herde” (1 Petr. 5, 3), mitten in den Arbeiterquartieren als ihresgleichen. Ein kühnes Unternehmen, von dem der Kardinal selbst bekannte, es sei hier noch vieles Versuch und Erprobung, aber jedenfalls der höchsten Beachtung wert ob des heroischen Geistes und des unbesieglichen Willens der Rückgewinnung eines (auch durch die Schuld einer versinkenden kirchlichen Epoche) verlorenen Bodens. Wir haben am Tag nachher auch mit einem Priester sprechen können, der täglich als Arbeiter in die Fabrik geht, ein Jesuit, der früher gelehrter Professor der Philosophie war und jetzt (einmal sogar just vor dem Palais des Kardinals) mit seinen Arbeiterkameraden das Pflaster von Paris ausbessert oder in die Metallfabrik geht. Er hat uns von seinen Erfahrungen erzählt: so von einem Arbeiter, mit dem er ein Gespräch über Jesus Christus begann und von dem gutwilligen, aber völlig unchristlich aufgewachsenen Kameraden die eigentlich erschütternde Antwort erhielt: „Ah, Jesus Christus? Das war ein Typ, der hat doch revolutioniert, weil die ägyptischen Könige sich in goldenen Särgen begraben ließen!” Missionsland Paris. Feld für die Mutigen in Christus. Sosehr also, wie der Kardinal in seinem Hirtenbrief hervorhebt, die Pfarrei . „die Grundlage der christlichen Gemeinschaftsbildung bleibt, freilich unter der Voraussetzung, daß sie aufgeschlossener werde und sich besser anpasse”, sosehr gilt auch, was folgt: „In den Gebieten, wo das Heidentum überwiegt und die den Pfarreien unzugänglich sind, müssen Missionarsgruppen neue Gemeinden ins Leben rufen, die allen jenen offenstehen, die ,von weit her kommen. Versuche in dieser Richtung werden von der ,Mission de Paris unternommen.

Nun kehren wir aus der Bannmeile dieser pastoralen Versuche wieder zurück ins Zentrum von Paris, in die Zentren seiner katholischen Erneuerung. Während den Fahrten auf der Untergrundbahn, die wie ein lichter Blitz durch die Schluchten des untergründigen Paris hindurchrast, lese ich, gleichsam als Vorbereitung auf die Begegnungen mit den führenden Männern des Geisteslebens, was der Kardinal mit katholischem Stolz buchen konnte: „Der Platz, den die Katholiken im wissenschaftlichen, literarischen und philosophischen Leben einnehmen, erweist zur Genüge, wie unbegründet es war, die Unvereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft zu proklamieren, wie dies so gerne geschah. Vor fünfzig Jahren gelang dieser katholische Durchbruch nur in einzelnen glänzenden Erscheinungen …, heute ist es eine weitreichende und umfassende Bewegung, die sich kundtut und vorbereitet: überall begegnet man Christen unter den Geistesschaffenden. Man findet sie in den Fakultäten, den Akademien, den wissenschaftlichen Gesellschaften, den Forschungszentren. Sie. scheuen sich nicht, dort ihren Glauben zu bekennen, sie bezeugen zugleich alle — als bescheidene Forscher oder als Wissenschaftler von Weltruf — durch ihre technische Befähigung und ihre gewissenhafte Forschungsarbeit, daß zwischen ihrer Berufung als Wissenschaftler und ihrer Berufung als Christen ein vollkommener Einklang besteht.” Wie wahr dies für Frankreich ist, habe ich in den Tagen vor dem Aufenthalt in Paris erfahren, als ich an einem Kongreß französischer und deutscher katholischer Schriftsteller teilnahm, der in Royau- mont bei Paris zu Beginn des Oktober stattfand. Wieder war es da wie ein Symbol, daß in der unbeschreiblich schönen Gotik dieser vom heiligen König Ludwig um 1240 erbauten ehemaligen Zisterzienserabtei die Männer des geistigen Fortschritts sich zusammenfanden: Tradition und Progression in der feinsten Form vereinigt. Die Vertreter der fast stürmisch linksgerichteten Sozialarbeit der französischen Katholiken kamen da zu Wort. P. Ollagnier, ein Ingenieur aus dem Bergwerkgebiet, M. Esperet, der über den Syndikalismus der Arbeiterbewegung sprach, M. Riby, der über die erstaunlich wirkkräftigen Bestrebungen der „Entente Communautaire” berichtete, das ist über die Versuche, die Arbeitermassen aus der bloßen Organisierung zu einer familienhaften Gemeinschaft der Interessen emporzuführen — und dies alles in der Halle, die einst jene sakrale Sakristei war, in der Sankt Ludwig seine Bußübungen verrichtet hat: wahrlich, das heilige Frankreich lebt noch. Es kamen aber ebenso die Vertreter der Geisteswissenschaft zu Wort, an ihrer Spitze Emmanuel Mounter, der kritische Geist unter den Katholiken und ihre ewige Unruhe (er sprach über das Dichterwerk von Camus), oder in köstlichem Vortrag J. Madaule über das geistige Leben in Frankreich. Gerade hier wurde deutlicher als je, wie sehr wir Katholiken durch solche Arbeit gemeinsame Kultur verteidigen; die Deutschen, die durch Namen vertreten waren wie Walter Dirks, Elisabeth Langgässer, F. J. Schöningh, gaben dem auch Ausdruck in Vorträgen, die selbst für das chaotisch verwirrte Reich von ehedem im Katholischen doch wieder einen Ansatzpunkt für neues Leben erahnen ließen. Aber es fehlt uns noch der Mut, den die Katholiken des französischen Geistes empfinden, wenn sie die von der Revolution zerstörten Hallen der gotischen Abteikirche von Royaumont durchschreiten. Im Abendschein, der den wundervollen Park der königlichen Abtei und das stille Land der „douce ile de France” vergoldete, kamen mir die Worte des Augustinus in den Sinn, die Kardinal Suhard seinen Gläubigen zurief: „Die Ungläubigen meinen, daß die christliche Religion eine Zeitlang in der Welt bestehen soll und dann zu verschwinden habe. Aber sie wird so lange dauern wie die Sonne. So lange die Sonne aufgeht und untergeht, so lange wird die Kirche Gottes, die da ist der Leib Christi, nicht von der Welt verschwinden.”

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