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Lack auf dem Eisernen Vorhang

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AM STEUER DES TAXIS sitzt ein reiferes Mädchen mit kräftigen Händen und energischen Kinnbacken. Das Haar ist glatt und streng zu einem Knoten gedreht, der Griff ums Lenkrad verrät Sicherheit. (Wie mag die Genossin wohl außerdienstlich aussehen, in normaler freundlicher Aufmachung? Hat sie Freude an einem buntgemusterten Sommerkleid? In ihrer Kluft ist sie ganz Werktätige, unpersönlich, zielbewußt.) Der Wagen rollt durch die abendliche Nepköztärsasäg-utca. (Dies« „Straße der Volksrepublik“ wurde schon mehrmals umbenannt, je nach Parteiströmung. Sie hieß früher einmal „Andrässy-ut“, so sagen übrigens die meisten Budapester auch heute noch, der Name spricht sich leichter.) Aus dem Autoradio erklingt Beethovens „Pastorale“.

Die Andrässy-ut also ist ein breiter Boulevard, ganz pariserisch, ein Straßenzug aus der Welt von gestern Mehrstöckige Bürgerhäuser aus den neunziger Jahren, in einem davon wohnt der Komponist Zoltän Kodäly, dann große feudale Villen, einst Franz-Molnär-Szenerien, jetzt volkseigen mit Schildern samt Staatswappen und viel-silbigen Aufschriften. Unter dem Straßenpflaster rumpelt die „Földalatti“ dahin, die erste Untergrundbahn Europas, vier Kilometer lang, vom Stadtwäldchen bis zum Vörösmarty-Platz. Dort befand sich die einst weltberühmte Konditorei „Gerbaud“, dei Dehmel von Budapest. Jetzt verkauft man in dem Geschäft staatliche Süßigkeiten unter dem Firmenschild „Vörös-marty“, obgleich der Dichter dieses Namens manches Bittere in seinem Leben auskosten mußte.

Am Ende der Andrässy-ut — wii bleiben schon bei diesem Namen, dei Kürze halber — liegt der Heldenplatz mit den mächtigen Bronzereiterstandbildern, den legendären sieben Stammesfürsten der Landnahmezeit. Wif ein Trupp Indianer sind sie um die hochragende Siegessäule geschart.

„Frohe und dankbare Gefühle nacr dem Sturm.“ (Im Radio, noch immei Beethoven.) Wir fahren Richtung Innenstadt. Die Verkehrsdichte häli sich in erträglichen Grenzen. Viele Lastautos, dazwischen hin und wiedei blinkende westliche Pkws mit ausländischen Nummerntafeln. Unser Tax überholt einen hellen „Wartburg“ mii der Kennzeichnung „CE“. Ein Privatwagen, der Genosse Direktor wird auswärts speisen und fährt vielleichi nachher ins Kabarett, wo das Lacher über erlaubte politische Witze erlaub' ist. Mit den Autos ist das in Ungarr übrigens genau eingeteilt. Dienstwagei zum Beispiel führen die Buchstabe! „AB“ und ,.BA“, da kann man jeder zeit kontrollieren, ob jemand alienfall: Staatsbenzin zu privaten Zwecken ver braucht. Wenn ein Funktionär abend: ausländische Gäste ausführt, hat e seine Sonderbewilligung in der Tasche Man repräsentiert nach westlichen Standard, mit überkommener ungari scher Gastfreundschaft. Weit, weit is die heiße Zone der Wachtrürme. Ai den blütenweiß gedeckten Tischen is di T.aap entsoannt . . .

„STADT DER GEGENSÄTZE.“ Das architektonische Gesicht der Budapester Innenstadt wird nach wie vor von den Bauten der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende bestimmt. Damals, besonders im Millenniumsjahr 1896, begann sich auch das ungarische Nationalbewußtsein in Marmor und Bronze umzusetzen. Überall erblickt man Denkmäler: Helden und Könige mit Adlerfeder auf dem Kaipak, schnauzbärtige Dichter der Achtundvierziger-Epoche, im verschnürten Rock. Die Partei fügt die Zeugnisse der Vergangenheit dialektisch in das erwünschte Geschichtsbild ein. Es wird genau unterschieden zwischen „guten“ Vertretern der einstigen herrschenden Klasse, die sich um die ungarische Nation verdient machten, wie zum Beispiel der Graf Szechenyi oder der Palatin Erzherzog Josef (auch der theresianische Reitergeneral Graf Hadik ist tragbar, weil er mit seinen Husaren bei einem Handstreich in Berlin ein Beispiel ungarischer Kühnheit gab), und den „bösen“ Elementen der mulatierenden „Gentry“, wie man sie aus den Operetten kennt.

Die Zeit der pathetischen „sozialistischen“ Architektur gilt heute längst als überwundene Phase, noch ehe sie in Budapest oder in den Fremdenverkehrsorten am Plattensee Spuren hinterließ. Ein ungarischer Fremdenführer sagte zu diesem Thema: „Glücklicherweise hatten wir damals kein Geld für neue Hotelbauten.“ Die Brüsseler Weltausstellung brachte neue Impulse. Das Ergebnis: die Pavillons auf dem Budapester Messegelände und die Strandhotels von Siöfok und Tihany, Stahl- und Betonkonstruktionen, große Glaswände.

Schadhafte Hausfassaden der Gründerzeit müssen prinzipiell originalgetreu wiederhergestellt werden. Das Glattschlagen der Fronten, wie es in Wien so häufig geübt wird, ist in Budapest verpönt. Jedes Ornament, jedes Maskaron über den Fenstern wird, wenn erforderlich, ergänzt, die Denkmalpflege erstreckt sich auch auf die Bauten der alten Bourgeoisie. Der rote Stern leuchtet über Plüsch und Bronzekandelabern.

AN EINER KREUZUNG DER INNENSTADT, im Geschäftsviertel bei der „Väci utca“, sitzt der Verkehrspolizist in seiner Kanzel. Dann und wann ertönt seine Stimme aus dem Lautsprecher. Er sagt zum Beispiel: „Der Brillenträger im dunkelblauen Sakko ist schlecht über die Straße gegangen, etwa fünfzehn Meter vom Fußgängerstreifen entfernt. Wir bitten Sie, die Verkehrsregeln zu beachten.“ Einige Minuten später meldet sich der Polizist wieder.

Diese Tendenz zum Erzieherischen ist kennzeichnend für den parteigelenkten Budapester Alltag. Hand in Hand damit geht die kulturelle Aktivierung breiter Bevölkerungsschichten. Auf einem Rundgang sieht man ziemlich viele Buchhandlungen, sie sind modern eingerichtet und verfügen über ein reichhaltiges Sortiment. Neben der unvermeidlichen Tendenzliteratur gibt es Kunstbände mit passablen Farbdrucken und vor allem Taschenbücher zum Preis von 3 und 4 Forint. In der Ausstattung halten sie die Mitte zwischen Reclam-Bändchen und rororo. Ausländische Klassiker und die Hauptwerke der modernen Literatur wurden ins Ungarische übersetzt: Thomas Mann, Hemingway, Graham Greene, Faulkner, Moravia, Scholochow und natürlich Brecht, Brecht und nochmals Brecht.

Der Budapester Europa - Verlag brachte Rilke heraus. Stefan Zweigs „Schachnovelle“ erlebte mehrere Auflagen. Im Jahr 1958 wurden in Ungarn 3 81 Millionen Forint für Bücher ausgegeben, die Statistik errechnete die Kopfquote von 40 Forint pro Einwohner. Das entspricht dem Preis von 80 Straßenbahnfahrscheinen. Und ein offizielles Ungarn-Handbuch stellt hierzu fest: „Neben den fortschrittlichen und sozialistischen Schriftstellern des Westens lernt der ungarische Leser auch Werke solcher bürgerlicher und humanistischer Schriftsteller des Auslands kennen, deren Schaffen zu einem umfassenden Bild der Gegenwartsliteratur gehört.“

Vor zwei Jahren wurde sogar die Ungarische Bibliophilengeseilschaft neu gegründet und bemüht sich um internationale Kontakte, deren Aufnahme, wie sie hofft, „nur eine Frage der Zeit“ sein wird.

DER „TRAURIGE SONNTAG“, ein tränentriefender Schlager der dreißiger Jahre, dem noch nachträglich ein Schnulzen-Oscar gebührte, nahm von Budapest aus seinen Weg in Tausende schluchzender Geigen auf der ganzen Welt. Die Fama berichtet, daß sich einige Leute unter dem Eindruck dieses Liedes sogar das Leben nahmen. Wenn der Primas heute mit geschlossenen Augen den „Traurigen Sonntag“ anstimmt, dann lächelt man wie über einen unfreiwillig komischen alten Stummfilm. Dabei war doch so ein Budapester Sonntag in alten Friedenszeiten gar nicht so traurig, wie man hört.

Sonntag vormittag heute, Pester Innenstadt: In der Vorhalle der Sankt-Stephans-Basilika, einem gewaltigen Neorenaissancekuppelbau, sitzt eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch bei ihrem Devotionalienstand und hält kleine Marienfiguren, Kruzifixe, Rosenkränze und Heiligenbildchen feil. Interessiert betrachten die Ausländer das bescheidene Sortiment. „Na, bitte, die Religion darf sich frei entfalten.“ Wahrscheinlich stammen die Devotionalien aus der „Ecclesia“, einem mitten im Pester Geschäftsviertel sehr augenfällig etablierten Geschäft, das vom Rosenkranz bis zu Meßgewändern und Paramenten alles führt. Das Geschäft gehört der Kirche, steht aber unter der Leitung der „Friedens-priester“-Bewegung. Im gedämpften Licht unter der Kuppel der Basilika: Gläubige, die der Predigt zuhören. Mittelständler mit stillen Gesichtern, einfache Menschen, wenig Jugend.

In einem Außenbezirk, etwa den Wiener Stadtteilen Simmering oder Favoriten vergleichbar: Männer der Betriebskampfgruppen in blaugrauen Garnituren, das Sturmgepäck auf dem Rücken, eehen zum Appell. In der

Schule eines neuen Wohnviertels mit ausgedehnten Komplexen sammeln sich die „Pioniere“ mit ihren roten Halstüchern, Wimpeln und Trommeln. Der organisierte Sonntag. „Nimm dir Zeit für die Partei, Genossel“

Zur gleichen Stunde werden im hocheleganten Speisesaal des ebenso hocheleganten Grand-Hotels auf der Margareteninsel die Tische gedeckt, mit Damast, Blumen, schönem Porzellan und geschliffenen Dezigläsern für den Tokajer Furmint. Eine Tafel fürs Souper nach kapitalistischem Standard.

Und der „four“, der Herr Ober, sieht sorgsam nach dem Rechten ...

KEINE RUSSENMONTUREN im landläufigen Sinn trägt die Ungarische Volksarmee. Man sieht viel Militär in den Straßen. Außer Dienst. Die Soldaten tragen Tellerkappen, helle Khakihemden mit offenem Kragen und langen Hosen. Die breiten russischen Achselstücke der Offiziere wurden nach 1956 durch waffenfarbige Achselklappen mit Rangsternen ersetzt. Auch bei der Polizei macht sich ein westlicher Trend bemerkbar: Krawatte, kein Gürtel, in der weißbehandschuhten Rechten lässig der Gummiknüppel, wie es in Amerika Sitte ist.

EIN MUSTERBEISPIEL DER DENKMALPFLEGE ist das Festetich-Schloß in Keszthely, am Westufer des Plattensees. Die „Helikon“-Bibliothek, von Georg Graf Festetich gegründet, wurde nach der Enteignung durch das kommunistische Regime der das ganze Land umfassenden Organisation der Ungarischen Nationalbibliothek angeschlossen. In einem hohen klassizistischen Bibliothekssaal mit kostbaren chinesischen Vasen und schweren vergoldeten Leuchtern steht ein Tonbandgerät bereit, und der ausländische Besucher erfährt in deutscher, englischer und französischer Version die Geschichte jenes Aristokraten namens Georg Festetich, der um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert als großer Förderer der ungarischen Kultur wirkte und diese schöne Privatbibliothek anlegte, in der unter anderem viele Raris-sima aus der Aufklärungszeit zu finden sind. Überdies, so erklärt der Sprecher, errichtete Festetich die erste Bodenkulturschule Europas, das „Georgikon“. In einer Fensternische steht die Marmorbüste des Grafen, auf einer Balustrade erblickt man das Wappen des Geschlechtes der Festetich.

Aus einem weißen Rokokosaal erklingt Klavierspiel. Hier wird ein Schülertreffen mit musikalischem Programm vorbereitet. Eine schlanke Vierzehnjährige aus Sopron sitzt beim Flügel und spielt voll Einfühlung Debussys Arabesken, Musik, die zur Stimmung des Raumes paßt, aristokratisch, poe-sieerfüllt in wundersamer Ruhe. Im Sonnenlicht vor dem Fenster breitet sich der Schloßpark mit hohen wehenden Pappeln . . .

Innen ist der Eiserne Vorhang lackiert.

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