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Heim der Nationen

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DER „FAVORITENHOF", WEIT VOR DER STADT — später „Favorita“ genannt, in einer lieblichen, ländlichen Umgebung —, so zeigt der Radierer Merian in seiner „Topographie der österreichischen Provinzen" das Schloß, zu dem noch unter Kaiser Matthias der Grundstein gelegt worden war. Nach Bannung der Türkengefahr und nach dem Frieden von Karlowitz ist das Haus, wie viele andere Wiens, neu errichtet worden; denn, wie ein Aktenstück aus dem September 1685 berichtet, ist die „Favorita völlig abgepronnen und fast niemand als ein Gärtner darinnen " Es scheint wie ein Symbol, daß auf diesem Landstrich immer wieder Gefahr und Zerstörung lastete — dreihundert Jahre lang.

ALS AN DIE KAISERIN MARIA THERESIA vom Jesuitenorden die Bitte herangetragen wurde, ein „Seminarium nobilium“ zu errichten, „um darin der zarten Jugend von Anfang an eine Anleitung zu geben, wodurch sie tüchtig zu Erlernung jener Wissenschaften werde, welche erforderlich sind, teils der Kirche, teils dem Staate wohl vorzustehen", damals tauchte nach dem Vorbild der von den niederösterreichischen Ständen in der Alser Vorstadt gegründeten „Landschaftsakademie" ein gleichgearteter Plan auf, der später kostenhalber, und wohl auch auf Anraten Gerhard van Swietens, zum „Collegium Theresianum“ geformt wurde. Eine Denkmünze mit der Aufschrift „Institut. Nobilioris Juvent. Theresianum erectum MDCCXLVI“ wurde eigens geprägt. Am 30. Dezember 1749 erfolgte die Ausfertigung des ersten Stiftsbriefes. Die bisher von der Kaiserin nur unterstützte Anstalt der Jesuiten wurde kaiserliche Akademie, ihr erster Kurator hieß Graf Khevenhüller. Er entstammte der jüngeren Linie des alten Geschlechtes, nämlich derer von Hochosterwitz 1773 wurden die Jesuiten durch die Piaristen abgelöst. Zehn Jahre später hob Joseph II., der Neuerer, dem alte Traditionen in seinen Reformplänen lästig waren, die “Akädmi£’,die ’ktrrz vorher’mir’derrimvc yischen vereinigt“1 worden war, durch ein Dekret’ auf. Aber ein Handschreiben des Kaisers Franz II. stellte den alten Wirkungskreis wieder her. Damals bekam der Gebäudekomplex einen dritten Stock, ein klassischer Giebel betonte den Mitteltrakt. Weder die Stürme von 1848 noch die von 1918 und auch nicht jene von 1938 haben an den Grundfesten einer Idee rütteln können, die in ihrem Kern von Anfang an eine Heimstätte der Völker und ein Leuchtturm der Toleranz gewesen war.

AUS DIESEN VÖLKERN - und das Wappen des alten Reiches in Stein gemeißelt, thronte nicht ohne Bedeutung auf dem Giebel — gingen die Schüler, Zöglinge, Präfekten und Lehrer hinaus. Aus der Liste der im ersten Weltkrieg Gefallenen rollen wie dumpfe Paukenschläge die Namen der Schlachtorte: Tarnow, Grodek,

Rawaruska, Gorlice, Vielgereuth, der Isonzo. Der erste Zögling fiel am 23. August 1914 bei Polichna, der letzte Schüler am 21. Juni 1918 im Südwesten. Am 13. Mai 1917 traten die Zöglinge im Park der Akademie anläßlich des 200. Geburtstages von Maria Theresia zum letzten Male in der den alten Wienern noch bekannten Uniform an. In der Zwischenkriegszeit konnte, allen wohlmeinenden, aber die Idee des Werkes umstürzenden Ratschlägen zum Trotz, das Institut weitergeführt werden, obschon der Friedensschluß von Saint-Germain en Laye die wirtschaftlichen Grundlagen erschüttert hatte (Verlust der ertragreichen Güter Neutitschein und Dürnholz in Mähren — ihre Ablösung durch eine siebenprozentige Völkerbund anleihe auf 15 Millionen tschechischer Kronen lautend), ganz abgesehen von dem Wegfall der Zöglinge aus den Nachfolgestaaten. Die Opfer zur Sanierung waren beträchtlich. Man wird sich noch der Abtretung des schönten Parkteiles erinnern, der einst Garten der Orientalischen Akademie war und im Frühjahr, wenn die Kastanienkerzen leuchteten, einen herrlichen Anblick bot: Heute steht dort das Gebäude des Oesterreichischen Rundfunks. 1938 wurde das Theresianum, von dem man noch im Juli gehofft hatte, es durch Errichtung einer eigenen Abteilung für die Erziehung der in Wien tätigen reichsdeutschen Militärs und Beamten retten zu können, in eine „Napola" umgewandelt. Die meisten Lehrkräfte schieden durch Pensionierung oder Versetzung an andere Schulen aus. Zwei Zöglinge des Theresianums mußten ihre Treue zu Oesterreich mit dem Schafott büßen. Die jüngste Vergangenheit ist den Wienern sichtbarlich lange genug — bis zum Abschluß des Staatsvertrages — mit allen Zeichen des Verfalls in Erinnerung geblieben. Es mutet geradezu wie ein Wunder an, wenn man auf einem Gang des Hauses die Bilder, die photographischen Dokumente eines sinnlosen Vernichtungswahnes, der Reihe nach ansieht und dann durch die Säle und Zimmer geht, die seit der offiziellen Eröffnungsfeier vom 14. November 1957 wieder der Heranbildung der Jugend gewidmet sind. Viel bleibt auch für die Zukunft noch zu tun. Man braucht nur einen Blick durchs zweite Eingangstor zu werfen: Die Arbeit des Wiederaufbaues ist noch nicht beendet. Aber die festen und zuverlässigen Grundsteine sind gelegt.

WER ZWEI JAHRE NACH DER ERÖFFNUNG dem Direktor des Theresianums, Doktor Roger Kerber, gegenübersitzt, muß gestehen, daß hier, in einem traditionsmäßig so gesättigten Hause, ein unerhört moderner Geist waltet. Es gibt keine Protektion, wie manche Leute vielleicht noch glauben— es sei denn die „Protektion" durch Charakter und durch Leistung. Das Ziel der Ausbildung liegt in der Vielseitigkeit. Es wird aus diesem Hause keiner ins Leben hinaustreten, dem man das gehässige „Bonmot“, das besser Malmot hieße, nachwerfen kann, er habe zwar viel studiert und spreche eine Reihe fremder Sprachen, aber einen Nagel einzuschlagen, eine elektrische Sicherung auszuwechseln, die Sprache der sozialen Neuschichtung, verstünde er nicht. Heute werden die Kinder auf verschiedenen Gebieten der Handfertigkeit tüchtig unterwiesen. Die Holzarbeiten (prächtige Intarsien, die jeden Innenarchitekten entzücken würden), die Zeichnungen, die Keramiken (würdig, in

Jc4ftrc-4ussteUwg„?u„glä n) und, ,dje Mp.tpJJ.-

arbeiten beweisen e?. Diese handwerkliche Tätigkeit wird nicht nur auf der Unterstufe des jetzt als Realgymnasium geführten Instituts gepflegt,

sondern geht durch alle Jahrgänge, wobei der künstlerischen eigenen Aussage breitester Raum gewährt wird. Zum Glück stehen für alle diese musischen und kunsthandwerklichen Fächer ebenso tüchtige Lehrkräfte zur Verfügung, wie für die wissenschaftlichen Fächer.

DER TREIBENDE GEIST, der Initiator des Unternehmens, den wir bald in seinem Arbeitsraum besuchen, ist selbst ein Beispiel für die ideale Verknüpfung praktischer und wissenschaftlicher Tätigkeit: Ohne die Hingabe des gegenwärtigen Kurators des Theresianums, des nimmermüden Senatspräsidenten Paul Sca- p i n e 11 i, wäre man heute nicht dort, wo man ist. Er hatte auch die Freundlichkeit, uns die historischen Zimmer zu zeigen, darunter das einzigartige Goldkabinett, das — nicht zuletzt dank der Unterstützung durch das Bundesdenkmalamt — in altem Glanze wiedererstanden ist, ebenso wie der prächtig stuckierte Speisesaal. Sogar das in der Perspektive wirkungsvolle schmiedeeiserne Gartentor hat man in einem Keller entdeckt; halbgeöffnet, sehen wir es von einem Gangfenster aus Wer Phantasie genug hat, dem tauchen an diesem spätherbstlichen Nebel di ü gen,Kronen deit Gartenbäume liegen, die jrielen _.Menschqn auf, die durch dieses Tor im Laufe der Jahrhunderte geschritten sind.

GEGENWART sind die Wohnräume der nach alten Begriffen zu „Kameraten“ zusammengefügten Zimmer. Zu viert stehen die Betten im Raum. Die Schüler haben diese Betten selbst zu machen. Zweckmäßig sind die Putzzimmer. Man hält die zu reinigenden Schuhe über einen niedrigen, oben offenen Kasten, dessen Boden herausgezogen werden kann., Die Schuhe befinden sich nicht in den Wohnzimmern, sondern in gesonderten Räumen. Nach einer „Ordnungsprobe" in einem Zimmerkasten, die zur Zufriedenheit des Direktors ausfällt, gehen wir hinüber in den ärztlichen Ordinationsraum, an blitzsauberen, modernen Waschräumen vorbei zu den Krankenzimmern. Hier ist nicht viel zu sehen. Die paar Insassen kurieren kleine Erkältungen aus und lesen, was eben Buben zu lesen pflegen: Spannendes, Reise, Forschung. Der kleine Finne (ein schwedisch sprechender Finnländer, mit dem der Direktor zuerst schwedisch spricht), hat in der kurzen Zeit seines bisherigen Aufenthaltes schon gut unsere Sprache gelernt. Er blickt unter seinem hellblonden Haarschopf munter in die Welt und sieht gar nicht mehr krankenzimmermäßig aus. In einem amphitheatralisch angeordneten Unterrichtssaal ist gerade Naturgeschichte an der Reihe. Es wird geprüft, hören wir von den Schülern, umf tfä wollen wir nicht stören. Lange habe ich mich vor den in Vitrinen ausgestellten Arbeiten des Handfertigkeitsunterrichtes aufgehalten. Ich glaube, wer so an den inneren Geist der Arbeit herangeführt wird, gewinnt erst für den Arbeiter die richtige Einstellung. Ein Dünkel der „Studierten" ist hier unmöglich. Uebrigens zahlen 24 Prozent der Kinder nicht den vollen Internatsbeitrag. Von den weiteren Plänen hören wir, daß für die achte Klasse ein theoretischer Fahrkurs erwogen wird (das wird etwas für die Burschen!) und für die Zukunft erscheint uns besonders rühmenswert die Einführung einer dritten Fremdsprache aus dem slawischen Bereich, wahrscheinlich Russi&h. Diese dritte lebende Fremdsprache soll von der sechsten Klasse an beginnen (die erste lebende Fremdsprache wird von der ersten bis zur achten, die zweite von der fünften bis zur achten Klasse geführt). Für den Fall, daß ein Begabter sich für die dritte, also slawische Sprache entscheidet. wird die erste Fremdsprache in den drei letzten Klassen als Heimfach geführt.

IN DIESEM HAUSE haben viele berühmte Männer die Schulbank gedrückt. Ob es nun Radetzky war oder Lueger, und viele Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und des künstlerischen Lebens wuchsen hier auf. wie beispielsweise Denis. Heuer sind es zweihundert Jahre her, daß Michael Denis (oder „Sined“, wie er seinen Namen als Anagramm mit der Beifügung „der Barde“ nannte) hier eintrat. Von Denis stammt die erste metrische Uebersetzung des „Ossian“. Er hat das Theresianum seinen „Parnaß“ genannt. In diesem Hause lernten Anastasius Grün, Feuchtersieben, Pirquet, Sonnenfels, Hamerling und viele andere, deren Namen die österreichische Kulturgeschichte verzeichnet. Wie sehr abeT die Geschichte zur lebendig weiterwirkenden Gegenwart werden kann, wie stark sie die Form mit neuem Geist erfüllen kann, das sieht man am Theresianum mit seinen 20 Zöglingen aus Oesterreich, Ungarn, Frankreich, Finnland, Portugal, England, USA, Ecuador, San Salvador, aus der Türkei, Venezuela, aus dem Iran, aus den Niederlanden, der Schweiz, der IJeutschen Bundesrepublik und Jugoslawien: sechzehn Staaten und elf verschiedene Bekenntnisse. In der Vergangenheit war das Theresianum ein Heim der Nationen. So wirkt die Tradition weiter.

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