6654091-1959_19_08.jpg
Digital In Arbeit

Losung Lavant

Werbung
Werbung
Werbung

AM ANFANG MUSS DAS KINDERLACHEN STEHEN. Mit den Schultaschen, denen die neuzeitliche Aktenmappenmode noch nichts an- haben kann, mit einfachen Ranzen also, steigen die Kinder in Zeltweg am frühen Nachmittag in den Personenzug. Es geht heimzu ins Lavanttal. Der Himmel ist trüb, ein dünner Regen rieselt unerbittlich, die Höhen stecken bis weit ins Tal in Nebelschleiern. Und trotzdem lachen die Kinder, und als der Zug mit seinen drei Wagen zum Obdächer Sattel hinaufkeucht, hebt ein Singen an, pflanzt sich von Bank zu Bank weiter. Kinder kommen und gehen auch weiter unten im Lavanttal, in Wolfsberg, in St. Andrä und in St. Paul. Das sind die Kinder, die vielleicht in einigen Jahren schon das Konvikt des Benediktinerstiftes besuchen werden, dessen Wiedererrichtung im Jahre 1809 stattfand. Aus diesem Grunde wird heuer Mitte Mai anläßlich der 150-Jahr-Feier das Gedenken so manchen alten „St.-Paulers” im Lavanttal einkehren — wenn er sich nicht aus herzlicher Anhänglichkeit gar selbst auf die Bahn setzt und die Fahrt in die Jugendzeit macht.

EIN MITTELPUNKT DER GEISTESBILDUNG ist St. Paul schon in alter Zeit gewesen. Bereits unter dem dritten Abt des Stiftes, unter Wern- her (1138—1159) unterhielt das Stift eine Gelehrtenschule, und wenn man das letzte Jahr des Abtes nimmt, könnte man heuer nicht nur von einer 150-Jahr-Feier, sondern von einem 800-Jahr-Jubiläum reden. Welche Fülle der Gesichte aus der Zeit! Sie spricht zu uns, wenn wir oben in dem wuchtigen Vierkant des Stiftes vor den Archivalien und Codices stehen, wenn mit einem Male die Unruhe der Welt, die wir mitgebracht, von uns fällt und wir staunend und mit Bewunderung erfahren, was benediktinische Kulturarbeit bedeutet Dieses Wirken strahlte, als die Monarchie noch bestand, vor allem weit nach Süden aus. Die Offiziere und Beamten, die unten in Krain. in Slowenien und Kroatien, in Istrien und Dalmatien dienten, schickten gerne ihre Kinder in das günstig gelegene und einen ausgezeichneten Ruf genießende Stiftsgymnasium. Es mag schon so sein, wie ein alter Absolvent des Instituts, der noch jene Jahre erlebte, mir sagte: „Diese Schule war ein Abbild Oesterreichs. Es gab dort keinen engstirnigen Sprachen- streit, der einzige Streit galt dem Wettbewerb des Wissens. Die Burschen wußten, daß sie einmal irgendwo in einem Winkel der Monarchie so ihre Pflicht tun mußten, wie sie der Vater tat.” Rastlose Tätigkeit, kein Müßiggang. Das entsprach ganz dem Ordenselement, das ist aus der Regula abzulesen. Man geht bestimmt nicht zu weit, wenn man sagt, daß die Bildung der St.-Pauler Schülergemeinde einen besonderen Typ der Erziehung darstellte. Der Humanismus - ursprünglich war das Gymnasium rein humanistisch — leuchtete über den Tag und die Zeit hinaus als ein im Innersten vor allen Wechselfällen gefeites Wesen. Später hat man, dem Zug der Bildungsformung folgend, ein Realgymnasium und ein humanistisches Institut geführt urid unter den größten Opfern und der härtesten Selbstentsagung durchgehalten. Die Zahl der Gymnasiasten ist seit 1933. als in St. Paul ein realgymnasialer Zug eröffnet wurde, zurückgegangen, und man kann eigentlich beinahe von einem Realgymnasium mit einem fakultativen humanistischen Klassenzug sprechen. Was diese Umschichtung aber für die Bereitstellung der Lehrkräfte, für die Sorge um die Heranbildung ihres Nachwuchses, für die Dotierung mit entsprechenden Lehrmitteln bedeutet, wird der Fachmann ahnen. Er weiß ja auch, wie wenig Unterstützung solche Bildungszentren von Staats wegen gegenwärtig genießen.

DAS KONVIKT wurde mit dem Gymnasium einige Jahre nach der Neugründung wieder verbunden. 1812 waren vier Professoren an der philosophischen Lehranstalt tätig, und die Männer von St. Paul hatten auch mit der Wiener Universität Verbindung. 1866, als P. Augustin Duda zum Abt des Stiftes gewählt wurde, wandte er seine besondere Aufmerksamkeit der Schule zu, die innerhalb ihrer Lehrerschaft nicht nur ausgezeichnete Pädagogen, sondern auch weithin bekanntgewordene Wissenschafter besaß. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die Historiker Ambros Eichhorn und Trudpert Neugart erinnert. An ihnen hat sich Ankershofen, der Historiograph des Landes, der Begründer der kunstgeschichtlichen Studien in Kärnten, gebildet. Aber auch die jüngere Generation kann mit namhaften Persönlichkeiten der Wissenschaft dienen: etwa mit dem Philologen Dr. Karlmann Flor, mit dem Physiker Karl Robida, mit dem Naturhistoriker Rainer Graf, der ein verständnisvoller Kenner Goethes und der Antike war. P. Beda Schrolls Beiträge zur Geschichte Kärntens sind den Fachleuten wohlbekannt.

AUCH BERÜHMTE NAMEN FEHLEN NICHT, die jedermann mit Bewunderung nennt. Einige von diesen Namen lese ich beim Rundgang durch das Stift sogar von den Stirnbalken der Zimmer, wo die später Berühmten vordem als Zöglinge St. Pauls gewohnt. So der große Orthopäde Professor Dr. Adolf Lorenz, der Komponist Hugo Wolf. Der erstgenannte, dessen englische Ausgabe seines Erinnerungsbuches „Ich durfte helfen” mit einer auch englisch gehaltenen Widmung für das Stift mir in der Bibliothek in die Hand kam, hat Zeit seines Lebens mit Dank an dieses Haus zurückgedacht. Die Ausgestaltung des Stiftsuntergymnasiums zu einem vollständigen Obergymnasium führte zu einer beträchtlichen Frequenzsteigerung. Man mußte deshalb das „Josefinum” erheblich vergrößern und der Innenausstattung in jeder Hinsicht ein modernes Gesicht geben. Dazu gehörte natürlich ein Schwimmbad, das im Winter geheizt werden konnte, gehörten Zentralheizung, Kinovorführungsgeräte, ein Krankenisolierungstrakt und — wie denn anders in unserer Zeit — Sportanlagen. Auf dem Fußballplatz betätigte ich mich im Vorübergehen unter großem Hallo als Ankicker.

DER RUNDGANG FÜHRTE WEITER durch Schlafsäle, Aufenthaltsräume und Studierzimmer, von einem Stockwerk ins nächste. Zwei „Kastenproben”, die der Professor machte, der mir den Weg zeigte, Hätten auch den gestrengsten Korporal einer Kaserne keinen Grund zur Klagė’ge- geben. Aber, da nun das Wort „Kaserne” fällt: es gibt Menschen, die sich eine Unterrichtsanstalt, und gar ein Konvikt, auch heute als eine Art von Kaserne vorstellen. Diesen Leuten ist ein Besuch von St. Paul zu empfehlen. Ich will nicht reden von den Wagen, die vor dem .Konvikt standen. Das ist kein Maßstab, auch Bundesheerrekruten sind mit dem Wagen eingerückt. Aber wie es im Verkehr von Schüler zu Schüler — es war gerade Sonntag, also Grund genug zu ungebundener Laune — und im Gespräch vom Lehrer zum Schüler und umgekehrt zugeht, das war hörenswert. Der mich führende Professor erkundigte sich genau, welches Kinostück an diesem Sonntag gespielt werde — die Schüler hatten sich bereits adrett gekleidet zum Fortgehen’beYekgemacht — und auf die Angabe des Stücknamens folgte die ungezwungene heilere Aufforderung: „Das ist ein lustiges Stück, Herr Professor, das sollten Sie sich auch an sehen!” Das alles kam nicht vorwitzig, nicht vorlaut heraus, nein, das klang wie der Teil einer Familienunterhaltung. Und die Aufforderung zum Kinobesuch wurde denn auch mit Schmunzeln — wenn schon ohne Zusage — quittiert. An mich richteten die Burschen das Wort allerdings nicht. Ich war ihnen nicht geheuer, obschon ich gewiß nicht das Aussehen eines Landesschulinspektors habe.

ES IST EIN ALTES LIED, das Lied von den Sorgen unserer Bildungsanstalten. Auch St. Paul hat seine Sorgen. Der Bundesminister für Unterricht, der hier vor einiger Zeit weilte, kennt sie, und es ist bei seiner Aufgeschlossenheit in solchen Fragen und bei seiner nie erlahmenden Initiative zu hoffen, daß St. Paul nicht aus dem Bannkreis der Aufmerksamkeit des Unterrichtsministeriums weicht. Eine wirkliche, fühlbare Entlastung freilich wird erst eine durchgreifende Neuordnung des Schulwesens mit sich bringen. Aber es muß schon heute mit Bedenken auf den Plan verwiesen werden, in Wolfsberg ein Gymnasium einzurichten. Gewiß, Wolfsberg ist ein schulischer Hauptort, drei FLauptschulen sind dort, es gibt landwirtschaftliche und gewerbliche Berufsschulen. Man sollte aber bei allem Planen die Bildungstradition nicht vergessen, ganz abgesehen davon, daß wir in Oesterreich beileibe nicht das Gel,d so dick haben, um 17 Bahnkilometer von St. Paul entfernt eine neue Mittelschule zu errichten. Es kommt nicht darauf an, ob Gewerbetreibende zu dem, was sie verdienen, noch etwas an einer neuen Schule verdienen, sondern darauf, welches Gesicht und welche Lieberlieferung ein Institut trägt. Manch anderes Tal, gesegneter Erde voll wie die Sonnenlandschaft der Lavant, würde sich glücklich schätzen, besäße sie ein solches Vaterhaus des Geistes wie St. Paul.

MAN KOMMT DARAUF, wenn man an Brennpunkten geistiger Entwicklung atmet wie in St. Paul, wie kurz ein Tag, wie unzureichend zwei Tage sind, um alles in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Soll man von der Bibliothek sprechen, von den herrlichen Buchmalereien, von dem Buchdeckel, mit Elfenbeinrelief aus der Zeit um 900 — so etwas greifbar vor sich zu haben, tragen zu dürfen, umwenden zu dürfen —, das gibt unauslöschbare Erinnerung. Soll man sprechen von dem romanischen Münster, von den Fresken Pachers in der Vierung des Gewölbes, von den Wandgemälden der Romantik, von der alten Schreiberschule, von den Archivalien? Soll man die dankbaren Worte des Holzarbeiters wiedergeben, der mir von seinem Haus erzählt, das auf Stiftsgrund entstand? Hundert solcher Heimstätten (bei einem Quadratmeterpreis von fünf Schilling für den Grund) sind aus Stiftsbesitz vergeben worden! „Wir sind, auch als die Fremden mit Gewehren und Kanonen kamen, immer sicher gewesen”, sagte mir der Mann vor dem Bahnhof. „Dort oben” - und er deutete nach der Richtung, wo die Türme von St. Paul in der durchbrechenden Sonne aufglänzten —, „dort ist unsere Festung. Wir schützen sie, sie schützt uns.”

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung