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Niederösterreichische Problematik

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Die Vielfalt unseres Bodens ist unser Reichtum und unser Verhängnis. Man müßte viel Zeit aufwenden — wer hätte sie? —, um die eigentümliche Atmosphäre jeder unserer Landschaften tief und nachhaltig an sich zu erfahren. Es wird deshalb schwerlich jemals den niederösterreichischen Dichter geben. Immer wird man von einem Sänger der Waldmark, von einem Gestalter der Donaulandscbaft, von einem Dichter des Alpenvorlandes sprechen. Immer wird deshalb auch die Wirkung niederösterreichischer Heimatdichtung auf einzelne Teile Niederösterreichs begrenzt sein. Stelzhamer ist der Oberösterreicher, Reimmichl der Tiroler, Rosegger der Steirer. Niemals wird von einem Niederösterreicher Gleiches gesagt werden können. Nieht einmal dann, wenn dieser — die unwahrscheinliche Möglichkeit vorausgesetzt — sein Leben vorsätzlich mit jeder unserer Landschaften eine Zeitlang zu verschmelzen suchte und dann ein Buch schriebe, in dem alle unsere Räume mit der ihnen eigenen Seele und Gestalt zu Wort kämep. Der niederösterreichische Leser würde auch ein solches Buch nur auf jenen Strecken alls wahrhaftes Heimatbuch empfinden, auf denen er mit den angesprochenen Landschaften persönlich vertraut ist. Noch weniger als dem einen utopischen Dichter ist es den Tausenden niederösterreichischer Leser möglich, in jeder Landschaft jene Zeit zu verweilen, die man braucht, um Offenbares und Unwägbares eines Raumes wahrhaft zu erkennen und zu empfinden. Es wird nur wenigen Landsleuten möglich sein, alle unsere Landschaften wenigstens flüchtig zu berühren.

Wären die einzelnen geographischen Teile von einer bestimmten Größe, würde das bisher Gesagte nur im Ideellen oder überhaupt nicht schmerzhaft sein. So aber ist unsere vielfältige Gliederung ein Problem, ein ernstes Problem der wirtsdiaftüthen und damit vielleicht auch der ursprünglich geistigen Buchproduktion. Die Eigentümlichkeit unseres Heimatlandes ist für das Heimatschrifttum eine ernste Absatzfrage. Obendrein besitzen wir keinen Landesverlag wie Steiermark, Kärnten oder Tirol. Dazu kommt die besondere Hemmung des Mundartschrifttums durch seine noch kleineren Geltungsbereiche.

Eine Anfrage bei Rečiam, ob nicht dort Missons „Naz“ herausgebracht werden könnte, erfuhr die Beantwortung, das geringe Verbreitungsgebiet der Ui-Mundart ermögliche nicht jene Kalkulation, auf der die billigen Bändchen des Verlages basieren. Die Schrift sei typische Aufgabe eines niederösterreichischen Landesverlages.

Besonders wesentlich für unsere eigenartige Lage ist unser Verhältnis zu Wien. Es ist kein Zufall, daß man zur kaiserlichen Zeit in manchen Bezirken unseres Landes neben Schwarzgelb nichts anderes hißte als Rotweiß, die Fahne der großen, glanzvollen Stadt, der etwas entgegenzustellen sich der ehrfürchtige Nachbar nicht vermessen wollte. Allerdings war Wien damals noch unsere Landeshauptstadt. Gleichwohl empfanden wir uns dem Staatswillen von jeher so sehr verschmolzen, daß wir zum Hauptträger gesamt- österreichischen Denkens wurden und fast kein Landesbewußtsein entwickelten. Das seltsame Ende dieses Werdeganges ist der viel zu oberflächlich betrachtete Umstand, daß wir heute ein Bundesland ohne Hauptstadt sind. Selbst bei der Namensgebung seinerzeit kamen wir gewissermaßen zu kurz. Tirol, Kärnten, Salzburg, Steiermark, das sind eigenständige, klangstarke Bilder. Niederösterreich ist eine geographische Bestandsaufnahme, deren eine Grundlage von einem nüchternen physikalischen Begriff, der Seehöhe, gebildet wird. Jedoch: wir tragen auch im Namen Österreich, und dieser Schild ist so ehrenreich wie zwischen burgenländischem Seewinkel und Schwäbischem Meer nichts anderes. Doch zählt er fünf Silben, und diese lassen sich im Vers nicht sehr zweckvoll gebrauchen, und der Reim, den ihr Endklang auf Grund der unzähligen Gedichte auf Österreich magnetisch an sich zieht, fällt jedem Schulkind ein. Es gehört grundsätzlich hieher, daß wir — gleichfalls im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern — keine Landeshymne besitzen.

So haben uns, weil wir Wien räumlich und ideell am nächsten waren und sind, Stadt und Staat nahezu aufgesogen. Wir brachten uns der unentbehrlichen Stärke einer oftmals bedrohten Gesamtheit zum Opfer. Viel strömt uns dafür aus Wien zurück. Aber noch mehr geht uns verloren.

Peter Rosegger lebte in Graz. Er gilt als steirischer Dichter. Schönherr lebte in Innsbruck und Wien. Er gilt als Tiroler Dichter. Zernatto hätte sein halbes Leben lang in Amerika verbringen können, er würde als Kärntner Dichter in die Literatur eingegangen sein. Unabhängig aber davon, wohin ihn die Wissenschaft zählt, würden ihn seine Landsleute immer als den ihren beanspruchen und verkünden. Wer aber als Schriftsteller, Komponist, Bildhauer, Maler oder Arzt von Niederösterreich nach Wien geht, gilt der Welt, den Wienern und uns Niederösterreichem als Wiener oder als Österreicher.

Fällt der Name Ferdinand Schimbeck, assoziieren sich damit im Hörenden Südamerika und das halbe übrige Ausland. Groß ist auch mitten im Weinland das Erstaunen, wird mitgeteilt, daß Schirnbeck gebürtiger Hollabrunner ist. Ähnlich ergeht es uns mit dem Sdiönborner Literarhistoriker Scherer. Daß der niederösterreichische Literat Paul Rebhuhn, in Wittenberg Hausgenosse Me- lanchthons und Luthers, vermutlich zu Waidhofen an der Thaya geboren ist, weiß wohl auch nicht jeder gebildete Waldviertler.

Der zweite Bedränger Niederösterreichs ist das Alpenland. Der Berg wirkt auf uns alle mit magnetischer Gewalt. Selten oder nie wird sich der alpenländische Autor niederösterreichische Stoffe aus Ebene oder Hügelland wählen. Aber zahlreiche niederösterreichische Dichter gestalten geschichtliche oder landschaftliche Motive des Alpenlandes. Touristik, Bergwandern, Vortragsreisen, Kuraufenthalt, Badestrand bringen Beziehung und Vorwurf.

Daß der niederösterreichisch Schriftsteller vor allem auch dem geographischen und geschichtlichen Phänomen Wien verfallen ist, liegt gebieterisch in den besprochenen natürlichen Voraussetzungen.

Rudolf Heinz verteilt sich stofflich auf Weinland, Donau, Wien, Kärnten und Tirol. Theodor Kramers Lyrik gestaltet Weinland, Stadtrand, Stadt, Burgenland und jüngste osteuropäische Stoffe. Maria Grenggs Bücher führen uns über Niederösterreich, Wien, Nordböhmen, Steiermark, Burgenland, Südtirol, Dalmatien, Serbien ins Donaudelta und nach Rußland. Wir erkennen an dieser flüchtigen, bloß sinnbildlichen Aufzählung zwar mit Genugtuung, wie stark das Gesamt- österreichische, fast Europäische unseres Schicksalsraumes im schöpferischen Niederösterreicher durchbricht und ausschwingt, trotzdem aber tut es uns fast leid, daß unser eigener Boden diese außerordentlich fruchtbaren Kräfte nicht in einem noch höheren Maß aufgefordert hat. Zur Hälfte sind alle diese Erscheinungen natürliche Ergebnisse und kaum zu ändern. Zur anderen Hälfte wäre vieles gestaltbar. Tragende Kulturinstitutionen und eine ausreichend auf das Land eingestellte Presse müßten das reiche kulturschöpferische Feld Niederösterreichs erkennen und planvoll den Nieder- Bsterreichern nahebringen. Unsere derzeitigen

Tageszeitungen sind zu stark von Wien bestimmt. Der sehr verdienstliche Verein für Landeskunde müßte Gelegenheit erhalten, konkrete Ausstrahlungen seiner Arbeit bis in das letzte Dorf zu lenken. Eine in bestimmten Abständen wiederkehrende „Niederösterreichische Kultur- und Bücherschau" und Ausstellungen niederösterreichischer Maler, Graphiker, Bildhauer und Architekten würden eine zweckvolle Wirkung üben. Solche Veranstaltungen hätten Wien und alle größeren Städte des Landes zu passieren. Nach Fertigstellung der angestrebten Bezirksheimatkunden würde ein äußerst dankbares Thema zu erarbeiten sein: welche Männer und Frauen gab Niederösterreich unserer Literatur, Musik, Malerei, Plastik, Heilkunde und Staatskunst? Da würden sich für viele staunenswerte Beziehungen ergeben. Die Bezirksheimatbücher wären dazu die geeignetsten Quellen. Dann aber hätte in allen Schulen die praktische Verwertung einzusetzen, und im Erdkundeunterricht müßte ebenso wie die Nebenf lüsse der Donau gefragt und bekannt sein, daß Rafael Donner in Eßlingen geboten wurde und Anton Wildgans in Mödling lebte und starb. Auch das Programm unserer Lehrausflüge müßte überprüft werden. Was würden die Tiroler oder Salzburger aus der uns in einem unwahrscheinlichen Ausmaß bewahrten Antike Carnuntum machen? Müßten nicht unsere Schulen vor Eisenerz,. Salzkammergut und Salzburg nach Deutsch-Altenburg fahren? Derzeit ist Lehrkräften, Schülern, Eltern und allen Niederösterreicheni Innsbruck als Zielort weitaus vertrauter.

Die Tätigkeit der niederösterreichischen Volks-, Haupt- und Mittelschulen wäre überhaupt bedeutungsvoll.

Was heute Landschulerneuerung heißt, hieß im alten Lehrplan von 1929 schlicht „Bodenständigkeit", In diesem Gestaltungsprinzip wäre — von letzten technischen Erneuerungen und Erfahrungen abgesehen — schon alles eingeschlossen gewesen, was heute mit verstärkter Energie neuerdings angestrebt wird. Aber es dauert lang, bis etwas von Wien nach Neudorf kommt. Die Mittel-, Haupt- und Volksschullehrer hätten für die Selbstbesinnung der Niederösterreicher viele Hebel in Händen. Man müßte sie bloß gebrauchen. Gestellter Arbeitsplan und manifestierte Arbeitsmethode bedeuten wenig. Die letzte Entscheidung liegt, wie in allem, beim Menschen, bei der einzelnen Lehrkraft, bei der Aufnahmewilligkeit des Elternhauses und — falls die Lehrkräfte auch in außerschulischen Gemeinschaften arbeiten — bei der Aufnahmcwilligkeit von Kleinstadt, Markt und Dorf.

Wichtige Aufgaben fielen allen Autoritäten zu. Priester, Juristen, Ärzte, Tierärzte könnten gleichfalls auf die Wahrnehmung bodengewachsener Kulturpflege stärksten Einfluß nehmen. Für einen Beamten der Bezirkshauptmannschaft ist es vorteilhaft, wenn er von seinem Verwaltungsbezirk auch Dinge kennt, die außer seiner administrativen Tätigkeit liegen. Bürgermeister und Gemeinde sollten von sich aus für kulturelle Bestrebungen empfänglich sein. Der Abgeordnete, in nahe Verbindung zur Stadt gekommen, müßte gerade deswegen eine sorgfältig auf das Dorf abgestimmte Haltung einnehmen. Ein Vertreter der Landesbehörde weist sich gewinnend aus, wenn er, zu einer Veranstaltung eingeladen, schon vor der Stunde seines Eintreffens über Landschaft, Geschichte und Volkstum des betreffenden Gebietes im wesentlichen orientiert ist. Jeder Niederösterreicher aber müßte 6ich über die einfachsten landesbürgerlichen Grundwahrheiten im klaren sein. Man kann sich nicht vor stellen, daß es einen Tiroler Buben geben könnte, der nicht wüßte, daß der rote Adler sein Adler ist. Wollten wir aber einmal alle Niederösterreicher vom zwölften Lebensjahr aufwärts um ihr Landeswappen und ihre Landesfarben fragen — Ortsmandatare und andere Würdenträger inbegriffen —, würden wir einen erheblichen Teil unserer Gesamtbevölkerung in merkliche Verlegenheit bringen.

Größte Bedeutung käme den in Wien lebenden Landsleuten zu. Jeder von ihnen müßte sich als anonymer Attache seines Heimatlandes fühlen und sogleich aktiv hervortreten, wenn eine konkrete Aufgabe vor-

läge, und wäre diese noch so unscheinbar. Vortragsabende, Konzerte, Buchersdieinungen, Radiosendungen, Volkskunstabende, veranstaltet oder mitveranstaltet von Niederösterreichern, müßten von diesen Kreisen beflissen beachtet und gefördert werden.

Eine entscheidende Haltung fiele natürlich unserer Landeshauptmannschaft zu.

Im bewußten Zusammenwirken von Gemeinschaft, Institutionen und Persönlichkeit müßte sidi die Selbstverleugnung Niederösterreichs begrenzen lassen.

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