6679093-1961_35_18.jpg
Digital In Arbeit

Niederösterreichische Probleme

Werbung
Werbung
Werbung

Die niederästerreichische Landesausstellung in Krems an der Donau gibt alle zwei Jahre einen Überblick über die wirtschaftliche Situation des Landes. Dadurch wurden die Landesausstellungen seit dem Jahre 1948 — damals wurde die erste Ausstellung nach dem zweiten Weltkrieg veranstaltet — zu einem untrüglichen Barometer der jeweiligen Wirtschaftssituation.

Die Landesausstellung zeigte nicht nur den wirtschaftlichen Aufstieg, den unser Land trotz aller Schwierigkeiten nehmen konnte, sondern auch die Probleme, mit denen wir fertig werden müssen.

Niederösterreich ist mit seinen 19.170 Quadratkilometern flächenmäßig das größte Bundesland des österreichischen Bundesstaates. Nach der Bevölkerungszahl rangiert es mit 1,372.962 Einwohnern knapp hinter Wien. Das Land Niederösterreich war in den letzten Wochen des zweiten Weltkrieges Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen der Roten Armee, die von Ungarn aus der Donau entlang vorstieß, und den deutschen Truppen. In den 1027 Gemeindefriedhöfen Niederösterreichs haben mehr als 60.000 Opfer der beiden Weltkriege ihre Gräber gefunden. Dabei handelt es sich im überwiegenden Prozentsatz um Gefallene der letzten Wochen des zweiten Weltkrieges.

71 Prozent aller Kriegsschäden an österreichischen Industrieanlagen mußten in Niederösterreich registriert werden; 678 Brücken wurden in unserem Lande von der Wehrmacht auf ihrem Rückzug zerstört. Von den insgesamt 12.600 Bauernhöfen, die in der Republik Österreich während des Krieges vernichtet oder stark beschädigt wurden, befanden sich 11.680 in Niederösterreich. Die Stadt Wiener Neustadt, ein Zentrum der Flugzeugindustrie der deutschen

Wehrmacht, war wiederholt das Ziel massierter Bombenangriffe. Die Stadt rangierte in der traurigen Statistik der am meisten zerstörten Städte der Welt hinter Hiroshima, Nagasaki und einigen deutschen und englischen Industriestädten an siebenter Stelle.

Rechnet man alle Kriegsschäden im ganzen Bundesgebiet zusammen, so entfallen 32,3 Prozent der registrierten Schadenssumme auf die vier Viertel Niederösterreichs. Dabei ist zu bedenken, daß die Voraussetzungen für den Wiederaufbau in den einzelnen Besatzungszonen, ähnlich wie in Deutschland, auch in Österreich grundlegend verschieden waren. Alle Fabriken, die als deutsches Eigentum galten, wurden sofort von der Besatzungsmacht beschlagnahmt. In vielen modernen Anlagen wurden die Maschinen verschleppt. Andere Fabrikgelände, beispielsweise in Wiener Neustadt oder im Randgebiet von Wien, wurden bereits von der Deutschen Wehrmacht auf ihrem Rückzug radikal zerstört. Handel und Gewerbe Niederösterreichs hatten ihre Absatzgebiete in Südosteuropa verloren und mußten sich rasch umstellen.

Es fehlte in den Nachkriegsjahren — und das war die große politische Gefahr für ganz Österreich — nicht an Versuchen, die Demarkationslinie an der Enns nicht nur zu einer Trennungslinie in der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch zu einer unüberwindlichen politischen Barriere zu machen. Das heißt, bis zum Abschluß des Staatsvertrages bestand je nach der Situation manchmal mehr, manchmal weniger die Gefahr, daß sich der Eiserne Vorhang von der österreichischen Ostgrenze an die niederösterreichische Westgrenze, an die Enns, verschieben könnte.

Während man in den westlichen Bundes ländern unmittelbar nach dem Waffenstillstand zum friedlichen Aufbau der Wirtschaft übergehen konnte, mußte man in Niederösterreich durch Jahre mit allen Kräften an der Beseiti-

gung der Kriegsschäden arbeiten. Dabei erhiel- gebiete so ausgebaut werden kann, daß sie für ten die Niederösterreicher aus dem Ausland industrielle Neugründungen bzw. für die Ver- kaum nennenswerte Hilfe. Die Spannungen des größerung bereits bestehender Betriebe einen kalten Krieges bewirkten, daß die Amerikaner Anreiz bieten konnte. Das war auch der Grund, mit der Zuteilung von Krediten und Beihilfen warum man sehr früh daranging, die Wasser-

aus dem Marshall-Plan für russisch besetzte Gebiete sehr sparsam waren.

Es war schon in den ersten Nachkriegsjahren klar, daß Niederösterreich in seinem Kampf um den wirtschaftlichen Anschluß an die Entwicklung in den westlichen Bundesländern nur dann erfolgreich bestehen kann, wenn die Energieversorgung der niederösterreichischen Industrie-

kräfte im Lande Niederösterreich der Energiewirtschaft nutzbar zu machen. Das Ziel dabei war, Niederösterreich in der Energieversorgung möglichst autark zu machen. Ohne ausländische Hilfe und ohne jegliche Unterstützung durch den Bund wurden am Kamp drei große Speicherwerke gebaut, die für die niederösterreichische Energiewirtschaft eine fühlbare Entlastung brachten. Seit 1945 wurden in Niederösterreich rund 200.000 Haushalte an das Stromnetz angeschlossen. 1100 Ortsgemeinden, Rotten und Weiler erhielten Licht- und Kraftstrom. Zum erstenmal in der Geschichte der niederösterreichischen Energiewirtschaft betrug die Stromlieferung durch die Landesgesellschaft im Jahre 1960 mehr als eine Milliarde Kilowattstunden. 1957 wurde im Kanzleramt ein Erdgasvertrag unterzeichnet, der dem Land Niederösterreich einen Anteil an seinen Bodenschätzen garantiert. Nach einer imposanten Arbeitsleistung stehen heute rund 900 Kilometer Erdgasleitungen in Niederösterreich zur Verfügung. Fast hundert Großbetriebe sind an das Leitungsnetz bereits angeschlossen. Zirka 30.000 Haushalte werden von der NIOGAS versorgt. In jenen Städten, wo die veralteten Gaswerke von der Landesgesellschaft übernommen wurden, konnten die Preise bis zu 50 Prozent gesenkt werden.

Ein besonderes Problem stellt in Niederösterreich das Straßenwesen dar. Das Land verfügt über ein Gesamtstraßennetz von 13.682 Kilometer. Davon sind nur 3048 Kilometer Bundesstraßen. Der großzügige Ausbau dieses riesigen Straßennetzes kann nur schrittweise erfolgen. Besonderes Hauptgewicht wird auf die Staubfreimachung der wichtigsten Straßenzüge gelegt. Im vergangenen Jahr wurde auf den niederösterreichischen Straßen an rund tausend Baustellen gearbeitet. Das stellt den absoluten Rekord in der Geschichte des niederösterreichischen Stra ßenbaues schlechthin dar. Alle 678 Brücken, die in den letzten Wochen des Krieges vernichtet wurden, sind längst wiederaufgebaut. Daneben wurden 120 Brücken im Zuge von Straßenverlegungen neugebaut. Die Zahl der Autobahnbrücken ist in diesen Zahlen nicht inbegriffen. Durch die riesigen Kriegszerstörungen und durch die radikale Demontage wertvoller Maschinen sowie durch die grundlegende Verlagerung der Exportchancen durch das Bestehen des Eisernen Vorhanges litten besonders einige Landesteile von Niederösterreich, die seit 1945 als ausgesprochene Notstandsgebiete um ihre Existenz ringen.

Das Land, der Bund und auch private Erschließungsvereine bemühen sich redlich, den niederösterreichischen Notstandsgebieten wiedei: auf die Beine zu helfen. Es ist seit dem Abzug der Besatzungsmacht auch in einigen Fällen gelungen, industrielle Neugründungen zu erreichen.

Die Kriegszerstörungen an Wohnhäusern und die Beanspruchung zahlreicher Wohneinheiten durch die Besatzungsmacht hatten unmittelbar nach dem Krieg eine erschreckende Wohnungsnot zur Folge. Das Land war bemüht, durch Förderungsaktionen den Wohnungsbau entsprechend zu forcieren. Man findet heute kein einziges niederösterreichisches Dorf, an dessen Peripherie in den vergangenen Jahren nicht eine ganze Anzahl stattlicher neuer Wohnhäuser, meistens handelt es sich um schöne Einfamilienhäuser, entstanden wären. Niederösterreich war das erste Bundesland, das unabhängig vom Bunde und ohne Hilfe der Zentralstellen schon sehr früh eine Wohnbauförderung einführte. Die Landeswohnbauförderungsaktion lief 1949 an. Bisher wurden in Niederösterreich mit Hilfe der verschiedenen Wohnbauförderungsaktionen mehr als 46.000 Wohnungen gebaut. Dazu wurde mehr als eine Milliarde Schilling zur Verfügung gestellt.

Besonders augenfällig zeigt die Entwicklung des Schulwesens die Bemühungen des Landes Niederösterreich, moderne und zweckmäßige Wege zu gehen. 1949 wurde vom Landtag ein Schulbaufondsgesetz verabschiedet, das den Schulbau und die Modernisierung alter Schulgebäude zur Gemeinschaftsarbeit des Landes und der niederösterreichischen Gemeinden machte. Seither wurden 218 lieue Schulen und Kindergärten gebaut: das sind um 200 mehr als in der Zeit der Ersten Republik.

Trotz der Bedeutung der niederösterreichischen Industriegebiete ist das Land seit jeher der wichtigste Produzent landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Das Bundesland Niederösterreich hat schon nach 1918 und auch nach 1945 trotz der Demarkationslinie ganz wesentlich dazu beigetragen, den Hunger in Österreich zu bezwingen.

Es ist klar, daß in einem Bauernland dem Ausbau der landwirtschaftlichen Einrichtungen ganz besonderes Augenmerk zugewendet wird. Dies gilt vor allem in einer Zeit, in der die Technisierung und Mechanisierung auch im letzten Bauernhof Eingang gefunden hat. Im Jahre 1945 gab es zum Beispiel in ganz Niederösterreich nur 223 Traktoren und Zugmaschinen. Diese Zahl zeigt, in welch erschreckendem Ausmaß damals Maschinen und Fahrzeuge verschleppt worden waren. Heute sind es mehr als 40.000. Ähnlich liegen die Verhältnisse auch bei den Mähdreschern und anderen landwirtschaftlichen Maschinen. Bei kulturtechnischen Maßnahmen wurde in den vergangenen fünfzehn Jahren — richtig konnte mit den Arbeiten ja erst 1947 oder 1948, als wieder genügend Materialien zur Verfügung standen, begonnen werden — mehr erreicht, als vorher von drei Generationen geleistet wurde.

Einen wesentlichen Beitrag zur Produktionssteigerung und zur Rationalisierung der Betriebe leisten auch die bäuerlichen Fach- und Fortbildungsschulen, die im Lande großzügig ausgebaut wurden. Seit 1954 besteht in Niederösterreich für die in der Landwirtschaft beschäftigte Jugend die Fortbildungsschulpflicht. Die Vielfalt der niederösterreichischen Landschaft prädestiniert das Land auch für den modernen Fremdenverkehr. Vor 1938 wurden in Niederösterreich unter allen neun österreichischen Bundesländern die meisten Fremdenüber nachtungen gezählt. Die größte Frequenz in der Zwischenkriegszeit brachte das Jahr 1937 mit 5,4 Millionen Übernachtungen. Elf Jahre später, im Jahre 1948, waren es nur noch 1,8 Millionen Fremdenübernachtungen. Auch ein Vergleich dieser beiden Frequenzzahlen zeigt den ungeheuren wirtschaftlichen Schaden auf, den das Land durch die Besatzungszeit in Kauf nehmen mußte. Trotzdem ist es gelungen, im vergangenen Jahr bei den Fremdenübernachtungen wieder die Viermillionengrenze zu überschreiten. Besonders zugenommen hat seit dem Abzug der Besatzungstruppen auch in Niederösterreich der Besuch der Ausländer. Um den niederösterreichischen Fremdenverkehrsbetrieben die Möglichkeit zu geben, rasch den Anschluß an die internationale Entwicklung zu finden, hat das Land eine großzügige Kreditaktion in die Wege geleitet. Bisher wurden vom Land 200 Millionen Schilling für den modernen Ausbau von Gaststätten und anderen Fremdenverkehrseinrichtungen bereit- gestellt. Rund 20 Prozent der 8000 niederösterreichischen Fremdenverkehrsbetriebe haben diese Kreditaktion in Anspruch genommen.

Nach 1945 war Niederösterreich, bedingt durch die Besatzungsverhältnisse, in jeder Hinsicht das Stiefkind unter den neun österreichischen Bundesländern. Die Landesverwaltung hat sich bemüht, hier Wandel zu schaffen. Vor allem seit dem Abzug der Besatzungsmacht ist manches gelungen. Niederösterreich ist auf dem besten Wege, wirtschaftlich wieder jene Stellung zu erarbeiten, die ihm als dem größten Bundesland auf Grund seiner geographischen Lage und seiner historischen Bedeutung zukommt

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung