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Los von Wien

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Bis zum Jahr 1934 hat die Bevölkerung in allen österreichischen Bundesländern zugenommen; in den westlichen und südlichen Bundesländern hat diese Bevölkerungsvermehrung auch nachher bis in die sechziger Jahre angedauert; in Niederösterreich, im Burgenland und in Wien nahm die Bevölkerung ab. Hier haben die Autarkiebestrebungen der Nachfolgestaaten eingespielte Wirtschaftsbeziehungen am schwerste»! getroffen; hier war die Geißel der zwanziger und dreißiger Jahre, die Massenarbeitslosigkeit, am drückendsten spürbar; und hier wurde der österreichische Bürgerkrieg in den dreißiger Jahren mit der größten Entschiedenheit und unter den schwersten Opfern ausgetragen. Es gehört zu den Treppenwitzen einer legendären österreichischen Geschichtsauffassung zu sagen, die Wiener seien weich, unentschieden und zu keinen Opfern bereit. Wer das sagt, hat die Bitternisse und die opferreiche»! Tage der zwanziger und dreißiger Jahre in dieser Stadt nicht erlebt oder ihre Geschichte nicht zur Kenntnis genommen.

Die nächste tiefe Kerbe schlug Adolf Hitler. Er war vorsätzlich darauf aus gewesen, den Vorrang Wiens zu diskriminieren. In den Tischgesprächen, die er 1941 42 im Führerhauptquartier gehalten hat, verlautete er um den 9. September 1941: „Für den Bereich der Ostmark war es das Richtige, den Zentralstaat auf Kosten von Wien zu zerschlagen und die Kronländer (das heißt die Bundesländer) wieder herzustellen. Mit einem Schlage ist damit eine Unzahl von Reibu»igsflä- chen verschwunden: jeder der Gaue ist glücklich, sein eigener Herr zt sein.“ In diesem Sinne wurde die Ersatzbezeichnung „Ostmark“ von Amts wegen unterdrückt; an Stelle der neuen Länder entstanden sieben Reichsgaue, die, von Wien gänzlich losgelöst, staatlich auf Berlin, parteilich auf München und wirtschaftlich auf irgendwelche Zentren außerhalb der „Alpen- und Donaugaue“ orientiert waren. Die kriegsbedftigte Dezentralisierung der Industrie und insbesondere die Neuansiedlung der Kriegsindustrie, ließ außerhalb Wiens neue Ballungszentren entstehen. Wien sollte unter der Unzulänglichkeit Baldur von Schirachs so etwas wie ein Musentempel im Dritten Reich werden. Auch dazu ist es nicht gekommen.

Die Besatzungsära hat die Segmentierung Österreichs und die Loslösung der Bundesländer von der Bundeshauptstadt verstärkt. Da gab es nicht »lur den Eisernen Vorhang zwischen Ost- und Westösterreich; es gab vor allem westalliierte Zonen, in denen sich die alliierten Militärbehörden und die österreichischen Landesbehörden etwas darauf zugute hielten, nicht zu sehr unter den Einfluß der Stadt hinter dem Eisernen Vorhang zu geraten. Ich erinnere mich: es war die Zeit, in der sich die österreichischen Nobelpreisträger weigerten, aus den Vereinigten Staaten nach Österreich zurückzukehren, und in der es oft nur nach Überwindung großer Widerstände möglich war, einen Hochschullehrer aus einer westalliierten Zone an eine Wiener Hochschule zu berufen. Die Aktivität nach dem Marshallplan machte an der Grenze der sowjetischen Besatzungszone halt; ähnlich ging es später mit dem ERP; und die Sperre der Ostgrenzen verschlechterte zusammen mit der Enteignung des sogenannten Deutschen Eigentums in der Ostzone die prekären Zustände in u»id um Wien.

In dieser Zeit wurden im Osten unseres Landes mehr und mehr die Folgen jenes Mahlstromes spürbar, dessen Fließen mit dem Abströmen der Bombenflüchtlinge nach dem Westen begonnen hatte; diesen Flüchtlingen waren jene gefolgt, die nicht das Einrücken der Roten Armee in Österreich und den Landkrieg auf dem Boden unserer Heimat mitmachen wollten; und zuletzt die große Zahl derer, de»ien das politische Klima in Westösterreich nach 1945 milder und bekömmlicher zu sein schien.

Es vollzog sich eine stets wiederholte Auslaugung der intellektuellen Kapazität der alten Hauptstadt: nach 1918 verließen zehntausende Führungskräfte des bisherigen Großreiches die Hauptstadt, um in ihre Heimat in den Nachfolgestaaten zurückzukehren; 1934 begann die politische Emigration; nach 1938 erfuhr diese ihre höchste Steigerung, und dazu kam die physische Ausrottung Zehntausender; nach 1945 wurde diese Kontraselektion fortgesetzt: denn bei Umstürzen und Umbrüchen akkommodiiert sich das. Mittelmaß; alles, was hervorragt, gerät u»iter die Räder.

Umfahrungsraum Wien

Von der Höhe des Leopoldsberges aus kann man noch heute das perfekte Eisenbahnsystem Alt-Österreichs wahrnehmen, das auf die Reichshaupt- und Residenzstadt zugeordnet gewesen ist. Würde man, von der Höhe des Berges herabsteigend, in der Stadt die Kopfbahnhöfe dieser Eisenbahnlinien suchen, dann würde man feststellen, daß es den Ostbahnhof, von dem einst der legendäre Orientexpreß abgegangen ist, nicht mehr gibt; daß der Nordbahnhof vo»i der Erdoberfläche verschwunden ist; daß es keinen Nordwestbahnhof mehr gibt; und daß auch der Franz-Josefs-Bahnhof von der Demolierung bedroht ist. Daß die heutige Bundeshauptstadt nur noch einen Südbahnhof und einen Westbahnhof besitzt, läßt den Wiener jene Amputationsschmerzen ungleich stärker empfinden, die seine Väter schon nach 1918 schmerzlich genug gespürt haben.

Hier unterlag nicht die Schiene dem modernen Verkehrsmittel. Auch das gedachte System der Europastraßen e»ithält Risken, die für Wien gefährlich sind. Man spricht davon, daß Ausbauten in Nachbarländern die Gefahr einer Umfahrung Österreichs und vor allem Wiens, und damit neue Verluste an Kontakten zur Folge haben konnte, so etwa, wenn aus der Bundesrepublik Deutschland neue West-Ost-Verbindungen über die Tschechoslowakei verlaufen würden; Verbindungen vom polnischen Raum zum Adriatischen Meer durch Westungarn; und Umfahrungeh im Süden neuerdings den österreichischen Raum aussperren. Solche Konsequenzen würden die Randlage Österreichs gefährlicher machen, und die Wiens am gefährlichsten.

Und die österreichischen Straßen? Man wird einwenden, daß im System der österreichischen Straßen nichts Dergleichen zu befürchten sei. Aber es hat den Anschein, als würde ihr bisheriges Konzept eher der Bewältigung des Durchgangsverkehrs durch Österreich dienen. In der Tat geraten unsere nördlichen Nachbarn leichter durchs Rheintal, durchs Inntal, über die Tauern und auf andere»! Wegen nach dem Süden als die Wiener in das westlichste Bundesland Vorarlberg. Die harten Winter der letzten Jahre haben uns darüber belehrt, daß im Hochwinter unser westlichstes Bundesland zuweilen über österreichisches Territorium über haupt nicht erreichbar ist; daß man dazu in die Bundesrepublik Deutschland ausweichen muß. Im Falle eines europäischen Konfliktes, den Gott verhindern möge, wäre das neutrale Österreich in einem solchen Fall von einem wichtigen Landesteil geradezu abgesdftiitten.

In diesen Zusammenhängen geht es nicht nur um die Milderung der Randlage Wiens, und erst recht nicht nur um die Bewältigung des Durchgangsverkehrs durch Österreich, sondern um die Erleichterung der innerösterreichischen Verkehrsbeziehungen, und nicht zuletzt um die Verbesserung der regionalen und lokalen Erschließungen in unserem Land.

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