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60 Jahre getrennt

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Seit rund 850 Jahren wird Österreichs Kernland, Österreich unter der Enns oder Niederösterreich, von Wien aus regiert. Damals verlegten die Babenberger, die vorher von Melk und später Klosterneuburg aus das Land beherrscht hatten, ihre Residenz nach Wien.

Vom Mittelalter an war demnach Wien jene Stadt, von der aus neben einem wachsenden Großreich auch das unmittelbare Umland, eben Niederösterreich, regiert und verwaltet wurde.

In der Monarchie spielten die Wiener gegenüber den nieder-

österreichischen Landständen, die seit 1513 im Landhaus in der heutigen Herrengasse saßen, eine untergeordnete Rolle. Der niederösterreichische Landeshistoriker Hermann Riepl schreibt:

„1782 wurde sogar eine Stadthauptmannschaft als Mittelbehörde zwischen Stadtrat und niederösterreichischer Statthalterei eingeschaltet. 1783 trat an die Stelle des Stadtrates, des Stadtgerichts sowie des städtischen Anwalts ein vom Kaiser eingesetzter Magistrat, der von der niederösterreichischen Regierung abhängig war. Der letzte Rest städtischer Selbstverwaltung wurde genommen, als der Stadt 1793 die Wahl des Bürgermeisters entzogen wurde. Diesen ernannte fortan der Kaiser selbst."

Erst nach dem Revolutionsjahr 1848, im neuen Gemeindegesetz von 1862, wurde die städtische Selbstverwaltung weitgehend berücksichtigt, an der Stellung Wiens zu seinem Umland Niederösterreich aber nichts geändert. Wien blieb, wie andere Städte mit eigenem Statut, vom Nö Landtag abhängig. Noch 1914, als Wien mit über zwei Millionen Einwohnern wesentlich bevölkerungsreicher als das Umland war, stellte die Stadt nur 48 von 127 Landtagsmitgliedern, war also deutlich unterrepräsentiert.

Es fehlte daher nicht an Versuchen des Wiener Gemeinderats, die Reichsunmittelbarkeit zu erlangen und sich von Niederösterreich zu trennen. Aber alle derartigen Anträge von 1864 bis zu Bürgermeister Karl Lueger scheiterten.

Inzwischen begann man aber auch in Niederösterreich, über eine mögliche Loslösung und eine eigene Landeshauptstadt nachzudenken. Der Statthalter von Niederösterreich, Graf Erich von Kielmannsegg, setzte sich aber in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit seinem Plan, Floridsdorf zur Hauptstadt von Niederösterreich zu machen, nicht durch. Und 1904 kam es zur Eingemeindung Floridsdorfs in die Stadt Wien.

Erst die Landtagswahl von 1919 und die neue Bundesverfassung von 1920 führten schließlich die Neubildung von zwei Bundesländern — Wien und Niederösterreich — herbei, was handfeste politische Gründe hatte.

Zunächst hatten die Sozialdemokraten aufgrund ihrer Stärke in Wien eine klare Mehrheit im Niederösterreichischen Landtag erhalten: 64 von 120 Mandaten. Deshalb strebten die Christlichsozialen, die auf dem Lande dominierten, eine Trennung an, die auch den Wiener Sozialdemokraten, deren Ubermacht in der Stadt damit für lange Zeit ungefährdet schien, ganz recht war.

Einspruch kam nur von den Wiener Christlichsozialen unter Leopold Kunschak und den niederösterreichischen Sozialdemokraten unter Karl Renner, denen klar war, daß sie kaum je Mehr-

heitspartei werden könnten. Von Niederösterreichs Sozialdemokraten kam auch der—berechtigte — Hinweis, daß 80 Prozent aller Steuern des bisherigen Niederösterreich in Wien aufgebracht würden und deshalb die Trennung unbegreiflich sei.

Der Wunsch der Wiener Sozialdemokraten, das Viertel unter dem Wienerwald als „Wiener Land" an Wien fallen zu lassen, ging freilich nicht in Erfüllung. Die Niederösterreicher wieder setzten sich nicht durch, als sie den Verlust ihrer „Hauptsteuerquelle" Wien halbwegs abgegolten haben wollten.

Dagegen durften die Niederösterreicher, die damals wie die Löwen darum kämpften, ihr Landhaus in der Herrengasse behalten, freilich mit einer Klausel: Wird der Regierungssitz in eine eigene niederösterreichische

Landeshauptstadt verlegt, so besitzt die Stadt Wien das Vorkaufsrecht auf dieses historische Gebäude, in dem zum Beispiel Karl Renner 1945 die Bundesländer einigte.

Ein weiterer Grund für die Trennung war die föderalistische Bundesverfassung. Wären Wien und Niederösterreich beisammengeblieben, hätte dieses eine Bundesland aufgrund der Bevölkerungszahl im Bundesrat immer eine Mehrheit gehabt.

Seit der Auflösung des gemeinsamen Landtages von Wien und Niederösterreich am 29. Dezember 1921 hat es immer wieder Überlegungen gegeben, eine eigene niederösterreichische Landeshauptstadt auszurufen, in der Zweiten Republik meist dann, wenn ein neuer Finanzausgleich auszuhandeln war.

Ein Intermezzo war die NS-

Zeit. Damals wurden 97 niederösterreichische Gemeinden an Wien angegliedert, 80 davon kamen 1954 an Niederösterreich zurück. Im Zweiten Weltkrieg galt Krems als „Gauhauptstadt", der Sitz der Verwaltungszentrale blieb allerdings in Wien.

Krems ist auch eine jener sechs Städte, die derzeit als mögliche Landeshauptstadt genannt werden, neben Mödling (bereits vor über 20 Jahren wollte der damali-

ge Landespolitiker Viktor Müllner zumindest Teile der Landesverwaltung in die Südstadt verlegen), St. Pölten, Wiener Neustadt, Baden und Klosterneuburg. Mit letzterer Wahl würde man auf jenen historischen Boden zurückkehren, den die damaligen Landesherren vor genau 850 Jahren verlassen haben.

Quellenhinweis: Hermann Riepl, Die Trennung Wiens von Niederösterreich vor 50 Jahren (Unsere Heimat, Zeitschrift des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich und Wien, Jg. 43, 1972, Heft 1)

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