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Niedergang der Industrie

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orientierten sich auf die steigende Wiener Lebensmittelnachfrage.

Das Militär war ein wichtiger Kunde der Metallindustrie: nicht nur für Waffen, sondern auch für Uniformknöpfe, Gold- und Silbertressen, Schnallen und ähnliche von Uniformträgem hochbegehrte Waren; nicht zuletzt bedeutete die galoppierende Inflation der napoleo- nischen Zeit eine beträchtliche Nachfrage des Ärars nach Kupferplättchen als dem Ausgangspunkt für die Münzprägung. Die 1843 von Alexander Schoeller und Hermann Krupp gegründeten Bemdorfer Metallwarenfabrik verdankten den phänomenalen Aufstieg den gewalzten Eßbestecken aus dem Silberersatz Alpaka. Das rasche Wachstum von Wien kurbelte die Nachfrage nach Ziegeln, Kalk, Zement und Terrakotten an.

Die Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, mit deren Bau 1837 begönnen wurde, stellte die Verbindung mit den mährisch-schlesischen Kohlenrevieren her. Die Südbahn wurderasch zum Magneten für weitere Indus trie- ansiedlungen. 1841 war Wiener Neustadt erreicht, 1854 der Semmering überquert und damit der Anschluß an den Hafen Triest gegeben. Mit der Fertigstellung des von Wien radial in alle Teile der Monarchie ausstrahlenden Bahnnetzes wurde Niederösterreich noch fester in die Märkte des Großreiches eingebunden. Auch der Ausbau der Donaudampfschiffahrt, die die größte Dichte zwischen Wien und Budapest erreichte, war für den Fortgang des wirtschaftlichen Wachstums nicht uninteressant.

Die Umstrukturierung, die auf dem Energie- und Transportsektor lim die Mitte des 19. Jahrhunderts vor sich gegangen war, bedeutete für die niederösterreichische Industrie einerseits eine neuerliche Verbesserung der Standortgegebenheiten, andererseits eine schwere Belastung. Der Reagrarisierungsprozeß der Textillandschaft des nördlichen Waldviertels schritt unaufhaltsam voran. Die Kleineisenindustrie der Eisenwurzen konnte den sich herausbildenden großen Montankonzemen nicht standhalten.

Dabei hätte es durchaus Chancen gegeben, im späten 19. Jahrhundert Niederösterreich zu einem Zentrum der Hüttenindustrie werden zu lassen. Mit seiner Lageauf halbem Weg zwischen dem steirischen Erz und der schlesischen Kohle schien sich das Land im späten 19. Jahrhundert als geeigneter Platz für die Roheisenerzeugung anzubieten. DieVersu- che, für die Eisenverhüttung in Wien oder Schwechat Standorte an der Donau zu finden, hätten, wenn sie erfolgreich verlaufen wären, das vorwegnehmen können, was nach 1938 in Linz aufgebaut wurde. In der Metallindustrie und im Maschinenbau hatte Niederösterreich von Anfang weg eine bedeutende Stellung eingenommen, getragen vom Bedarf der Eisenb a hnuntemehmun- gen, Spinnereien und der Landwirtschaft.

Die Elektrizität und die Verbrennungskraftmaschinen eröffneten völlig neue Aussichten im Fahrzeug- und Zubehörbereich. Während sich die Elektroindustrie der Monarchie zum größten Teil im Wiener Raum zentrierte, schienen sich dem Automobilbau in Niederösterreich entsprechende Möglichkeiten zu bie ten. Über 20 Motorrad- und Automobilfabriken waren in der Zwischenkriegszeit in Niederösterreich angesiedelt.

Der Rüstungsbedarf des Ersten Weltkrieges führte zu einer zusätzlichen Industriekonzentration in Niederösterreich, vor allem im Wiener Neustädter Raum. Fahrzeug- und Flugzeugbau, vor allem aber die Pulver- und Munitionsfabriken führten zu einer kaum zu bewältigenden Arbeitskräfteansammlung. Insgesamt waren zeitweise um die 120.000 Arbeiter in den Rüstungsbetrieben des Wiener Neustädter Raumes konzentriert, mehr als heute in der gesamten niederösterreichischen Industrie.

Es gelang nicht, diese Industriekapazität nach dem Ersten Weltkrieg in geeigneter Form zu erhalten. Zu den allgemeinen Kriegsfolgen, der Kapitalvemichtung und der organisatorischen und sozialen Desorientierung trat in Österreich und Niederösterreich im besonderen das Auseinanderbrechen einer historisch gewachsenen industriellen Struktur, was zu beträchtlichen Überkapazitäten und Unstimmigkeiten führte. Die Branchenstruktur, die nicht auf die Deckung eines mehr oder weniger lokalen Bedarfs, sondern auf den Absatz im großen Territorium der Österreichisch- Ungarischen Monarchie ausgerichtet war, war mit einem Mal falsch dimensioniert. Engpässen bei Zuk- ker oder Glas standen beträchtliche Überschüsse bei Textilien, Dampfmaschinen und im Maschinenbau gegenüber. In der Textilindustrie bestand ein krasses Mißverhältnis zwischen der Zahl der vorhandenen Spindeln und Webstühlen. Die Rüstungsindustrie war überhaupt funktionslos geworden und mußte im Rahmen des Friedensvertrages zerstört und demontiert werden. Eine Umstellung auf Friedensprodukte gelang nicht. Der Verlust der altösterreichischen Rohstoff- und Absatzmärkte wurde durch politische und ökonomische Restriktionen in den Nachfolgestaaten verstärkt.

1929, noch vor dem Ausbruch der eigentlichen Weltwirtschaftskrise, kämpfte die niederösterreichische Industrie mit einer Auslastung von weniger als 60 Prozent. Nicht nur ‘ Marienthal, sondern auch Neunkirchen oder Wiener Neustadt, Hirtenberg, Temitz oder Enzesfeld wurden zu schrecklichen Symbolen der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre.

Ein so großes zusammenhängendes Industriegebiet mit Ressourcen, die seit 1918 zum Teil brach lagen, dazu die wichtigen Energiereserven des Zistersdorfer Erdölgebietes, die bis 1938 kaum erschlossen waren, und die Möglichkeiten zum Ausbau der Wasserkraft, für die bei Ybbs- Persenbeug schon Pläne Vorlagen, mußte für das Dritte Reich und dessen Aufrüstung von höchster Bedeutung sein. Mit dem Anschluß wurde ein hektisches Investitionsprogramm eingeleitet, das zwar eine vordergründige Lösung des Beschäftigungsproblems erbrachte, die räumliche Neuorientierung der österreichischen Industriestruktur aber weiter beschleunigte: langfristig gesehen hatte bereits 1938 die Verlagerung des industriellen Schwergewichtes nach Westen mit den Industriegründungen in Oberösterreich (Hütte Linz, Linzer Stickstoffwerke, Zellstoff Lenzing, Aluminiumhütte Ranshofen und Kugellagerwerk Steyr) begonnen.

Zwar führte der Zweite Weltkrieg in Niederösterreich wegen der zu den wichtigsten Kriegsschauplätzen im Osten günstigen, vor alliierten Luftangriffen langegeschützten und deshalb auch als Reichsluftschutzkeller apostrophierten Lage zu einer ausgedehnten Gründungs- und Planungstätigkeit. Im Gegensatz zu Oberösterreich, wo sich die im Kriege entstandenen Großbetriebe nach zwar großen Übergangsschwierigkeiten zu dauerhaften Kristallisationskemen industrieller Dynamik entwickelten, gingen die Gründungen in Niederösterreich nach dem Kriege nahezu spurlos unten

71 Prozent der Bauschäden der gesamten österreichischen Industrie entfielen auf Niederösterreich. Schwerer wogen noch die sowjetischen Demontagen, deren Gesamtschaden für Niederösterreich wohl nur mehr sehr schwer festgestellt werden kann. Trotzdem ist es erstaunlich, wie rasch mit einfachen Mitteln dennoch wieder eine Produktion in Gang gesetzt werden konnte. Außer Zweifel steht aber, daß die Gesamtbilanz des Krieges für Ostösterreich wesentlich schlechter aussah als für das westliche Bundesgebiet, durch Bombardements, direkte Kampfhandlun gen, Demontagen und durch den Verlust an Human Capital, der durch die Flucht zahlreicher leitender Angestellter nach Westen verstärkt wurde.

Während die drei Westmächte ihre als Reparationsleistung beschlagnahmten Industriebetriebe bald Zurückgaben, bewirtschaftete die Sowjetunion ihre zur USIA (= Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich) zusammengefaßten Produktionen großteils außerhalb der österreichischen Volkswirtschaft. Die USIA-Betriebe, die eine Art exterritorialer Stellung einnah- men, nur einen Teil der Zölle und Steuern entrichteten und die Gewinne ins Ausland transferierten, beeinflußten die niederösterreichi- sche Wirtschaftsentwicklung in mehrfacher Hinsicht negativ: Nicht nur durch Steuervorteile gegenüber privaten Betrieben und zu geringes Steueraufkommen, durch imgenügende Investitionstätigkeit und Substanzverzehr, sondern auch durch Gegenstrategien der übrigen Alliierten in den westlichen Besatzungszonen wurde die niederösterreichische Wirtschaftsentwicklung in mehrfacher Hinsicht negativ beeinflußt. Marshall-Plan-Mittel kamen den USIA-Betrieben überhaupt nicht und dem Land Niederösterreich nur in reduziertem Ausmaß zugute. So war Niederösterreich nicht nur vom Nachkriegsboom ausgeschlossen, sondern erhielt durch Neugründungen noch weitere Konkurrenz im Inland dazu. Durch die Schließung der Grenzen nach Osten und Norden wurden weite, einst zentral gelegene Teile des Landes in eine Randlage gedrängt.

Verlief das erste Nachkriegsjahr- zehnt für Niederösterreich also recht ungünstig, so konnte in der Folge doch ein Aufholprozeß eingeleitet werden, auch wenn zahlreiche Struktumachteile weiterbestanden.

Niederösterreich ist ein Industrieland geblieben: der Anteil der Industrie, wenngleich rückläufig, liegt erheblich über dem österreichischen Durchschnitt. Neben Vorarlberg und Oberösterreich hat Niederösterreich den höchsten Anteil des industriell gewerblichen Sektors.

Niederösterreich zeigt deutliche Zentrum-Peripherie-Disproportio- nen. Den benachteiligten Grenzregionen stehen stark aufstrebende

Zentren gegenüber. Zuwanderung nach Wien und Randverlagerung der Wiener Bevölkerung kumulieren am Wiener Stadtrand. Eine hohe Abwanderung schwächt die Grenzbezirke. Deren Infrastruktur wird hingegen zunehmend durch nicht ansässige Zweitwohnungsbesitzer beansprucht.

Betriebsneugründungen konzentrieren sich auf die traditionellen Industriegebiete. Demgegenüber fallen auch bei erheblichen Förderungen durch Bund und Land gerade in den Problemgebieten dauerhafte Betriebsansiedlungen schwer.

Der Frauenanteil unter den Erwerbstätigen liegt im Spitzenfeld. Großbetriebe mit über 500 Beschäftigten sind in Niederösterreich mit einem Fünftel der Beschäftigten, bundesweit ein Viertel, unterrepräsentiert.

Die Berufsstruktur zeigt mit dem überdurchschnittlichen Agrar- und Industrieanteil bei einem relativ kleinen Tertiärbereich ein vergleichsweise altertümliches Bild: Unterproportional vertreten ist in Niederösterreich der Dienstlei- t stungssektor. Dienstleistungen, nicht nur im Bereich öffentlicher Dienste, sondern vor allem auch im industrienahen Bereich, zählen aber zu den Wachstumsbranchen. Daher erscheinen die wirtschaftlichen Aussichten und Wachstumspotentiale für Niederösterreich nicht schlecht, wenn einerseits durch Hauptstadtgründung, wachsenden Fremdenverkehr in Naherholungsgebieten und Tertiarisierung der Industrie der Dienstleistungssektor gestärkt wird und andererseits durch einerealistischer werdende Öffnung der Grenzen nach Osten und Norden Niederösterreich wieder in seine traditionellezentralräumliche Stellung einrücken könnte.

Der Autor ist Ordinarius am Institut für Wirtschafts- und Sorialfleachichte der Universität Linz.

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