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„Hinterösterreich“?

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Östlich von Mödling wuchtet ein Koloß aus Stahl, Beton und Glas aus der melodisch geschwungenen Wienerwaldsilhouette. Der riesige, knapp vor seiner Vollendung stehende Quader soll Zentrum und Dominante einer neuen Stadt werden, einer „Gartenstadt“. Hier werden schon bald die beiden niederösterreichischen Landesgesellschaften, Newag und Niogas, ihr Hauptquartier aufschlagen. Der Raum Mödling, gestern noch ein Notstandsgebiet, wird dadurch schlagartig alle übrigen Bezirke Niederösterreichs an Bedeutung überflügeln. Dies um so mehr, als die „Gartenstadt“ nicht das einzige große Projekt ist, das in diesem Gebiet zur Zeit verwirklicht wird. Keine 300 Meter neben dem erwähnten Betonkoloß befindet sich eine weitere Großbaustelle: hier wird das Mödlinger Spital — ein Landeskrankenhaus — zur größten und modernsten Klinik Niederösterreichs ausgebaut.

Noch nicht in Bau, doch auf dem Reißbrett bereits fertig entworfen ist ein Projekt, das den Bezirk Mödling um einen weiteren „Superlativ“ bereichern wird: das Niederösterreichische Zentralkinderheim, das, zum Leidwesen der Naturschützer, im Schatten der Burg Liechtenstein entstehen soll.

Ebenfalls im Planungsstadium befindet sich das Vorhaben, im Vorfeld von Mödling ein überdimensionales Sportzentrum zu schaffen. Breite Rollbahnen, die brutal mitten durch idyllische Ortskerne gezogen wurden — ein altes Schloß wurde zur Hälfte amputiert, um der Straße Platz zu machen —, sorgen für die bessere verkehrsmäßige Durchblutung dieses Raumes. Die Arbeiten an der Autobahn-Süd-Umfahrung von Wien schreiten — ohne daß viele Worte darüber verloren werden — schnell voran. Nach seiner Fertigstellung verspricht dieser Autobahnstrang, zu einer neuen Lebensader des Gebietes um Mödling zu werden.

Diese Häufung großer Projekte kann schwerlich bloß , als eine Art Nachziehverfahren zur wirtschaftlichen Sanierung dieser während ihrer Züge-Hörigkeit zu Wien recht stiefmütterlich bedachten Randgemeinden erklärt werden. Die Begünstigungen sind aber auch weitreichender, als daß sie als die „üblichen“ Segnungen der Hausmachtpolitik eines einflußreichen Landespolitikers angesehen werden könnten. Hier handelt' es sich allem Anschein nach um eine, wenn auch nicht offen zugegebene, doch deswegen nicht minder augenfällige systematische Bevorzugung, die nur das eine Ziel haben kann, den Raum Mödling zu einem neuen Schwerpunkt des Landes Niederösterreich zu machen.

Angesichts der gigantischen Geldmittel, die in Richtung Mödling gepumpt werden, erhebt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Landesschwerpunkt unmittelbar vor die Tore Wiens zu setzen, in einen Raum also, der bei Anhalten der derzeitigen Siedlungsdynamik schon in wenigen Jahren mit Wien ein geschlossenes Siedlungsgebiet bilden wird und der schon einmal der Großstadt verwaltungsmäßig angegliedert war. Wer diese Frage beantworten will, braucht nicht erst Raumplanung zu studieren, sondern muß sich nur vorstellen können, was geschieht, wenn man eine Glühbirne von mittlerer Leuchtkraft knapp neben einer Jupiterlampe anbringt. Jeder, dem es nicht ganz an Vorstellungskraft fehlt, wird zu der Erkenntnis gelangen, daß das Licht des Scheinwerfers das der Glühbirne vollständig verschlucken würde. Dieser Milchmädchentest demonstriert deutlich, was von einem zukünftigen Schwerpunkt im Räume Mödling an Auswirkungen für die Gesamtstruktur Niederösterreichs zu erwarten ist. Was man im Rausche des Städtegründens anscheinend übersieht, ist der Umstand, daß ein neues Zentrum im engsten Ausstrahlungsbereich der Großstadt, auf lange Sicht gesehen, nur Wien, niemals aber Niederösterreich zugute käme. Jede Vergrößerung des Ballungsraumes Wien verstärkt die Anziehungskräfte, die von diesem Raum auf die umliegenden Gebiete ausstrahlen. Statt also die katastrophale Landesstrukrur Niederösterreichs zu bessern, wird die Stärkung Mödling« die derzeitigen strukturellen

Mängel Niederösterreichs nur noch verschärfen.

Zurück zum Milchmädchentest. Wenn man eine Glühbirne allerdings in angemessenem Abstand von einer Jupiterlampe aufleuchten läßt, wird ihr Licht, zumindest in einem kleinen Umkreis, das des Scheinwerfers überstrahlen.

Schon seit einem halben Jahrzehnt weist das Institut für Raumplanung in allen einschlägigen Publikationen mit Nachdruck darauf hin, daß Niederösterreich nur dann eine Chance hat, sich dem Sog der Bundeshauptstadt mit einigem Erfolg zu entziehen, wenn man sich in der Herrengasse entschlösse, auf die Stärkung einer niederösterreichischen Zentralregion systematisch hinzuarbeiten. Noch keiner der führenden Landespolitiker ist auf diesen Vorschlag bisher eingegangen.

Zentralregion Krems-St. Pölten

Was stellen sich die Raumplaner unter einer Zentralregion vor? Das Institut schlug vor, den Raum Krems— Herzogenburg—St. Pölten durch planvolle Förderung zu einem Landesschwerpunkt zu machen, der wenigstens den Westen Niederösterreichs — einen Raum, der immer noch größer ist als das Bundesland Kärnten — davor bewahren könnte, durch die absorbierende Kraft der Großstadt kulturell und wirtschaftlich zu veröden. Die Bildung eines solchen Schwerpunktes hat vorerst überhaupt nichts mit dem Problem der Verlegung des Landesregierungssitzes zu tun. Erst wenn diese Zentralregion den Eindruck eines — wenn auch sehr locker — verbauten Gebietes erweckt und auch die Verkehrsadern stärker auf diesen Schwerpunkt ausgerichtet sind, kann man sich überlegen, ob es zweckmäßig wäre, die Landesregierung von Wien in diese Zentralregion zu verlegen.

Ein'Land braucht ein Zentrum, um sich gesund weiterentwickeln zu können. Es braucht einen Brennpunkt, wo sich Eliten bilden können. Heute kehrt ein Großteil gerade der tüchtigsten jungen Niederösterreicher seinem Heimatland den Rücken und wandert — angelockt durch bessere Aufstiegsmöglichkeiten und einen höheren Lebensstandard — nach Wien ab.

Der biologische Substanzverlust, den Niederösterreich seit Jahrzehnten durch die Abwanderung erleidet, wird durch das Endergebnis der vorjährigen Volkszählung — es spricht von einem zweiprozentigen Bevölkerungsschwund innerhalb von zehn Jahren — geradezu verniedlicht. Wie sehr der Sog der Großstadt die biologische Substanz des Landes in Wirklichkeit aushöhlt, begreift man erst, wenn man weiß, daß es fast durchweg junge Menschen sind, die Niederösterreich auf Nimmerwiedersehen verlassen, und daß infolge des Zurückbleibens der Alten das Land in Gefahr gerät, immer mehr zu vergreisen. Wie sehr dieser Ver-greisungsprozeß schon fortgeschritten ist, zeigt die niedrige Geburtenrate des Landes.

Wohlstandsgefälle von West nach Ost

Schneidet man aus einem Land seine organisch gewachsene Hauptstadt heraus — wie dies bei der Loslösung Wiens von Niederösterreich im Jahre 1920 geschah —, muß dies auch zu einer empfindlichen Schwächung der Finanzkraft dieses' Landes führen. Was aus dem gesamten Landesbereich Jahrhunderte hindurch an biologischer Substanz und sonstigen Werten in den Kern investiert wurde, hörte für Niederösterreich mit einem Schlage auf

Zinsen abzuwerfen. Dies war mit eine Ursache dafür, daß Niederösterreich von den westlichen Bundesländern — denen es einst wirtschaftlich weit überlegen war — hinsichtlich des Lebensstandards überrundet wurde. Trotz gewaltiger Aufbauleistungen, die die niederösterreichische Bevölkerung seit 1945 vollbracht hat, wird das Wohlstandsgefälle zwischen dem Westen und dem Osten Österreichs — wobei Wien eine Ausnahme darstellt — immer größer.

Der oberösterreichische Anteil an den Einkommenssteuererträgnissen des Bundes würde sich bei einem Wegfall der Landeshauptstadt um 25 Prozent verringern, der steirische Anteil unter den gleichen Voraussetzungen um 30 Prozent, der Tiroler um 35 Prozent und der Salzburger gar um 54 Prozent. An diesen Zahlen läßt sich erkennen, was das Fehlen einer Landeshauptstadt finanziell für ein Bundesland bedeutet.

Als sich Wien und Niederösterreich im Jahre 1920 voneinander lossagten, unterschätzte man offenbar die Gefahr, die dem Landesbudget aus dem Verlust der finanziellen Stütze durch die Hauptstadt erwachsen würde. Sonst hätte Landesrat Segur, einer der eifrigsten Verfechter des Seperatismus, bei der Verabschiedung des Trennungsgesetzes nicht voll Zuversicht prophezeien können: „Wir werden vom Bunde selbstverständlich das bekommen, was wir brauchen, und in der Lage sein, unsere Finanzen sanieren zu können.“

Es wäre verfehlt, der Trennung von Wien und Niederösterreich die alleinige Schuld an der heutigen Finanzlage und all den strukturellen Mängeln des Landes unter der Enns zu geben. Mit der Trennung des Jahres 1920 stellte man sich lediglich auf den Boden bereits längst vollendeter Tatsachen. Niederösterreich hat nämlich seine Hauptstadt schon viel früher verloren. In dem Maße, als Wien zur Großstadt erstarkte und ein eigener Organismus wurde, verkümmerten seine Beziehungen zum vorwiegend bäuerlichen Hinterland. Ein getreues Spiegelbild dieser Entwicklung findet man im Wandel der WieneT Presse wieder. Noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schenken die Wiener Gazetten dem Geschehen auf dem flachen Land genauso viel Beachtung wie den lokalen Vorgängen in Wien selbst. 50 Jahre später nimmt die Wiener Journalistik von den Ereignissen, die sich außerhalb der Bannmeile von Wien auf niederösterreichi-schem Boden abspielen, kaum noch Notiz.

Im Sog der Großstadt

Um 1850 hatte Niederösterreich eineinhalb Millionen Einwohner und Wien rund 400.000. Damals konnten die größeren Märkte und Städte des Landes noch ungestört ein hohes Maß an Eigenständigkeit entfalten. Das Verhältnis der Bevölkerungszahl zwischen Wien und Niederösterreich hat sich seither von 1:3,7 auf 1:0,9 zuungunsten Niederösterreichs verändert. Die Folge davon ist ein gewaltiger Sog, der die einzelnen Landesteile meist unter Ausschaltung ihrer natürlichen Zentren auf Wien hin ausrichtet. Wie soll ein kleiner, aus dem Verband organisch gewachsener Zuordnung gerissener Ort sein Eigenleben gegenüber dem „Moloch Großstadt“ behaupten können? Wien diktiert den Geschmack. Großstädtische Einflüsse formen den ländlichen Lebensstil um. Alles Eigenständige — Trachten, Brauchtum, Volkskunst — wird in muffige Heimatmuseen verbannt. So führt die Ausstrahlung Wiens zu einer Verarmung statt zu einer Bereicherung des Einzugsgebietes. Niederösterreich wird immer mehr zu „HinterÖsterreich“.

Der niederösterreichische Landes-finanzreferent stellte einmal die Frage: „Ist Niederösterreich ... überhaupt als Land zu betrachten oder ist es nur der Hinterteil einer großen Stadt?“

Gelingt es dem Lande nicht, der Bundeshauptstadt Wien ein genügend starkes Gegengewicht entgegenzustellen, dann wird man vielleicht schon in wenigen Jahrzehnten auf die heute noch provokativ klingende Frage antworten müssen: „Niederösterreichs historische Funktion als Herz Österreichs wurde verspielt.“

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