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Niederösterreichs ,Hauptdörfer’

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In absehbarer Zeit wird die vom Nationalrat beschlossene Gemeindeverfassungsnovelle in Kraft treten und den Gemeinden mehr als bisher ein selbständiges Handeln erlauben. Gerade dieser Umstand beunruhigt aber diejenigen, die es für notwendig erachten, daß die kleingemeind- liche Struktur Niederösterreichs verbessert werden sollte. Eine gesonderte historische Entwicklung hat nämlich vor rund 110 Jahren dazu geführt, daß im heutigen Bundesland unter der Enns hauptsächlich Ortsgemeinden kleinsten Umfanges entstanden sind.

Finanzwirtschaftliche und wahlpolitische Erwägungen sprechen jedoch dafür, diesen ungesunden Zustand der niederösterreichischen Gemeindestruktur noch vor Gültigkeit des neuen Gemeindegesetzes zu sanieren. Nicht ohne Grund vermutet man. daß nachher kaum mehr der Wunsch vorhanden sein wird, Zusammenschlüsse der Zwerggemeinden zu wirtschaftsstarken Verwaltungs- der Gebietsgemeinden durchzuführen.

Eine Gewaltlösung?

Vielfach wird jetzt die Meinung vertreten, es würde genügen, die derzeitigen Kleingemeinden auf kurzem Wege zu solchen großen Gebietsgemeinden zu vereinigen, die mindestens 1000 Einwohner haben. Dieser hauptsächlich finanzwirtschaftlich orientierte Reformvorschlag übersieht jedoch, daß heute eine Reorganisation von Raumeinheiten kaum mehr schematisch durchgeführt werden kann. In erster Linie müssen nunmehr neben den funktionellen und strukturellen Gegebenheiten, die ja örtlich verschieden sind, die absehbaren Auswirkungen einer solchen Maßnahme für alle Lebensbereiche berücksichtigt werden.

Die niederösterreichische Landesregierung war sich des Umstandes bewußt, daß ein derart vielschichtiges und heikles Problem keinesfalls einseitig behandelt werden kann. Es bedurfte dabei nicht erst des Hinweises auf die neuesten siedlungsgeographischen Erkenntnisse, daß einzelne Orte nach bestimmten Regeln für andere Siedlungen ihrer Umgebung als Mittelpunkte fungieren.

Die zentralen Hauptdörfer

Schon lange vorher war aus dem täglichen Verkehr bekannt, daß in Niederösterreich neben den Bezirkshaupt- und Bezirksgerichtsstädten zentrale Orte der unteren Rangstufe bestehen, die man als „Hauptdörfer“ bezeichnen kann. Sie sind meistens dadurch ausgezeichnet, daß sie eine Pfarrkirche, einen Friedhof, eine Volksschule, einen Gendarmerieposten oder ein Postamt aufweisen, so daß auch die Bewohner der benachbarten Orte diese Einrichtungen aufsuchen müssen.

Wenn man also das genaue Netz dieser Hauptdörfer und deren Einzugsbereiche ermittelt, so besitzt man eine wichtige Grundlage für Maßnahmen der Entwicklungsförderung, für die Standortwahl von Neubauten öffentlicher Einrichtungen und nicht zuletzt eben für das aktuelle Problem der Verbesserung von Gemeindeverwaltungen. Das Grundgerüst der Hauptdörfer könnte zweifelsohne die Ausgangsbasis für Gemeindezusammenlegungen oder wenigstens für Verwaltungsgemeinschaften von Zwerggemeinden sein.

Um die zweckmäßigste Methode zum Ermitteln dieser Hauptdörfer zu erforschen, beauftragte die niederösterreichische Landesregierung das Österreichische Institut für Raumplanung mit der Untersuchung von drei Teilgebieten, nämlich den Raum von Horn im Waldviertel sowie die Bezirke Melk und Scheibbs im Alpenvorland. Als die beste Methode gefunden worden war, wurde der Untersuchungsauftrag auf das gesamte Gebiet des Wald- und des Weinviertels ausgedehnt. In absehbarer Zeit wird deshalb gerade von den Landesteilen Niederösterreichs das zentralfunktionelle Gefüge der Hauptdörfer bekannt sein, in denen sich die meisten Kleingemeinden befinden.

Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr man heute schon bemüht ist, Verwaltungsentscheidungen nicht mehr rein schematisch nach dem Ermessen der Behörde zu fällen, sondern vielmehr umfangreiche wissenschaftliche Forschungen nach den optimalsten Auswirkungen für Bevölkerung und Wirtschaft vor der Entscheidung betreibt.

Eine neuartige Geographie

Zuerst begannen die Raumplaner mit einer Untersuchung der Volksschulen, wobei die Schulstandorte und die Schulsprengel kartographisch aufgenommen wurden. Darauf erfolgte eine Befragung über die Ausstattung der Volksschulen und die Bauabsichten der Schulbehörden.

In ähnlich ausführlicher Form wurden die Standorte, Einzugsbereiche und Probleme der Gemeindeverwaltung, der Post, der Gendarmerie, der Pfarren, des Handels, der Sparkassen, der landwirtschaftlichen Lagerhäuser und der Ärzte ermittelt. Auf diese Weise kristallisierte sich ein buntes Bild der Versorgungsverhältnisse in den Gebieten mit Klein- und Kleinstgemeinden heraus.

Bei der Befragung der Gemeinden erkundigten sich die Raumplaner auch nach den Verhältnissen des Erholungswesens und des gesellschaftlichen Lebens. Erstmals wurde in einem ländlichen Gebiet der Versuch unternommen, nach den Unterlagen der Vereinsbehörden die verschiedenartigen Vereine zu kartieren, da mehrere solche Vereinigungen erfahrungsgemäß erst in den Hauptorten zu finden sind.

Wettlauf mit der Zeit

Noch sind die Raumforscher eifrig am Werk, aber schon wird der bis 1965 zur Verfügung stehende Zeitraum bedenklich kleiner. Unter diesem Zeitdruck werden daher die Stimmen immer lauter, die einem oberflächlichen Schnellverfahren den Vorzug geben wollen. Soll jedoch auf diese Weise die Gemeindestruktur Niederösterreichs vielleicht für die nächsten hundert Jahre fest gelegt werden? Es ist nämlich auch zu bedenken, daß ein Versäumnis von 110 Jahren nicht durch einen Kraftakt, der noch dazu unüberlegt erfolgen soll, beseitigt werden kann da man dadurch nur neue und vielleicht noch tiefgreifendere Beschwernisse für viele Lebensbereiche der niederösterreichischen Landgemeinden schaffen würde.

Eine wirkliche Sanierung und eine geordnete, den heutigen wirt schaftlichen und sozialen Gegebenheiten angepaßte Raumgliederung der Ortsgemeinden zwischen Enns und Leitha kann nur durch eine vorher nach ihren Folgen eingehend erforschte und nach allen Seiten hin wirklich überlegte Willenskundgebung seitens der gewählten Bevölkerungsvertreter zu einem tatsächlichen Erfolg führen. Noch ist es Zeit, zwischen einer panikartigen Handlung und einer genau durchdachten Entscheidung zu wählen.

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