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Land ohne Kopf, kopfloses Land?

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Tirol isch lei oans”, singt der Tiroler immer noch mit stolzgeschwellter Brust, auch wenn sein Land m drei Teile gespalten ist. „I bin an Steirerbua und hob a Kernnatur”, sagt der Steirer, und niemand dürfte es wagen, seiner Steirerehre zu nahe zu treten. Er würde es zu spüren bekommen, daß „Mark” sich auf „stark” reimt. Und so ist es mit dem Kärntner, dem Salzburger, dem der „Stierwascher” nichts anhaben kann, mit dem Vorarlberger, dem die Kleinheit seines Ländles keineswegs Minderwertigkeitsgefühle erzeugt. Auch der Oberösterreicher kann es sich leisten, sich „Mostschädl” nennen zu lassen und dazu gutmütig zu grinsen. Wie armselig steht dagegen der Niederösterreicher in der Welt. Er ist ja nur Nieder Österreicher. Nicht selten kommt es vor, daß einer, wie Petrus den Herrn, seine Heimat verleugnet, wenn er etwa irgendwo im Ausland gefragt wird: „Österreicher sind Sie? Da sind Sie wohl aus Tirol oder Salzburg?” Wie viele bringen da den Mut auf, zu sagen: „Bedaure, mein Herr, ich bin Niederösterreicher!” Wer im Umkreis von 100 Kilometer um Wien zu Hause ist, der sagt darauf etwas kleinlaut, denn er ist sich ja seines Verrates bewußt: „Aus der Gegend von Wien...” Damit sind nämlich in seinem Gesprächspartner die Reminiszenzen von Johann Strauß über Schönbrunn bis Kennedy-Chruschtschow geweckt, und der arme Niederösterreicher braucht ihm nicht im zermalmenden Gefühl, einem weißen Fleck der Landkarte entsprungen zu sein, gegenüberzustehen.

Pechvogel Niederösterreicher

Es ist aber auch wirklich wahr: der Niederösterreicher ist ein Pechvogel. Schon der Name ist total mißglückt und nur dazu angetan, Komplexe zu erzeugen. „Ober-”, „Vor-”, „Burg-” und „-mark” — das klingt nach etwas, das stärkt das Selbstbewußtsein und verleiht ein Gefühl der Überlegen- heitj(Pji gegen „Nieder-” -jWingt da?, nicht Ähnlich wie diel aus den Amtstitulaturen mit .Recht-. ausgemerzte, prejörative Vorsilbe „Unter-”? Die Unterleutnants und Unterlehrer haben bei individualpsychologisch zivilisierten Völkern ausgelitten, nur dem Niederösterreicher wird wider alle Gesetze der Kindergartenpädagogik schon durch seine ethnologische Etikette suggeriert, daß er eine minderwertige Spezies der Gattung Österreicher ist. Das war früher anders, als dieses Land noch „Österreich unter der Enns” hieß. Hier konnte der geographische Sinn des „unter” nicht psychologisch mißdeutet werden, das Wertgefühl der unter der Enns wohnenden Bevölkerung wurde nicht schon durch den Namen belastet.

Aber das allein kann doch wohl nicht daran schuld sein, daß gerade im Herzland Österreichs, das so viele große Geister hervorgebracht hat, das in Landschaft, Wirtschaft und Kultur Österreichs Vielfalt und Reichtum widerspiegelt, daß gerade hier so geringer Landesstolz entwickelt wird. Es kann auch nicht allein daran liegen, daß die Niederösterreicher sich vom „Russentrauma”, dem Umstand nämlich, daß das so schwer kriegs- und besatzungsgeschädigte Land den besser situierten Westzonen gegenüber als armer Verwandter dastand, noch nicht erholen konnte. Die Wurzeln reichen viel weiter zurück. Für den stadtstolzen Wiener ist nämlich Niederösterreich seit jeher der Inbegriff der „Provinz” gewesen. Das Kosewort „Gscherter” wurde ja nicht erst für Autofahrer mit der Kennzeichennummer N 19... — wenn sie bei „Grün” zu langsam über die Kreuzung zockeln — erfunden, sondern drückte immer schon das Überlegenheitsgefühl des Stadtwieners gegenüber der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung aus. „Gscherter” ist für den Wiener vor allem der Niederösterreicher. Denn Niederösterreich, das war die Gegend, woher die Erdäpfel, das Kraut und die Dienstmädchen kamen.

Untermieter Wien

Noch etwas kommt hinzu: Beim Zerfall der Donaumonarchie hat Österreich von allen österreichischen Kronländern — mit Ausnahme Tirols, dem allerdings die Mitte erhalten blieb — am meisten gelitten. Es hatte ja den größten Teil seiner Grenzen mit Böhmen und Ungarn gemeinsam, hüben und drüben hatte man dieselbe Sprache gesprochen, es war ein einheitlicher Wirtschaftsraum gewesen. Und nun waren da auf einmal lauter blutende Grenzen, Aber peripherische Wunden lassen sich heilen, wenn nur das Zentrum heil bleibt, aus dem heraus regeneriert werden kann. Doch Niederösterreich war nicht nur aus dem umliegenden Wirtschaftsbereich herausgerissen, man hatte ihm auch seine Mitte genommen, die Hauptstadt Wien. Gewiß, die Landesregierung sitzt noch immer in Wien, aber sie ist Untermieter in der früheren eigenen Hauptstadt geworden. Und man kennt ja die Mentalität des zum Untermieter im eigenen Haus degradierten Hausherrn. Dieses Untermieterdasein drückt auch auf die niederösterreichische Psyche. Denn die Beamten der niederösterreichischen Landesregierung haben — notgedrungen — ihr Domizil zumeist in Wien — also im „Ausland”. Und wie das schon so ist, so sind sie, auch wenn sie aus Niederösterreich stammen, meist sehr bald eingewienert und erinnern sich ihrer ländlichen Herkunft gewöhnlich nur noch, wenn die Kirschen reif sind oder die Weinlese im Gange ist. So kommt es, daß die „Provinz” Niederösterreich größtenteils von im „Ausland” lebenden „Ausländern” regiert wird. Man stelle sich ähnliches in Innsbruck oder Bregenz vorl Daß die Mitglieder der Landesregierung zumeist eine ländliche Residenz in Wiener Neustadt oder in der Hinterbrühl beibehalten, beziehungsweise ihren Wohnsitz im Tullnerfeld oder im Waldviertel durch ein Betonband mit der Herrengasse verbinden lassen, ändert nichts an der Tatsache, daß die exekutierenden Beamten zumeist Ge- burts- oder Wohnsitzwiener sind.

Graz, Salzburg oder Innsbruck sind nicht nur echte politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentren für ihr Land, sondern auch religiöse Mittelpunkte. Aber auch das trifft in Niederösterreich nicht zu. Denn nur das östliche Niederösterreich hat Wien als kirchlichen Mittelpunkt, der westliche Teil mit etwa der Hälfte der Bewohner bildet die Diözese St. Pölten. Dort hat sich ein echter kirchlicher Mittelpunkt herausgebildet, es gibt eine kräftige Diözesangesinnung, aber sie kann gerade bei kirchlich denkenden Menschen nicht immer den rechten Einklang mit dem Landesbewußtsein finden.

Zersplittertes Bundesland

Die Zersplitterung Niederösterreichs zeigt sich sehr deutlich auch an der Presse. Niederösterreich hat keine einzige Tageszeitung, aber — wenigstens den Titeln nach — mehrere Dutzend verschiedene Lokalwochenblätter. Doch auch von ihnen wird schier die Hälfte — der Auflage nach wohl noch mehr — in Wien hergestellt und wohl zum Großteil auch von Wienern redigiert. Bemerkenswerte Ausnahmen sind nur die Blätter des Katholischen Preßvereins in St. Pölten, die mit ihren verschiedenen Mutationen und Kopfblättern den ganzen Bereich der Diözese St. Pölten versorgen.

Die vorläufigen Ergebnisse der Volkszählung vom 21. März haben gezeigt, daß die Bevölkerung von Niederösterreich in den letzten zehn Jahren um mehr als zwei Prozent abgenommen hat, während in ganz Österreich ein Bevölkerungszuwachs von 1,8 Prozent zu verzeichnen ist. Man sollte solche Zahlen nicht überbewerten, in diesem Falle liegen sie aber auf einer Linie mit den übrigen Beobachtungen und verdienen daher Beachtung. Da in den letzten Jahren von einer politisch begründeten Absetzbewegung nach dem Westen nicht mehr die Rede sein kann, muß wohl angenommen werden, daß Niederösterreichs Bevölkerungsüberschuß hauptsächlich nach Wien abfließt.

Obwohl die an Niederösterreich vorgenommene Kopfamputation Schlagadern und Nervenstränge unversehrt ließ — wie könnte sonst sowohl Kopf wie Rumpf so gut weiterfunktionieren? —, so verursacht die dadurch eingetretene theoretische Kopflosigkeit manchen Niederösterreichern einiges Kopfzerbrechen.

Diskussionen um Landeshauptstadt

Deshalb reißen auch die Diskussionen und Kombinationen um eine neue Hauptstadt Niederösterreichs nicht ab. Zuletzt hat wieder der Bürgermeister von St. Pölten seine Stadt als Hauptstadt offeriert, ein Vorschlag, der bei den Bewohnern des Steinfeldes und des Weinviertels auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte. Mödling empfiehlt sich als Residenzstadt des NEWAG- und Niogas-Chefs, hat aber sonst außer seinen landschaftlichen Reizen, die für ein solches Amt freilich nicht ausschlaggebend sein können, nur wenig haupt- städtliche Vorteile. Ähnliches gilt für Krems oder Klosterneuburg, die ebenfalls in diesem Wettbewerb schon aufgetreten sind oder zumindest genannt wurden. Eine neue Hauptstadt durch einen Willensentschluß zu kreieren, dürfte überhaupt schwer halten, wenn man nicht, wie Australien mit Can- bäfra ‘odfe¥;’Bfäili&n Wt Bräsiiftä, gewillt ist, gewaltige Summen dafür adszuwerfeh,’’ tirfi ein wirkliches Haupt daraus zu machen. Das ist in Niederösterreich weder beabsichtigt noch möglich. Denn Niederösterreich ist auf Wien zentriert und könnte ein Zentrum daneben nicht vertragen. Da die „Heimholung” Wiens nach Niederösterreich aus politischen Gründen höchstens als Utopie bewertet werden kann, bleibt als dritte Möglichkeit nur die Dezentralisierung gewisser niederösterreichischer Hauptstadtagenden. Ansätze dazu sind vorhanden: St. Pölten hat solche Aufgaben im Bereich der Kirche, der Presse und — als Sitz der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse — der Sozialversicherung übernommen. Krems hat sich mit seiner Gotik-Ausstellung in kulturellen Belangen in den Vordergrund gespielt und könnte als Vorort der Wachau und durch seine Lage am Eingang des erst zu erschließenden Waldviertels ein Zentrum des Fremdenverkehrs werden. Wiener Neustadt hat als Mittelpunkt des größten Industriegebietes seine Chancen. Mödling, Baden und Klosterneuburg liegen allzusehr im Soge Wiens, um von den übrigen Niederösterreichern als selbständige Zentren empfunden zu werden, aber immerhin hätten sie im Rahmen einer solchen Dezentralisierung etwa als Landeskongreßstädte verschiedene Möglichkeiten.

Und die Therapie? Unser Hauptanliegen war hier die Aufdeckung der traumatisierenden Krankheitsherde. Ist er einmal bewußt, wird ehrlich und offen darüber gesprochen, so ist ein wichtiger Schritt zur Besserung getan. Aber noch ein anderes wird notwendig sein. Wenn die Niederösterreicher nicht einer „Los-von-Wien”-Bewegung verfallen, wenn sie weiterhin Wien als ihre eigentliche Hauptstadt betrachten und dieses Bewußtseins froh werden sollen, dann sollten wohl auch die Wiener wieder eine Art niederösterreichischen „Patriotismus” entwickeln, der ihnen der Geschichte, der Sprache und zumeist auch der Herkunft nach nicht gar so schwer fallen sollte. Das könnte aus dem Land ohne Kopf und dem Kopf ohne Land mit der Zeit — auch ohne verwaltungsmäßige Vereinigung — einen auch seelisch gesunden, komplexfreien Organismus machen.

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