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Zwischen Traum und Lehen

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SYMBOLHAFT FÜR IHR SCHICKSAL ist die Lage der Stadt Wien: im Westen angelehnt gegen ein sanft abfallendes Gebirge, mit dem sie aufs innigste verknüpft ist, das aber gleichzeitig ihrem Vordringen nach dieser Seite hin kein schroffes, aber doch ein vernehmliches Halt entgegensetzt. Nach Norden, Osten, Süden hin ausgebreitet auf einer Ebene, die ihrem Wachstum keine Schranken errichtet, sondern völlig offen und scheinbar wehrlos ihrem Umsichgreifen ausgeliefert ist. Ähnlich hat der Westen der Stadt Wien — also die österreichischen Länder — sich immer gewehrt, den Einfluß uhd die Bedeutung Wiens zu groß werden zu lassen; während die Länder südlich, östlich und nördlich von Wien weitaus bereiter waren, sich dem Einfluß dieser Stadt zu beugen, ja, sich diesem Einfluß zu öffnen. Wer immer das Antlitz der österreichischen Städte prüft, der wird finden, daß Wien dem Beschauer nicht aus dem Stadtbild von Innsbruck oder Graz, Bregenz oder Salzburg, Kla- genfurt oder Linz entgegenblickt, sondern diese Städte ganz persönlich, individuell, in keiner Weise von Wien geformt, beeinflußt oder abhängig sind. Aber wer immer das Gebiet der ehemaligen Monarchie durchstreift, dem wird das Antlitz von Wien aus den Städtebildern von Agram und Kaschau, von Lemberg und Sarajevo, von Budapest und Reichenberg, von Brünn und Pola entgegenblicken. Sie alle sehen Wien ähnlich, wie Töchter einer Mutter ähnlich sehen.

Österreich wurde einstmals als ein „Lehen zur gesamten Hand“ vergeben: das heißt, Österreich wurde nicht an einen einzelnen Herrscher, sondern an eine ganze Familie verliehen, mit der Wirkung, daß die Mitglieder der Familie untereinander sich die Herrschaft teilen konnten. Ein Rest von diesem historischen Faktum ist heute noch in der Beziehung Wiens zu den österreichischen Städtep und den Ländern, die diese repräsentieren, übriggeblieben. Denn diese Beziehung gleicht sehr derjenigen von Schwestern untereinander: eifersüchtig auf die zuerst geborene, argwöhnisch darauf bedacht, daß sie ihnen nichts von ihrem eigenen Leben nehme, bereit, sie nur als „Erste unter Gleichen“ anzuerkennen und damit ihre Rechte aul ein Mindestmaß zu beschränken, sind sie — aus ihrem schwesterlichen Denken heraus — andererseits wieder bereit, in Familienangelegenheiten mit ihrer ältester Schwester zusammenzugehen und bei ihr Rat und Schutz zu suchen. Vor allem aber, mit ihr weiterhin im schwesterlichen Verband zu bleiben.

Die Städte innerhalb der alten Monarche sehen Wien ähnlich wie Töchter ihrer Mutter. Und ähnlich war und ist die Beziehung dieser Städte und der Länder, die sie repräsentieren, ähnlich der Beziehung von Kindern zu ihrer Mutter. Von Kindern, die unter dem Schulz ihrer Mutter aufwachsen konnten, manchmal unter ihrer Herrschaft seufzten, sie manchmal verleugneten, von ihr geformt und geprägt wurden. Sich von ihr trennten, nachdem sie groß geworden waren. Und sich dann oft dachten, wie schön und sorgenlos es doch daheim gewesen war. Von Kindern aber vor allem, die nie aufgehört haben, ihre Mutter offen oder geheim zu lieben, und deren Traum es war und ist, so wie sie zu sein. Und deren Traum es ist, sich manchmal bei ihr ausweinen und manchmal ihre Fürsorge genießen zu können.

So liegt Wien einerseits zwischen Ländern, die eine tiefe Zuneigung zu ihr haben, wie Kinder zu ihrer Mutter. Kinder, die sich trennten von ihrer Mutter.

Und andererseits zwischen Ländern, die eine große Abneigung gegen Wien haben, wie Schwestern zu der Erstgeborenen unter ihnen. Und die bei ihr bleiben, wie Schwestern beisammen. bleiben. Die einen, die weggingen, träumen .von ihr, und die andern, die blieben, die leben mit ihr: Wien zwischen Traum und Leben.

DIE UNVOLLENDETE heißt eine der schönsten Schöpfungen Schuberts. Dieses gleiche Wort — die Unvollendete — könnte über Wien gesagt werden. Denn alles in ihr ist irgendwie unvollendet. Mag es sich um Bauten, um Pläne, um Menschen handeln. Um Bauten: die Stephanskirche mit ihrem nichtausgeführ- ten Turm, die Hofburg Franz Josephs, das Stift Klosterneuburg sind unvollendet. Und die Pläne eines Hörnigk, eines Karl VI., eines Prinz Eugen, eines Metternich, eines Franz Ferdinand, die Pläne wirtschaftlicher, sozialer, politischer Natur innerhalb der Ära Kaiser Franz Josephs, sie alle blieben unvollendet. Und gar die Menschen: entweder bleiben sie „stecken“, weil sie zu wenig Mut zu sich selbst haben. So wurde aus einem Raimund kein Shakespeare, aus einem Daun kein Friedrich von Preußen, aus einem Erzherzog Karl kein Napoleon. Oder ihre Werke bleiben „stecken“, weil ihre Schöpfer zu früh sterben, mag es sich um einen Joseph L, einen Karl VI., einen Prinzen Eugen, einen Ministerpräsidenten Schwarzenberg, einen Franz Joseph, einen Lueger, einen Seipel handeln. Die Unvollendete, immer wieder die Unvollendete. Was bleibt, ist ein Provisorium, von dem es in Österreich heißt, daß es das einzige sei, das in diesem Land Bestand habe. Aber ist das Leben — von einem nicht irdischen Standpunkt aus betrachtet, nicht selbst ein einziges Provisorium, ein Übergang? Und kann es — von dem gleichen Gesichtspunkt aus — denn, auf dieser Welt jemals etwas Vollkommenes .geben oder wird nicht vielmehr alles unvollendet bleiben müssen auf ihr? Vielleicht ist dieses Schicksal von Wien — die Unvollendete zu sein — deshalb gar nicht so bedauerlich. Und ist dieses ihr Schicksal sogar das Geheimnis ihres besonderen Charmes, so wie der unvollendete Stephansdom — wahrscheinlich — schöner ist wie der ausgebaute, die unausgebaute Hofburg — sicherlich — schöner wie die vollendete, die „steckengebliebenen“ Menschen menschlicher als die vollkommenen — und brutalen — Renaissancefiguren.

Schicksal und Geheimnis von Wien: zu wissen, daß man nach Vollendung ringen soll, aber sie auf dieser Welt nie erreichen kann. „Hoffen wir auf das Beste“, sagen die Wiener, „und sind wir auf alles gefaßt.“ Oder: Wien zwischen Traum und Leben.

WER AN EINEM KLAREN TAG vom Leopoldsberg hinab auf Wien und seine Umgebung blickt, der erblickt einen der neuralgischen Punkte der Welt. Bis hie- her, bis zur Donau gelangten die Römer. Bis zur Senke von Preßburg der Vorstoß der Germanen im 10. Jahrhundert und der Vorstoß der Mongolen im 13. Jahrhundert. Der Vormarsch der Türken kam über Wien nicht hinaus, und ebensowenig der Vormarsch der Schweden unter Torstenson im 30jährigen Krieg. Przemysl.

Ottokar II. verlor am Marchfeld Leben und Reich, und Napoleon bei Aspern den Nimbus des „Unbesiegbaren“. Die Hus- siten, die aufständischen böhmischen Stände — sie gelangten bis Wien. Der preußische Vormarsch im Jahre 1866 hörte bei Floridsdorf auf. Die stärksten Revolutionen des Kontinents griffen nach dieser Stadt, gingen wie ein Fieberschauer durch ihren Körper, ohne von ihr dauernd Besitz ergreifen zu können. Die erfolgreichsten Revolutionäre, wie Hitler, Masaryk, Trotzki, verließen sie unmutig, nachdem sie entscheidende Jahre ihres Lebens in ihr verbracht hatten, von ihr lernten — und von ihr nicht zur Kenntnis genommen wurden.

Welches Geheimnis besitzt diese Stadt, daß die stärksten Mächte, die um sie, die ewig schwache ringen, unter ihren Augen ihren Nimbus verlieren, ihre Macht zuschanden wird?

Welches Geheimnis besitzt diese Stadt, die es ihrerseits vermochte, acht, elf, ja sechzehn und mehr Nationen in einem Reich friedlich zu vereinen? Nationen, die die heterogensten Elemente darstellten, völlig verschieden in ihrer nationalen, sozialen, religiösen Struktur? Die sofort Todfeinde wurden, wenn sie dem Bereich dieser Stadt entschwanden?

Zur gleichen Zeit, da während der Französischen Revolution in Paris der Göttin der Vernunft ein Tempel gebaut wird, errichtet Wien ebenfalls Tempel: das Innere der Stiftskirche ist ein solcher, der Vorbau der Michaelerkirche ebenfalls. Nicht weniger die Tabernakel der Seitenaltäre in der Kirche „Am Hof“ Aber alle diese Tempel sind nicht der Vernunft als der höchsten Gottheit, sondern Gott als der höchsten Vernunft errichtet. Unter den Augen, von Wien wurde ein Angriff auf die Kirche völlig entkräftet, und mußte verwandelt der Kirche dienen. Und zur gleichen Zeit, da die Mächte der Welt sich feindlich gegenüberstehen, fahren sie in dieser Stadt gemeinsam als „Vier in einem Jeep“ durch ihre Straßen, treffen sich ihre Vertreter jede Woche, zanken sich ein wenig, einigen sich selten und gehen auseinander mit dem Vorsatz, sich wieder zu treffen. Unter den Augen von Wien bietet sich einer Welt des Unfriedens das seltsame Bild eines friedlichen Nebeneinander.

Welches Geheimnis besitzt diese Stadt, die alles dies zusammenbringt?

Das Geheimnis dieser Stadt Wien — eines ihrer Geheimnisse — ist, daß sie etwas sehr Mütterliches an sich hat. Man fühlt sich, woher immer man kommt, bei ihr „zu Hause“. Und wie eine gute Mutter will sie nicht, daß Unfrieden herrscht und Gewalt, sondern daß, zumindest unter ihren Augen, die Gewalt ihren Nimbus verliert, die Menschen sich vertragen. Und wie eine gute Mutter will sie immer versuchen, alle, auch die schlechtesten Situationen, zum Guten zu wenden.

Es ist ein sehr mütterlicher Traum, dieser Traum von Wien über den Frieden und das Gute. Ein Traum, den es ihr nur zu oft gelungen ist, in das Leben umzusetzen. Wien: Schicksal zwischen Traum und Leben.

ABER NICHT NUR etwas sehr Mütterliches hat Wien in sich, sondern auch etwas von dem Wesen einer Frau. Die Kräfte des Intellekts werden überwogen durch die Kräfte des Gemüts, des Herzens, der Ästhetik. Kein großer Philosoph ist aus ihr hervorgegangen im Laufe der Zeit, kein Philosoph, der annähernd den Rang eines Hegel, eines Nietzsche, eines Schopenhauer eingenommen hätte. Auch kein großer Theologe ist aus ihr hervorgegangen im Rang eines Thomas, eines Scheeben, eines Guardini, eines Lagrange. Wohl aber sind immer die großen Künstler aus ihr hervorgegangen, hat die Kunst in ihr eine Heimstatt gefunden. Mag es sich um die Kunst der Malerei, der Architektur, der Musik, die Staatskun6t handeln.

Wien hat das Wesen einer Frau: das besteht nicht nur darin, daß viele Menschen in sie verliebt und ihr verfallen sind, sondern daß sie die Kraft, die sehr anonyme Kraft besitzt, aus Menschen das zu machen, was sie eigentlich sind. Wer die Geschichte Wiens durchblättert, findet ungezählte Beispiele als Beweis dafür: mag es sich um den Rheinländer Metternich, den Hamburger Brahms, den Niederländer Van Swieten, den Schwaben Abraham a Sancta Clara, den Bayer P. Abel, den Sudetendeutschen Schindler, den Salzburger Mozart, den Rheinländer Beethoven, den Mecklenburger Vogelsang, den Italiener Prinz Eugen von Savoyen, den Balten Laudon, den Elsässer Bartenstein, den Dänen Theophil von Hansen, den Lothringer Jadot, den Prager Werfel, den Ungarn Szecheny, den Schweizer Hurter handeln. Sie alle wurden in Wien und durch Wien das, was sie sind. Der Traum, der in ihnen Verborgen lag, wurde durch Wien zum Leben. Und andererseits wurde Wien durch alle diese Talente, die es entdeckte, förderte und zur Blüte brachte, nicht nur bereichert, sondern vor allem zu dem, was es seiner Bedeutung nach ist. Es erweckte die Träume zum Leben, und das Leben in seinen Mauern wurde für viele ein Traum: Wien! Schicksal zwischen Traum und Leben.

DIE KIRCHE VON NOTRE-DAME in Paris, der religiöse Mittelpunkt Frankreichs, liegt inmitten der Stadt. Aber sie liegt auf einer Insel, umgeben von Stille. Symbol, daß die Religion in Frankreich oft nur den Platz einer stillen, ausgesparten Insel einnimmt, an der das Leben vorüberflutet? Und der Dom zu St. Veit in Prag liegt auf dem Hradschin, oberhalb und am Rande der Stadt. Symbol dafür, daß die Religion in diesem Land für die meisten Menschen am Rande, weit oberhalb ihres Lebens liegt? In Wien aber befindet sich der Dom von St. Stephan inmitten der Stadt, nicht am Rande, nicht auf einer stillen Insel, sondern das Leben pulsiert an ihm vorbei, um ihn herum, ja durch ihn hindurch. Symbol dafür, daß der Glaube inmitten der Menschen dieser Stadt immer wohnen wird? Als Mitte ihres Daseins? Auch hier: ein Traum, der Leben werden kann. Um das Schicksal einer Stadt zu bestimmen. Wien: zwischen Traum und Leben.

WIEN IST JENE STADT, die die Wissenschaft vom Traum erfand. Eine Wissenschaft, die nachweist, daß zwischen den Träumen der Menschen und ihrem Leben ein seltsamer Zusammenhang besteht: in den Träumen zeigt sich meist das wahre Gesicht des Menschen, während ihr Leben meist nur ein verkümmertes, unvollendetes enthülle. Der Mann, der diese Wissenschaft erfand, hieß Sigmund Freud. Er machte sich mit seiner Entdeckung einen Namen auf der ganzen Welt. Wien selbst nahm kaum Notiz von seiner Entdeckung. Nur zu begreiflich: denn seit Jahrhunderten wußte Wien um diese Beziehung, seit Jahrhunderten lebt es teils „Zu ebener Erde“, teils „Im ersten Stock“. Einmal zieht der „erste Stock“ hinab zur „ebenen Erde“, einmal die Leut von „der ebenen Erde“ hinauf zum „ersten Stock“. Einmal wird der Traum ein Leben, dann wieder vollendet sich das Leben nur im Traum. So ist es und wird es das Schicksal der Stadt Wien bleiben: ein Schicksal zwischen Traum und Leben.

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