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Die Donau

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Der Rhein und die Donau bilden das Koordinatensystem Europas. Der Rhein trennt die germanische von der lateinischen Welt, die Donau führt asiatische Einflüsse bis an den Kern Europas und läßt europäisches Leben sich bis an den Rand Asiens ergießen.

Versteckt in einem Winkel des Oberrheins, im deutschen Hochland, entspringt die Donau und fließt nach Südosten. Zuerst deutsch, dann österreichisch, tschechisch, ungarisch, serbisch, rumänisch, bulgarisch und wieder rumänisch, bietet sich die Donau zuvorkommend als Grenze zwischen allen diesen Völkern an und, was noch wichtiger ist, als Straße, auf der sich Europa nach Osten und der Osten nach Europa bewegt.

Denn im wesentlichen ist „Osten“ für Europa der Südosten, dann Kleinasien und dahinter Persien, Indien und China. Rußland ist entweder selbst europäisch oder sibirisch, jedenfalls kein echter „Osten“. Die Donau, ein Band zwischen den südöstlichen Hauptstädten — Wien, Preßburg, Budapest, Belgrad, Bukarest — ist die große östliche Straße, und wenn sie auch geographisch, streng genommen, in der Nähe von Konstanza ins Schwarze Meer fließt, so endet historisch und geistig die Donau doch in Konstantinopel.

Der Sultan der Türkei war schließlich im 19. Jahrhundert noch immer der nominelle und in manchen Fällen der tatsächliche Souverän vieler Balkanländer, und es gibt noch heute mohammedanische Europäer in Albanien, Jugoslawien und in anderen Gebieten des Donautales. Man fühlt Konstantinopel schon in Wien — etwa in der stillen Erwartung eines Bakschisch, der man den ganzen Tag bei Dienstboten, Portiers und Liftboys begegnet, während sie nirgend woanders davon träumen würden. In gewissem Sinn waren, und sind wahrscheinlich heute noch, Wien und Konstantinopel die zwei Pole des Donaugebietes, so daß sich nach der Auflösung des Türkischen Reiches ein Gebilde dieser oder jener Art mit Wien als Hauptstadt von selbst aufdrängen mußte.

Die Auflösung des Habsburger Reiches wird oft auf das Schuldkonto des ersten Weltkrieges gesetzt. Tatsächlich war sie eine seiner Ursachen. Habsburg fiel hauptsächlich aus zwei Gründen auseinander: wegen der unnachgiebigen Haltung der kleinen Clique österreichischer und ungarischer Aristokraten, die nicht die obersten Aemter mit den Tschechen, Kroaten, Slowenen und Polen teilen wollten, und infolge der unheilvollen Theorie, die Staat, Nation und Sprache identifiziert, eine Theorie, die immer noch verbreitet ist, Unheil anrichtet und noch ärgere Uebel ausbrütet. Eines Tages wird Europa vielleicht klug genug geworden sein, um zu ermessen, wie unschätzbar wertvoll es für eine Nation ist, aus Völkern, die verschiedene Sprachen sprechen, zu bestehen. Im Jahre 1918 waren wir noch lange nicht so aufgeklärt und dachten, daß jede Sprache ihren eigenen Staat haben müsse.

Die untere Donau ist in Europa' noch immer das Gebiet der Männer, deren eigentliche Kraft sozusagen von unterhalb des Zwerchfells kommt. Es ist die Welt starker, nein, wilder männlicher Leidenschaften, die sich in Bürgerkriegen und internationalen Streitigkeiten ausleben. Die lang andauernde türkische Besetzung hat dieses Gebiet gehindert, sidi im selben Rhythmus wie das übrige Europa zu entwickeln, und je nach dem betreffenden Nationalcharakter entweder eine fatalistische Fügsamkeit begünstigt oder die Gewohnheit verschwörerischer und gewalttätiger Erhebungen gegen die Herrscher. Das Ueberwiegen der bäuerlichen Bevölkerung macht die Region zu einer der malerischesten Europas und zu einem folkloristischen Paradies, ein jetzt vielleicht verlorenes Paradies.

Es ist charakteristisch für den Geist Europas, daß das Rheinland auf die Flußmündung und auf das Meer blickt, das Donauland aber seiner Mündung den Rücken kehrt und nach Wien schaut. Solche Feststellungen sind nicht durch Statistiken, Argumente oder Schlachtendaten zu beweisen, man muß sie fühlen und zu ihnen stehen. Trotz des Auseinanderbrechens der österreichischen Monarchie (und dies sei mit allen Vorbehalten im Hinblick auf die Zukunft einer wandelbaren Zeit gesagt) ist Wien das Zentrum der Donauwelt geblieben in sehr ähnlicher; Weise wie Paris das Zentrum des übrigen Europas ist. Dies beruht vielleicht auf gewissen Eigenschaften, die Paris und Wien gemeinsam haben. Diese beiden Städte sind wesentlich feminin im kulturellen Bereich, obwohl Paris oft eine männliche Rolle in der Politik gespielt hat — die Rolle könnte man sagen, einer Frau mit einem männlichen Verstand, wie- Katharina von Medici oder Katharina von Rußland. Beide, Wien und Paris, sind feminin, weil beide im höchsten Grad die Gabe der Form besitzen. Sie unterscheiden sich insofern, als Paris es vorzieht, geistige Rohstoffe zu formen und Wien sich lieber den Rohstoffen des Gefühles widmet. In Paris ist es daher die Literatur, die wächst und gedeiht, in Wien die Musik. Dies erklärt übrigens die Ausbrüche männlicher Energie in Paris, da es um Ideen geht, diese mächtigen Triebkräfte politischer Aktion.

Wien zieht unterdessen das Ungestüm, 'die männliche, ursprüngliche, ungeformte Kraft der Balkanvölker an sich, die sich das Donautal aufwärts auf die Stadt zu bewegen, bereichert vor allem durch den ungarischen Rhythmus. Jahrhunderte höfischen Lebens haben der alten Stadt ihren Schliff gegeben. Die musikalischen Traditionen Deutschlands und Italiens vermischen sich innerhalb ihrer Grenzen. Ist es erstaunlich, daß Wien die musikalische Metropole von Europa wird? Hier lebten einst Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, räumlich und zeitlich in kurzer Entfernung voneinander, und eine Schar geringerer Begabungen, welche jede andere Stadt in den Annalen der Musik berühmt gemacht hätte. Bis zum heutigen Tag hat Wien mit Bruckner, Mahler und Schönberg seine Vorrangstellung als Hauptstadt der europäischen Musik bewahrt.

Aber sollte Wien nicht wirklich die Hauptstadt Europas auf allen Gebieten sein, wenn es jemals so weit kommt, daß Europa sich konstituiert? Soviel man auch suchen mag, man wird keine andere Stadt finden, die mit so viel Recht spezifisch europäisch genannt werden kann. Paris ist französisch, London ist englisch, Rom ist italienisch. Zugegeben, Wien ist österreichisch, aber dieser Einwand läßt sich sehr leicht abtun. Es könnte nämlich richtiger sein, zu sagen, daß Oesterreich wienerisch ist, denn es ist kaum mehr als ein Hinterland der Stadt, die es mit ihrem Geist überstrahlt. Dieser Geist ist übrigens nicht deutsch. Das sprachliche Argument ist hier wie kaum in einem anderen Fall unzutreffend, wie höchstens noch bei den Amerikanern und Engländern, die trotz der (mehr oder weniger) gemeinsamen Sprache so sehr verschieden sind. Jemand fragte nach dem Anschluß einen Oesterreicher: „Wie verläuft die Angelegenheit?“ „Oh, ausgezeichnet“, antwortete der Oesterreicher, „mit deutschem Scharm und österreichischer Gründlichkeit.“ Mit echt österreichischer Ironie umgekehrt, haben wir hier den Unterschied in einer Nußschale. Die Deutschen sind gründlich und tüchtig bis zur Unmenschlichkeit. Die Oesterreicher sind menschlich, scharmant und schlampig. Sie verfügen auch über eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem, was folgt, dem nächsten Schritt, dem Endergebnis.

Daher hat niemals jemand den Geist Oesterreichs und besondei's Wiens besser zum Ausdruck gebracht als Schubert. Denn Schubert ist der anmutigste und unkonsequenteste aller Musiker. Seine lieblichen Melodien scheinen in einer Art taumelnder, schwebender Bewegung zu schwelgen, ähnlich der eines Blattes oder eines Bogens Papier, wie von der sanften Luftströmung seiner „Sehnsucht“ getragen.

Dieser passive, weibliche Charakter des Geistes von Wien scheint es für die Rolle, die Hauptstadt Europas zu sein, zu prädestinieren. Denn hier finden alle Neigungen und

Spielarten des europäischen Geistes bereitwillige Aufnahme. Deutsch und italienisch, französisch und orientalisch, durch_die Geschichte mit der Rheinmündung und mit Spanien verbunden — der Wiener Hof sprach fast zwei Jahrhunderte lang spanisch —, so jüdisch wie nur je eine europäische Hauptstadt, ist Wien jetzt schon ein europäischer Mikrokosmos. Möge bald seine Freiheit wiederhergestellt sein und mit ihr die des europäischen Kontinents, dessen natürlicher Mittelpunkt es ist.

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