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Die Zukunft des Donauraumes

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Unter den gestaltenden Kräften des Donauraumes gibt es einige, die unverlierbar sind. Diese Kräfte und ihre Wurzelböden versiegen auch nicht unter dem Druck zeitweiliger Krisen, sondern werden unter solchem Druck oft zu einem tieferen und reicheren Aufquellen gebracht. In diesem Zusammenhang sind vor allem zu nennen:

• die Landschaft;

• ein bestimmter Typ des Menschen;

• ein gemeinsames Schicksal.

Nach 1918 schien es den meisten

Nationen des Donauraumes, als wäre nach einer unausstehlich langen Epoche des Unglücks und der Verirrung endlich die Stunde null eines nationalen Daseins und Freiheit und Unabhängigkeit angebrochen. Es ging damals (auch unter gewissen Österreichern) kein mit mehr Fluch und Verachtung beladenes Wort um als das Wort Österreich.

Das Österreich, das heute in den Kreis der anderen Länder und Nationen des Donauraumes tritt, ist die nach 1918 entstandene Alpen- repüblik. Sie ist nicht der Rechtsnachfolger Altösterreichs; sie kann nur in einem bescheidenen Maße der Nachlaßverwalter sein. Das Österreich, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Schnittbereich einer zweigeteilten Welt seine Existenz behauptet, will weder in einem unlösbaren Bündnis mit dem Gewesenen zugrunde gehen noch in den Rang einer geschichtslosen Nation herabsinken. Auch den Österreichern blieben in den letzten 50 Jahren nicht die bitteren Erfahrungen und die schmerzlichen Einsichten erspart, die gleichzeitig über alle Nationen des Donauraumes gekommen sind; und die sich in dem Satz zusammenfassen lassen, mit dem der 16. Präsident der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln, die Kraft der Kontinuität in Zeiten revolutionärer Umsturzbewagungen anerkannt hat: One can not escape history. Und so können die Nationen des Donauraumes der Geschichte nicht entkommen, vor allem der nicht, die ihnen gemeinsam verbleibt.

Dieses Gemeinsame ist selbstverständlich nicht nur im Raum Wien gebündelt worden. Sehen wir von den Versuchen raumfremder Großmächte ab, die ihrerseits versucht haben, nach den Motiven ihrer Existenz eine supranationale Ordnungsmacht im Donauraum aufzurichten, dann müssen wir jedenfalls folgende übernationale Herrschaftsordnungen in Betracht ziehen: Im Westen des Donauraumes die aus Österreich kommende; im Norden die der Mährer und Böhmen; im

Osten die der Magyaren; im Süden die der Serben und Bulgaren.

In der Ära der patriotischen Geschichtsschreibung hat es hierzulande nur ein Bild des Donaureiches gegeben, das sozusagen genuin und legitim gewesen ist: das der Habsburger. Alle anderen vorangegangenen, gleichzeitigen und nachfolgenden Ordnungsmächte wurden nur als zeitweise und höchst unangebrachte Unterbrechungen der sich im Haus Österreich himmelhoch auftürmenden Ordnung angesehen. Vielleicht war das mit ein Grund dafür, daß im Habsburgerreich die ähnlich strukturierten, aber anders orientierten Ordnungsideen der Slawen und Magyaren als unorganisch und fremd angesehen wurden, um so an den Rand des Geschehens verbannt und ein wenig diskriminiert erst recht zu dem wurden, was zuletzt eine Fatalität der habsburgischen Ordnung werden sollte: Unterdrückte nationale

Motive, die sich in Zeiten von Krisen stets als außerordentlich brisant erweisen sollten.

Ziehen wir aus den geschichtlichen Erfahrungen eine Quersumme:

• Die Ordnungsmacht im Donauraum ist nicht än einen Mittelpunkt gebunden gewesen; Prag, Budapest und Wien haben sukzessive und abwechselnd diesen Mittelpunkt ausgemacht. Dieser geschichtlichen Erfahrung versuchte zuletzt die sogenannte Triaslösung für die Spätkrise des Habsburgerstaates im 20. Jahrhundert zu entsprechen: Ein Trigon der Ordnung, aufgerichtet über den deutschen, slawischen und magyarischen Elementen des Reiches.

• Die umfassende Ordnungsmacht der Habsburger im Donauraum ist ohne die vorangegangenen übernationalen Ordnungen nicht denkbar. Das Großreich der Habsburger von 1526 bis 1918 vollzog daher nicht nur eine staatliche Integration auf dem Boden der politischen Staatengeschichte, sondern zugleich eine kulturelle, wirtschaftliche und menschliche, deren Auswirkungen den Wechsel legitimierender Ideen aller Art bei weitem überlebt haben.

• Als die letzthin gemeinsam bindende Kraft erwies sich niemals allein das dynastische Interesse an den sogenannten „zusammengeheirateten Ländermassen“, sondern der gemeinsame Raum im Schnittbereich der germanischen, slawischen und romanischen Welt rund um die magyarische Enklave, ein vielschichtiger Mutterboden nationaler, religiöser und menschlicher Vielfalt. Während in Westeuropa das nationalstaatliche Ideal entstand und wirksam wurde, wurde im Donau- , raum die Vita communis der Donau- ‘ Völker das Motiv des Lebens der Vielen in einer Einheit.

• Keines der sukzessive aufeinanderfolgenden supranationalen Reiche hat sich als ein melting pot, als ein Schmelztiegel der verschiede- : nen nationalen Kulturen erwiesen, ; wie dieses infolge der Nations- ‘ werdung in den USA gewesen ist. Nach der Auflösung der Habsburger- i monarchie haben sich die nationalen j Integritäten der Tschechen, der : Polen, der Kroaten und anderer j Nationen als die am meisten halt- baren Kerne der Nachfolgestaaten dieser Nationen erwiesen. i

• Was blieb und was wir für die i Zukunft in Rechnung stellen, das i sind keine Bruchstücke Österreich- Ungarns, sozusagen die Scherben, die die sozialen und nationalen i

Revolutionen hinterlassen haben; sondern ursprüngliche Elemente, die, zeitweise besser oder schlechter zueinandergefügt, jedenfalls im Donauraum originär geblieben sind; die die verschiedenen übernationalen Ordnungen, die sie vor der Auslöschung durch raumfremde Mächte bewahrt haben, mit einer ungebrochenen Lebenskraft überdauert haben, und über deren Zueinander in der Zukunft jetzt etwas auszusagen sein wird.

Der Donauraum wird zuerst und zuletzt Teil des Schicksals Europas sein, dessen Kemiand er war, ist und bleiben wird. Wir wissen, daß bereits der Ausgang des ersten Weltkrieges der früheren Weltgeltung des alten Kontinents einen schweren Schlag versetzt hat; zugleich mit dem damals beginnenden Abstieg Europas begannen die Länder außerhalb Europas mit raschen Schritten ihren Aufstieg.

Der zweite europäische Krieg ruinierte den Kontinent vollends; politisch, wirtschaftlich, moralisch, ideologisch. Die meisten Haltepunkte einer europäischen Vormachtstellung sind verlorengegangen; Weltmächte mit starken außereuropäischen Basen ihrer Macht haben im Osten und Westen des Kontinents Brückenköpfe ihrer

Macht errichtet. Sie bestimmen letzten Endes allein unser Schicksal.

In einer Stunde wie dieser müßten sich die Länder und Völker des Donauraumes die Fragen vorlegen: Wollen wir es mit der Toleranz (ich meine die echte Toleranz) halten oder mit der Polemik ideologisch gefärbter Ersatzreligionen ohne

Ende? Soll für unsere erneuten Begegnungen der Wille zur Sachlichkeit bestimmend sein oder eine verdeckte oder offene Proselytenmacherei? Bejahen wir das Gesetz einer geordneten Gesprächssituation, oder wollen wir uns weiter in Monologen hinter chinesischen Mauern gefallen? An diesem Punkt der Erwartungen gabelt sich der

Weg durch das Dickicht der Feindseligkeit, des Mißtrauens und des Nichtverstehenwollens, durch das wir jetzt mühselig die ersten Notstege der Nachbarschaft, des -gegenseitigen Vertrauens und des Verständnisses bahnen.

Das Netz der Kleinräumigkeit, das über den Donauraum geworfen worden ist, kann Fluch und Segen, Risiko oder Chance der davon betroffenen Menschen sein. Zu oft standen und stehen auch heute hinter den unsäglichen Nöten der kleinen und allzu kleinen staatlichen Gefüge des Donauraumes die Unlösbarkeiten der nationalen Fragen, Fragen, die in einer uneinigen und miteinander verfeindeten Welt in die Größe von Weltproblemen projiziert werden. Die Völker des Donauraumes siedelten und siedeln nicht in scharf unterscheidbaren Räumen mit fester Konsistenz, sondern in einer Schütterzone mit stark changierenden Verhältnissen an den Rändern und Nahtstellen, über die immer wieder die Wellen des An- siedelns und des Aussiedelns hin- und hergegangen sind.

In vielem haben wir eine Heimat: Im Schönen: denken wir an das Wunder des Barocks in Niederösterreich, in Böhmen, in Ungarn; in der Wissenschaft: denken wir an die Söhne zweier Völker und an die, denen mehrere Völker die geistige und menschliche Heimat gegeben haben; und im Blut: denken wir an tausendfaches Leid und gleichviel Glück aus unseren Verwandtschaften und Schwägerschaften, deren Blut in Strömen durch uns fließt.

Einmal hat man das alte Österreich einen Völkerkäftg genannt. Könnte man jetzt eine Rundreise über die große Fläche unternehmen, die einmal innerhalb der österreichischen Grenzpfähle lag, dann würde man häufig Spuren dieser Gemeinsamkeit wahrnehmen und zumeist keine schlechten. Ich meine hier nichts Körperliches, nichts Nationales und nichts Staatliches;

denn Geschichte läßt sich weder wiederholen noch unverändert erhalten. Ich meine nicht eine Sehnsucht nach vergangenen Formen oder Machtverhältnissen; ich denke an jene besondere Denkungsart und rein menschliche Verhaltensweise, die es unseren Vätern und Vorvätern möglich gemacht hat, miteinander jahrhundertelang auszukommen; trotz religiöser und nationaler Span- nugen, trotz der im Gange befindlichen sozialen und nationalen Revolutionen; trotz des Eisernen Vorhanges. So wie in der Physik fügt sich auch im menschlichen Zusammenleben leichter das Kleine zum Kleinen als das unendlich Große zum Großen. Das ist die Chance der Länder und Nationen des Donauraumes.

Und es kommt noch eines dazu: Wenn Herr de Gaulle auf Europa schaut, dann schaut er nach Osten; so ist es nun einmal vom Standpunkt Paris aus. Und wenn Herr Kossygin nach Europa blickt, dann geht sein Blick nur nach dem Westen; so ist das nun einmal, wenn man seinen Standpunkt im Kreml hat. Wir, die Menschen in der Mitte dieses Kontinents, können unsere Welt nicht nur in der einen Blickrichtung sehen; für uns ist der Blick auf Europa ein Umblick in alle Richtungen der Windrose; zugegeben, das ist ein Standpunkt, der strapaziös ist; nicht wegen des Drehmoments, sondern wegen der Festigkeit des eigenen Standpunktes, den man dabei nicht verlieren darf.

Wenn in unserer Zeit wie zu allen Zeiten die Gespräche und die Auseinandersetzungen der Ungarn und der Rumänen, der Tschechen und der Ungarn, der Südslawen und ihrer Nachbarn im Gange sind; wenn man über das gemeinsame Schicksal unserer Vielzahl und unserer Einheit spricht, soll man nicht auf Österreich vergessen. Zur Existenz Österreichs gehört sein Fundament im Donauraum, ebenso wie eine Ordnung im Donauraum, die Österreich außer acht lassen würde, lückenhaft wäre.

Österreich, das ist heute nicht äußere Macht und anspruchsvolle Überlegenheit; Österreich ist heute der kleinste Staat im Donauraum; aber es isit der Staat mit dem größten Besitz: Er gehört zu keinem Brückenkopf, er ist europäisch und in Europa Donaustaat. Österreich ist ein Sachwalter der Einheit der Vielen denn Österreich ist ein neutraler Staat.

Wer von Wien aus auf Europa schauen will, der tue es am besten vom Kahlenberg aus. Er schaut dann von den östlichsten Ausläufern der Alpen auf das Wiener Beoken, das von der Donau in östlicher Richtung durchflossen wird, und er wird gewahr, daß hier, rund um diese Stadt, große und für das Schicksal ausgedehnter Kulturgebiete wichtige Räume Zusammentreffen. Österreichs. Anteil an den Alpen, seine Randlage an der pan- nonischen Ebene, die Nachbarschaft zum böhmischen Kastell, die Ein- bezogenheit in die europäische Stromlandschaft der Donau wird sichtbar. Es ist ein Schnittpunkt germanischer, slawischer und romanischer Welt. Wer so die Welt im Umkreis Wiens sieht, der erkennt, daß unser Land unlösbar mit dem Donauraum verbunden ist

Vorhin war vom Risiko Europas in der Zukunft die Rede; für ein geeintes Europa liegt in dieser Zukunft auch eine Chance; dieses geeinte Europa wird es nicht geben, wenn es nicht zwischen den mächtigen Flanken eine starke und lebenswillige Mitte gibt. Wer Europa will, muß zunächst die menschliche, geistige, wirtschaftliche und politische Nachbarschaft des mitteleuropäischen Donauraumes bejahen. Das ist eine Aufgabe der Nationen dieses Raumes, die uns niemand abnehmen kann und will. Diese Aufgabe trägt unsere Zukunft.

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