Im Herzen Europas, Europa IM HERZEN?

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Europa und die EU verändern sich gerade rasend schnell. Wo liegt Mitteleuropa heute? In welchem Verhältnis steht diese zentrale Region zum Rest der Europäischen Union? Und wie steht es um die Rolle Österreichs im heutigen „Vereinten Europa“? Ein Gastkommentar.

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Europa und die EU verändern sich gerade rasend schnell. Wo liegt Mitteleuropa heute? In welchem Verhältnis steht diese zentrale Region zum Rest der Europäischen Union? Und wie steht es um die Rolle Österreichs im heutigen „Vereinten Europa“? Ein Gastkommentar.

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Was war die Rolle Mitteleuropas in den 70er-Jahren? Es war eigentlich nichts anderes als eine Erinnerung an die Gemeinsamkeit Europas. György Konrad hat es Meta-Ebene des Geistes genannt, aber es war in dem Sinn kein politisches Konzept, sondern die Erinnerung an die Zusammengehörigkeit des Kontinents. Rostlöcher im Eisernen Vorhang wurden ausgenützt, daher kam auch die Stärke des kulturellen Lebens, das früher schon zusammengefunden hat, als es der Fall des Eisernen Vorhangs überhaupt ermöglicht hat. Der europäische Integrationsprozess, aber auch die Globalisierung haben andere Bedingungen für Europa geschaffen, mit denen wir heute fertig werden müssen. Mitteleuropa ist eine wichtige historische Erinnerung, weil wir daraus lernen können, was richtig und was falsch in der Vergangenheit war und in der Mitte des Kontinents zur Stabilisierung und zum Frieden beigetragen werden muss. Die "Zelebration" der 100 Jahre seit 1918 sollte uns dabei helfen.

Welche Veränderungen sind es, die Europa beeinflussen? Ich möchte einige Punkte nennen, von denen ich glaube, dass sie eine beachtliche Relevanz haben, aber nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Die politische Geografie Europas wird der natürlichen Geografie wieder ähnlicher: Um es an primitiven Beispielen sichtbar zu machen, haben die Wiener lernen müssen, dass Prag eine Stadt im Nordwesten und nicht im Osten ist.

Veränderung des Sicherheitsparadigmas: Die Ost-West-Teilung hat zu einem Denken in Militärblöcken geführt. Dieses Denken hat sich aus der Öffentlichkeit noch nicht ganz verabschiedet, wobei die Konflikte von heute intern sind, wie Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Tschetschenien und Georgien ganz deutlich zeigen. Europa hat noch kein Instrumentarium entwickelt, um damit umzugehen. Donald Trump trägt nicht zur Beruhigung bei!

Europäische Trennlinien: Die Veränderung in unserer Nachbarschaft verlangt von uns, dass wir uns mit echten und vermeintlichen Trennlinien beschäftigen. Ich meine zum Beispiel die alte und oft bemühte Trennlinie zwischen Rom und Byzanz, zwischen Katholiken und Protestanten einerseits und der Orthodoxie andererseits, aber auch die zwischen westlich und östlich und natürlich zwischen Arm und Reich. Gegenwärtig neigen wir dazu, solche Trennlinien zu vertiefen. Eine Strategie zur Überwindung ist mit freiem Auge nicht erkennbar, die Probleme mit dem Islam sind auch in Mitteleuropa präsent.

Gibt es einen Neonationalismus? Davon ist oft die Rede, wenn man an manche Strömungen in den Transformationsstaaten denkt. Ich glaube, dass die Beurteilung nicht fair ist, denn auch der Westen Europas hat eine Reihe von Problemen wie etwa das Baskenland, Nordirland und andere nicht verkraftet. Wir können Südtirol auf der positiven Seite der Bilanz anführen, aber zweifellos gibt es eine durchgehende Tendenz, sich mit Populismus der Probleme zu bemächtigen. Dazu gehört die Wanderungsfrage ebenso wie die Staatsbürgerschaftspolitik. Es handelt sich allerdings in unserer östlichen Nachbarschaft nicht um einen Neonationalismus, sondern tatsächlich um die alten Probleme, die schon früher nicht bewältigt wurden und in das Gefrierfach des Kommunismus gekommen sind. Hier kann man vom "alten" Mitteleuropa lernen.

Die Entwicklung einer neuen Rolle des Kleinstaates ist für Mitteleuropa entscheidend. War der Kleinstaat für eine gewisse Zeit hoffnungslos abgeschlagen und ohne Chancen, so geben die europäische Integration und die Häufigkeit des Kleinstaates die Möglichkeit, mehr als bisher auf das Geschehen Einfluss zu nehmen. So hat der Vorsitz innerhalb der Europäischen Union Möglichkeiten eröffnet, die wir früher nie gehabt hätten. Dadurch haben "die Kleinen" die Möglichkeit, Entscheidungen mit zu beeinflussen, die Stimme nicht nur zu erheben, sondern sie auch abgeben zu können.

Seit 1989 hat sich die Ausrichtung Mitteleuropas geändert. Mehr Gemeinsamkeit ist wieder möglich geworden, wenngleich sie auch noch nicht in dem Ausmaß eingetreten ist, wie sie wünschenswert wäre. Es wäre interessant, für die kleineren Staaten in der Mitte des Kontinentes nicht eine Gruppenbildung, aber eine Artikulierung von gemeinsamen Interessen durchzuführen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir pflegen nicht nur unsere Vorurteile, sondern auch die Konflikte: daher mehr Grenzkontrollen und Abschottung.

Wie orientiert sich Österreich?

Jenseits aller Staatsideologie oder gar der üblichen Sonntagsreden-Sätze wie "Mitteleuropa ist eine Brücke zwischen Ost und West" oder "Drehscheibe Europas" sollten wir aus unserer gegenwärtigen Position doch das Beste machen. Tun wir das? Die Kontakte zu unseren Nachbarn waren schon einmal besser. Es gibt wenig Versuche von uns, die manchmal schwer verständliche Positionierung unserer Nachbarn (Visegrád-Staaten etc.) verständlich zu machen oder überhaupt von unserer Seite zu verstehen und auch zu beeinflussen. Da entstehen z.B. Modelle für unser Verhalten, die uns in Wirklichkeit aus der Gemeinsamkeit Europas immer ein wenig herausführen -wobei wir das natürlich auch rasch dementieren. Wirtschaftlich sind wir nach wie vor stark verbunden, profitieren auch davon, doch das Gefühl einer befreundeten Nachbarschaft will nicht so recht aufkommen. Das allein kann nicht mit dem Ruf nach mehr Sicherheit begründet werden, wobei die eigentlichen Herausforderungen ja im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten liegen, wo wir bis jetzt eigentlich keine wesentlichen Beiträge geleistet haben. Auf jeden Fall aber schließen wir immer irgendwelchen Routen ...

Auf der Suche nach den Akteuren

Wer sich von der Politik erwartet, dass sie diese gestellten Aufgaben erfüllt, überfordert sie. Es ist eine dieser fraglichen Eigenschaften der Demokratie, dass sie den Politiker zum nachvollziehenden Akteur bestimmt, denn immer wieder sind Wahlen und immer wieder sind auch Mehrheiten zu suchen. Das Positive an der Demokratie ist die Öffentlichkeit, die eigentlich niemanden hindert, hier in Erscheinung zu treten. Wer sollte aber in Erscheinung treten? Selbstverständlich Intellektuelle, Künstler, Journalisten - also all jene, die eigentlich davon leben, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Kritisch muss die Frage gestellt werden, ob es zu all diesen Themen einen Diskurs in Mitteleuropa gibt, oder ob dieser vor allem vom vielzitierten Tellerrand geprägt ist. Es gibt eine gewisse Weigerung, sich mit benachbarten Welten auseinanderzusetzen, die manchmal peinlichen Charakter hat.

Eine andere Einrichtung hat zweifellos auch große Aufgaben, die nicht in hinreichendem Ausmaß wahrgenommen werden. Es sind Religionsgemeinschaften, die völlig unabhängig vom Tagesgeschehen - insbesondere, wenn sie christlichen Ursprungs sind, - die Frage der Nächstenliebe, der Brüderlichkeit und der Solidarität zu pflegen hätten. Sie sind auch Träger einer großen Tradition, denn neben griechischer Philosophie und römischem Rechtsdenken war es zweifellos das jüdischchristliche Denken, das lange Zeit prägend war und später durch Aufklärung und Moderne beeinflusst wurde.

Ein weiteres Kapitel ist natürlich der Eurozentrismus, der uns beherrscht. Infolge der dramatischen Veränderung Europas sind wir eigentlich nur mehr mit uns selbst beschäftigt, ohne zu realisieren, dass wir in eine globale Entwicklung eingebettet sind.

Mitteleuropa ist auf eine andere Weise Wirklichkeit geworden, als es etwa ein regionalpolitisches Konzept wäre oder wie sie die alte Monarchie dargestellt hat. Mitteleuropa ist aber auch erst auf dem Weg, ein Mehr an gemeinsamem Verständnis und daraus eine Kraft zu entwickeln. Es ist schon der europäische Integrationsprozess ein Novum in der Geschichte, so kann es auch die Verständigung in der Mitte des Kontinents sein, wo man aus dem Reichtum des Vorhandenen auch einen Gewinn ziehen kann -nicht nur für sich selbst, sondern auch für unser Europa.

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