Ironie der Geschichte

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In Mitteleuropa haben Nationalismus und Kommunismus reale Verbindungen nachhaltig zerstört. Dennoch ist das Gefühl des "parallelen Lebens" nicht verloren gegangen. Drei Orte - Braunau am Inn, Broumov/ Braunau in Böhmen, Lavarone im Trentino: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Staat liegend, danach den Wandlungen und Katastrophen der Jahrhundertgeschichte ausgesetzt - Erster Weltkrieg, NS-Herrschaft, Vertreibung, Kommunismus, Wende... Mit dem Beitritt Tschechiens werden ab 2004 alle drei Orte in der EU liegen. Das Dossier geht - anlässlich der Braunauer Zeitgeschichte-Tage 2003 (www.hrb.at/bzt) - Aspekten der "parallelen Leben" dieser Orte in den letzten 100 Jahren nach, darunter der Frage, wie mit der Last der Geschichte umgegangen wird. Redaktion: V. Thiel, O. Friedrich

In Mitteleuropa wird Identität in erster Linie durch Geschichte vermittelt. Dabei ist die Botschaft der Geschichte höchst mehrdeutig. Wer sich selbst als Gewinner bezeichnen kann, ist eher von der Zeit als vom Ort abhängig. So erschien in einer Warschauer Zeitung vor 1989 die anonyme Kleinanzeige: "Tausche reiche Geschichte gegen bessere Geografie." In Czernowitz wurde vor wenigen Wochen bei Restaurierungsarbeiten eine Statue der "Austria" wiederentdeckt, die seit 1918 von ihrem Sockel verschwunden war. Sie war offensichtlich damals vergraben worden, um in besseren Zeiten wieder entdeckt zu werden. Nur der Kopf der Statue fehlt...

Die Ironie der Geschichte Mitteleuropas liegt darin, dass die radikalen Projekte des 20. Jahrhunderts, der Nationalismus und der Kommunismus, in diesem Raum reale Verbindungen nachhaltig zerstört haben und dennoch das Gefühl des "parallelen Lebens" in Mitteleuropa nicht verloren gegangen ist.

Öffentlicher Bedarf

Je radikaler die Veränderung der Wirklichkeit ist und je rascher die jeweilige Gegenwart zu ihrer eigenen Vergangenheit wird, desto wichtiger wird die Geschichte als Instrument, um sich zurechtzufinden. Der öffentliche Bedarf an Geschichte zur Verarbeitung radikaler Veränderungen in Mitteleuropa seit 1989 ist offensichtlich. Er enthält aber stets die Gefahr, dass Traditionszusammenhänge und historische Abläufe nur mehr in ihrer Funktion für die Gegenwart gesehen und interpretiert werden. Geschichte wird damit zum beliebigen Argumentationsmaterial für aktuelle Interessen. Diese Situation hat in Mitteleuropa Tradition.

Die Glaubwürdigkeit aller Bemühungen einer um Objektivität bemühten Geschichtsschreibung, leidet darunter, dass in dieser Region die Geschichte schon allzu oft (und nicht erst unter dem Kommunismus) umgeschrieben wurde: Warum sollte man den Historikern diesmal mehr Glauben schenken?

Es geht um die Mitverantwortung für das, was geschehen ist. Schuld und ihre Aufarbeitung sind Existenzfragen: Polen etwa kann als Opfer zweier Okkupationen dennoch diese Zeit nicht im Namen einer "wahren" polnischen Kontinuität in Klammern setzen. Ähnlich fragwürdig ist die geläufige Unterscheidung zwischen einer "normalen" ungarischen Geschichte und ihren episodenhaften "Irrwegen". Im Nachkriegsdeutschland gab es für die Hitlerzeit zwei konkurrierende und sich zugleich stützende Strategien der Vergangenheitsbewältigung. Indem sie die "antifaschistische" Tradition für sich reservierte, hat die offizielle DDR-Geschichtsschreibung ihren Staat aus dem gemeinsamen Verantwortungszusammenhang entlassen und ihm zugleich eine Identität stiftende Legitimationsbasis verschafft.

Keine Kontinuität

Grenzverschiebungen als Folge des Zweiten Weltkrieges, Vertreibungen und Umsiedlungen ethnischer Minderheiten, widersprechen jeder These der Kontinuität. Nationale historische Ressentiments werden wieder zu Themen in der politischen Auseinandersetzung. Die Slowaken gründeten ihren eigenen Staat und verlangen von ihren Minderheiten Anpassung. Die Ungarn wiederum betrachten die Lage der ungarischen Minderheiten im Ausland als nationales Anliegen. In Polen wird ebenso wie in Ungarn mit der Frage nach der "jüdischen" Herkunft liberaler Politiker Politik gemacht. Die neuen Staaten schreiben an ihren Nationalgeschichten.

Die Rückkehr der Geschichte in diese Länder ist nicht nur die Befreiung vom Kommunismus, sondern auch die Wiederkehr der Geschichte der nationalen Gruppen in dieser Region in jener Form, die nationale Anknüpfungspunkte zulässt. Zumeist handelt es sich dabei um die Zwischenkriegszeit. Die Geschichte der Zwischenkriegszeit ist aber keine Geschichte demokratischen Aufbruchs. Autoritäre Machtstrukturen, politische Illusionen und nationale Geschichtsfälschungen gehörten zu den Merkmalen der nach 1918 entstandenen Staaten. Auch darauf konnte der Kommunismus nach 1945 aufbauen.

Geschichtsbilder werden als spezifische Traditionsmuster aktualisiert, die an die Stelle des Ost-West-Gegensatzes, der traditionelle Konflikte, Vorurteile und Gemeinsamkeiten verdrängt, aber konserviert hatte, treten können. Aktualisiert werden vor allem kritische Vorstellungen über das Fortschrittskonzept, dem Konzepte kultureller Pluralität gegenüber gestellt werden.

Lob der Langsamkeit

* Kritik am Fortschrittsdenken: Im Fortschrittsdenken gibt es nur eine Richtung und ein Ideal gesellschaftlicher Entwicklung. Diesem Ideal westlich-aufgeklärter Liberalität stehen rückständige und verspätete Gesellschaften gegenüber, die danach beurteilt werden, wie rasch sie die zivilisatorischen Errungenschaften fortgeschrittener Staaten aufholen können. Nach diesem Modell geht es um die Frage, wie schnell sich die Länder des Ostens anpassen können. Das Schlagwort dazu lautet "Rückkehr nach Europa". Die ökonomisch erfolgreichen marktwirtschaftlichen Prinzipien werden als Bestätigung der Erfolge des Fortschrittsoptimismus gesehen. Die Erfahrungen des östlichen Europas erneuern in Europa kritische Reflexionen über die Rolle von Fortschrittsideologien. Ein Lob der Langsamkeit und die Kritik an der Reduzierung des Menschen auf seine Rationalität sind Ansätze, die aus diesen Erfahrungen aktualisiert werden.

* Kulturelle Vielfalt: Der politische Wandel Mitteleuropas macht Europa nicht nur geografisch größer, sondern er führt auch das Thema der kulturellen Vielfalt mit seinen Konflikten und Anreizen wieder in die Europadebatte ein. Mitteleuropa spielt dabei mit seinen kulturellen Mehrfachcodierungen eine zentrale Rolle. Europa wird sprachlich, religiös und ethnisch vielfältiger.

Neue Geschichtspolitik

* Zivilgesellschaft und Gegenöffentlichkeiten: Wenn in Europa heute grundsätzlich und hinsichtlich ihrer praktischen Ausgestaltung über Demokratie gesprochen wird, so beruht dies wesentlich auf den zivilgesellschaftlichen Gegenöffentlichkeiten, die in Mittel- und Osteuropa die Freiheit erkämpft haben und heute am Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen in ihren Staaten arbeiten. Auffallend ist dabei, dass auch traditionelle Bindungen, wie etwa die Kirchen, als zivilgesellschaftliche Chancen für Gemeinschaftsbildung und gesellschaftliche Reform verstanden werden. Auch innerhalb der EU-Staaten ist ein Mehr an Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit gefordert.

* Kreativität der Grenzen: Zu den kulturellen Traditionen Mitteleuropas gehört es, in einer Region zu leben, in der ständig Grenzen überschritten werden, ja Grenzen als relative Größe erlebt werden, die veränderbar sind. In Mittel- und Osteuropa besteht eine nicht nur literarische Tradition, Grenzen und periphere Räume als kreative Orte zu sehen, die deshalb kulturell herausfordern können, weil sie nicht ausschließlich als Gegenden, die zu zivilisieren sind, verstanden werden.

* Erinnerung und Gedächtnis: Im kulturellen Gedächtnis der neuen Demokratien Ostmitteleuropas scheint mehr Raum für widersprüchliche Traditionen und für jene Formen des Erinnerns zu sein, die Gemeinschaftsgefühle vermitteln können, als in den westeuropäischen Demokratien. Während in Berlin und Wien Holocaust-Denkmäler aufgestellt werden, stehen im ehemals anderen Europa auch neue Denkmäler nationaler Helden.

* Ethnisierung: Außer Bosnien-Herzegowina sind alle neuen Staatsgründungen nach 1989 ethnisch begründet worden. Ethnische Gemeinschaften werden im Westen permanent dekonstruiert, während der Osten sie rekonstruiert. Dieser Gegensatz gibt Europa Fragen auf.

* Minderheiten: Mittel- und Osteuropa besitzen Traditionen des Lebens mit ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, die das 19. als "Jahrhundert der Assimilation" und das 20. als "Jahrhundert der Extreme" nicht vollständig zerstört haben. Minderheitenfragen werden wieder zum Prüfstein der Qualität politischer Ordnung.

* Jüdische Identität in Europa: Der Osten Europas, der bis in das 20. Jahrhundert das Hauptsiedlungsgebiet europäischer Juden war, erlebt eine Renaissance des Interesses an jüdischer Kultur. Der Beitrag jüdischer Traditionen und Gemeinschaften zum europäischen Kulturerbe bietet auch zusätzliche Argumente gegen antisemitische Traditionsmuster.

* Geschichte als Verantwortung: Wenn Geschichte permanent in aktuellen politischen Diskussionen präsent ist und als Rechtfertigung bestehender oder intendierter Situationen der Gegenwart herangezogen wird, so entsteht daraus eine gesteigerte Verantwortung des Historikers im Umgang mit dem historischen Material.

Diese Stichworte machen deutlich, dass im politischen Wandel Mitteleuropas nicht das Mehr an Geschichte entscheidend ist, sondern die Frage, welche Arten der Geschichtspolitik neu aufgegriffen werden.

1989 - so weit weg wie 1789

Die kollektive Erinnerung an die Ereignisse von 1989 und an die kommunistischen Regime ist heute nicht mehr als Gegenwart präsent. Wenn 1989 als "fast so weit weg wie die Französische Revolution" empfunden wird, so sind dafür gegensätzliche individuelle und kollektive Faktoren wie Verdrängung und Aufarbeitung maßgebend, die kennzeichnend sind für Perioden nach einem politischen Paradigmenwechsel.

Die seit 1989 deutlich erkennbare Rückkehr der Geschichte und Geografie kann für Europa langfristige politische Auswirkungen haben, weil sie eine Pluralisierung von Diskursen unterstützt und damit die Qualität der Kommunikation zwischen Räumen und den Erinnerungen und Identitäten, die sie enthalten, wieder zur entscheidenden gesellschaftspolitischen Frage macht. Mitteleuropa wird wieder zum Ort "parallelen Lebens".

Der Autor leitet die Kulturpolitische Sektion im Außenministerium.

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