Gänserndorf - © APA / Techt. Erinnerung auslöschen? Beispiel Gänserndorf/NÖ: Die eheamlige Synagoge ist nicht mehr als solche erkennbar.

Eine sich auflösende Erinnerung

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Wenn die Kirchen als Träger des kulturellen Gedächtnisses ausfallen und gleichzeitig die letzten Zeugen der Schoa versterben, bricht auch Erinnerung im gesellschaftlichen Kontakt mit dem Judentum weg.

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Wenn die Kirchen als Träger des kulturellen Gedächtnisses ausfallen und gleichzeitig die letzten Zeugen der Schoa versterben, bricht auch Erinnerung im gesellschaftlichen Kontakt mit dem Judentum weg.

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Dystopische Romane haben Konjunktur. Sie verlegen die Folgen politischer und ökologischer Katastrophen in eine Zukunft, die sie von dem Leben abschneiden, das es verschuldet hat. In John Lanches­ters „Die Mauer“ (2019) schirmt sich ein post­apokalyptisches Großbritannien militärisch von einer bedrängenden Außenwelt von Flüchtlingen ab, in Robert Harris’ „Der zweite Schlaf“ findet man sich in einem England wieder, das technologisch und kulturell ins Mittelalter zurückgefallen scheint. Die Erinnerung an die Vergangenheit verfällt mit den Spuren einer verlorenen Zivilisation oder wird gezielt unterdrückt, wo sie gefährlich erscheint. Die alte Zeit hat schließlich in den Kollaps geführt. Sie deutet aber auch möglicherweise unerwünschte kulturelle Alternativen an.

In eine solche Situation führt der Roman „Der begrabene Riese“ (2015) des englischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro. Er spielt in England nach dem Abzug der Römer, einer historisch kaum greifbaren Epoche. Ishiguro nutzt diesen Übergang, um die Frage nach der Bedeutung von Erinnerung zu stellen. Dazu nutzt er das Material der Artus-Sage. Eine Drachin lebt in diesem England, ein Ritter der Tafelrunde tritt auf, und ein altes Ehepaar macht sich auf die Suche nach seinem verlorenen Sohn wie nach der eigenen Geschichte. Sie versuchen, sich zu erinnern, aber die eigene Vergangenheit, die mit der des Landes verwoben ist, bleibt in jenem Nebel entzogen, den der Atem der Drachin verursacht. Sie steht für die Geschichte einer Gewalt, aus der eine neue Zivilisation entstanden ist. Sie will von der eigenen Vergangenheit nichts mehr wissen. Das gezielte Vergessen aber kostet den Preis der Zukunft, weil sich mit der unterdrück­ten Erinnerung an die Opfer der Geschich-te die Logik der Vernichtung fortsetzt.

Weisungen und Erzählungen

Die Historikerin Jill Lepore („Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“, München 2019) hat die Geschichte der USA zuletzt aus den Widersprüchen einer Revolution rekonstruiert, die ihre Freiheit auf der Unfreiheit von Sklaven, Indianern und Frauen entwickelte. Lepore interessiert die Langzeitwirkung eines kulturellen Codes. Seit den Verwerfungen der Gründerzeit bestimmt er politische Einstellungen. Die kollektive Erinnerung wird über Narrative von Siegern und Opfern, von Schuld und ihrer Anerkennung bestückt. Wer sich dem stellt, kann der Logik der Wiederholung entkommen, sich ihren Gefahren zumindest bewusst stellen. Nach Lepore bestimmt die Dynamik paradoxer Freiheitsgeschichten die amerikanische Politik bis in die Gegenwart, wo sie die Widersprüche der eigenen Geschichte nicht anzuerkennen vermag. Es sind nicht nur die Inhalte, es sind die Formen, die über den zivilisatorischen Gehalt von Erinnerungsmustern entscheiden.

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