Sich Erinnern heißt auch Erneuerung

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Jüdisches Denken ist Teil der europäischen Geistesgeschichte. Im Zeitalter des Vergessens gilt es, dies nachhaltig bewusst zu machen. (Weiteres zu Erinnerung und Versöhnung in dieser furche: Manfred Prisching / Sei-te 4 & 5, Michael Bünker / Seite 9, Maria Schaumayer / Seite 11.)

In den Nachwehen der Jahrtausendwende lohnt es sich, nicht nur angesichts der noch immer wachsenden Konjunktur von apokalyptischen Geschichtsentwürfen, sondern der virtual reality des 11. September mit den brennenden und zusammenstürzenden Türme Manhattans, die von nun bis in alle Ewigkeit in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben sind, auf die vermeintliche Freiheit von der Geschichte zurückzublicken.

Der Übergang der Moderne in die Postmoderne ist - abgesehen von den verschiedenen Auffassungen dieser Begriffe - gerade jetzt, im Zeitalter des Vergessens, besonders problematisch: Wenn dem Vergessen nicht die Möglichkeit des Erinnerns zu Verfügung steht, ist das menschliche Selbstbewusstsein in Gefahr, im Strom der Zeit unterzugehen. Der Verlust an Geschichtsbewusstsein resultiert in zunehmender Auflösung von sinnstiftenden, für das schöpferische Dasein einer Gesellschaft unentbehrlichen Elementen kulturellen Zusammenlebens.

Verlust des Judentums

Durch die gegenwärtigen Debatten in Österreich im Zusammenhang mit der Restitution jüdischen Besitzes und der Frage nach der moralischen (wenn nicht rechtlichen) Schuld der Österreicher wird - mehr als 50 Jahre nach der Befreiung Europas vom NS-Würgegriff und an der Schwelle zur Einführung einer gemeinsamen Währung als Siegel des vereinten Kontinents - deutlich, wie die Spuren der vergangenen Ereignisse in allen Bereichen des Lebens unauslöschbar eingeschrieben sind und meistens immer noch auf Deutung warten. Keine historische Aufarbeitung der Tatsachen, sei sie noch so gründlich, kann die geistesgeschichtlichen Spuren in den traditionellen Denkmustern auswischen, wenn diese Arbeit nicht von einem Überdenken der Voraussetzung, auf die sich die Gesellschaft stützt, begleitet wird.

Erinnerung an sich kann diese Aufgabe nicht übernehmen, wenn nicht zugleich die Frage nach einem glaubwürdigen Ethos gestellt wird, das es erlaubt, die Kontinuität als Bruch - also als Scheitern der Tradition als sicheren Angelpunkt - zu denken und zu gestalten.

In der Begegnung von Individuen und Gesellschaft findet die Gestaltung von Tradition statt, und es ist möglicherweise das Verdienst der jüdischen Tradition, dass dieses sich gerade in Europa am deutlichsten zeigt. So ist auch der Verlust an Tradition in Europa gekennzeichnet vom Verlust des europäischen Judentums, welches neben dem antiken griechisch-römischen Erbe und dem Christentum das Denken in Europa geprägt hat. Die Erfahrungen, die die Völker Europas - und insbesondere das deutsche Volk - in diesem Jahrhundert gemacht haben, sind ein Glied in der Kette, das unentbehrlich ist, um weiterzuleben und um den kommenden Generationen dies auch in würdiger und richtiger Weise zu ermöglichen.

So gewinnen die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre in Europa, die das Ende der Nachkriegsordnung markieren, an Bedeutung; sie haben unmittelbare Konsequenzen für eine Reflexion über den Ort des jüdischen Denkens in der europäischen Geistesgeschichte: 50 Jahre nach der Schoa wird es immer deutlicher, dass wir über das verlorene jüdische Erbe in Europa nicht mehr allein unter den Stichworten "Opfer" und "Täter" reden können. Wir haben hingegen - weit umfassender - den jüdischen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte bewusst zu machen und zu bedenken.

Es scheint paradox: Je mehr die Entwurzelung des Judentums im weitesten Sinne spürbar wird, desto mehr drängt sich die Herausforderung auf, der jüdischen Tradition im Abendland nachzuspüren.

Abbruch der Identität

Die Wurzeln des jüdischen Denkens reichen weit zurück: So sehr die jüdische Tradition von fremdem Gedankengut inspiriert wurde, so sehr fließt auch jüdisches Gedankengut in alle Epochen des Abendlands ein, ohne seine spezifischen Züge ganz zu verlieren. In dieser Hinsicht stellt das Judentum ein geistiges Phänomen in der europäischen Geistesgeschichte dar.

Nach der gescheiterten Emanzipation und Vernichtung der europäischen Juden und des jüdischen Denkens bedarf es nun einer Neubesinnung in der Auseinandersetzung mit dem "Judentum" aller Religionen und Kulturen. Diese Aufgabe betrifft das Forschen nach der Einbettung der orientalischen Tradition als Teil der Geistesgeschichte des Abendlandes, insbesondere den jüdischen Beitrag dabei, welcher durch eine christlich geprägte Rezeptionsgeschichte nicht genügend berücksichtigt worden ist, und der nach dem Verlust des Judentums in Europa als lebendige geistige Tradition als Riss ins Auge fällt. Das Ausmaß dieses Verlustes hat große Tragweite für die europäische Kultur als Ganzes. Da die Träger dieser Kultur das Trauma des Verlustes in sich tragen und daher die eigene Tradition nicht als Quelle der Erneuerung zugänglich ist, ergibt sich die Tatsache, dass die Wiederentdeckung besonders schwierig erscheint. So führt das Abbrechen der Tradition und der Verlust an Geschichtsbewusstsein zu abgebrochener Identität und Selbstentfremdung. Sicherlich ist das Gespräch zwischen Juden und Österreichern auch vor der Schoa kein eindeutiger Dialog gewesen, aber es scheint mir, gerade heute notwendig zu sein, sich dieser Tatsache im vollen Bewusstsein der Katastrophe zu stellen.

Und dies nicht nur in Hinblick auf die nichtverarbeitete Vergangenheit, sondern auch in der Mitverantwortung für die Geschichte als Quelle des kollektiven Gedächtnisses, welches die Identität der nächsten Generation mitprägt.

Der vor einigen Monaten leider zu jung verstorbene jüdische Historiker Amos Funkenstein betont in seinem letzten in deutscher Sprache erschienenen Buches "Jüdische Geschichte und ihre Deutung", dass nur wenige Kulturen so stark mit ihrer eigenen Identität und Unterschiedenheit beschäftigt sind wie die jüdische.

Fruchtbare Krise

Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte als Quelle des Selbstverständnisses führte in allen Epochen der jüdischen Tradition zu neuen Einsichten. Die gesamte Geschichte des Volkes Israel wird im Geschehen einer jeden Zeit neu erlebt und gewinnt damit symbolische Bedeutung für die Zukunft. Jedes Geschehen - sei es eine Errettung, oder sei es eine Katastrophe - bietet Anlass, in verständlicher und unzweideutiger Sprache zu erkunden und auszudrücken, was in der Erfahrung gelernt wurde, um die Zukunft aufzubauen. Die Krise der Tradition ist so ein fruchtbarer Boden für einen Neuanfang.

Die Begegnung mit dem jüdischen Erbe Europas eröffnet jenseits der Schuldfrage die Möglichkeit, neue Lebensformen zu gestalten. Es geht nämlich nicht nur um das Wachhalten der Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten, die die Nachgeborenen in oft verzweifelter Erinnerung üben können, nicht nur um die politischen Implikationen ausgedrückt in einer Solidarität oder "Kritik" mit dem Staat Israel - dies alles stünde noch immer unter dem Zeichen der Schuld -, sondern es geht hier um die Kardinalfrage: Gibt es für die nächste Generation eine Möglichkeit, sich zu der eigenen Tradition zu stellen? Gibt es eine Tradition, welche aus einem genuinen Trauerakt, einem wirklichen Gefühl des Verlustes, Kräfte für neue Anfänge schöpft?

Jenseits Schuldfrage

Dies führt einen Schritt weiter von der Position, die Jürgen Habermas in seinem Artikel "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie" (Die Zeit, 7. November 1986) vertritt, wo es heißt: "Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewusstsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen. Wir können einen nationalen Lebenszusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einen durch die moralische Katastrophe belehren, ja argwöhnischem Blick standhalten. Sonst können wir uns selbst nicht achten und von anderen Achtung nicht erwarten."

Sicherlicher ist es notwendig, den zurückgelegten Weg kritisch zu betrachten, aber ist der Grund dieser Kritik - die Selbstachtung und die Achtung seitens der anderen - genügend? Sicherlich ist es nicht angemessen, die angetretene Haftung durch einebnende Vergleiche herunterzuspielen, die Singularität der Nazi-Verbrechen zu relativieren, aber wächst nicht auch - gerade durch die Singularität, durch das Verbrechen an den Juden - eine Einsicht, nämlich die Aufgabe, gerade das "Jüdische" in der europäischen Tradition neu zu entdecken? Universitäten gewinnen als Orte der Verständigung über dieses Themas eine neue Bedeutung.

Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung sind leere Floskeln, wenn sie nicht begleitet werden von einer inneren Haltung der "Dazugehörigkeit": Die Ausgrenzung der Juden sollte nicht in historischer Perspektive enden in einer Ausgrenzung des Verbrechens an den Juden.

Geistige Restitution

Wie konnte es dazu kommen, dass die Deutschen und Österreicher mitten im 20. Jahrhundert einen Teil ihres Volkes auf den Scheiterhaufen führten? Es geht bei dieser Fragestellung nicht darum, der heutigen Generation die Verantwortung für etwas aufzubürden, sondern es gilt begreiflich zu machen, welchen Verlust Europa durch die Schoa erlitten hat, und welche schlimmen Folgen religiöser Hass bis heute haben kann. Besonders in den Geisteswissenschaften haben Juden nicht nur im deutschsprachigen Raum eine herausragende Rolle gespielt: Ohne dieses Wirken wäre ihr Verschwinden kein so wichtiges Thema geworden. Aus diesem Paradox eine sinnvolle Tradition zu schaffen ist die Aufgabe der nächsten Generation, und es ist unsere Pflicht, dieser Generation, die Werkzeuge für diese Arbeit in die Hand zu geben.

Im Zeitalter des Vergessens geht es eben nicht nur um das Erinnern. Im Hebräischen ist das Wort Erinnern mit der Bedeutung Erneuern verbunden. Solange die jüdische Geistesgeschichte nicht als ein Teil der eigenen Geschichte begriffen wird, bleibt das "Jüdische" als das "Fremde" stehen, welches um jeden Preis bekämpft werden muss. Denkmäler der Schoa sind in dieser Hinsicht nicht nur Begegnungsstätte mit einer verlorenen Tradition, sondern Orte des Neuanfangs, Orte, wo die Gegenwart sich in rückwärts gewandtem Blick für die Zukunft öffnet, wo die Frage: "Welche Welt würde ich wohl durch mein Handeln schaffen, wenn es in meinem Vermögen stünde?" Bedeutung gewinnt.

Dies erinnert an ein rabbinisches Wort, welches im Namen von Rabbi Tarphon überliefert wird in den Sprüchen der Väter: "Du brauchst die Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich daraus zu entziehen". Das Vertrauen auf die Kraft des Menschen, autonom zu handeln, wird durch die Kette der Tradition zusammengehalten, wo eine Generation der anderen die nicht vollbrachte Arbeit als Erbe weiterreicht. Für das heutige Geschichtsbewusstsein bedeutet dies eine Umkehr, nicht nur eine Wiedergutmachung: Eine Entscheidung für die Geschichte, für eine Lebensform, wo Geschichte und Biographie sich kreuzen.

Wien, meine Geburtsstadt braucht einen Ort, wo dies vermittelt werden kann: mit der materiellen Restiwtution muss auch eine geistige kommen, eine Vertrauensbrücke über den Abgrund der Geschichte.

Die Autorin,

seit 1956 vorwiegend in Jerusalem wohnhaft, ist Univ.-Prof. für Jüdische Religion und Geistesgeschichte sowie zur Zeit Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde Or Chadasch in Wien.

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