Zukunft durch Versöhnung

Werbung
Werbung
Werbung

Europa trägt die Last einer leidvollen Schuldgeschichte. Wir sind verantwortlich dafür, dass die Erinnerung des jeweils anderen nicht verloren geht.

Europa ist nicht zuletzt in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts sensibel geworden für seine Geschichte - auch für seine Schuldgeschichte. Waren wir "noch einmal davongekommen" (Thornton Wilder), so standen wir doch "Draußen vor der Tür" (Wolfgang Borchert). Ausgeschlossen von unserer Geschichte, den großen christlichen, humanistischen, aufklärerischen Traditionen. Wie Hannah Arendt es in einer bewegenden Sequenz des berühmten Gesprächs mit Günter Gaus sagte: "Vieles passiert, es gibt eine Geschichte der Auseinandersetzung, der Kriege und Annexionen, der Siege und Niederlagen. Das passiert - nur dieses (Auschwitz) hätte nicht passieren dürfen. Dieses nicht." Entsprechend setzte Adorno bekanntlich die Überschrift zum geschichtlichen Exil Europas nach 1945 in dem Verdikt, nach Auschwitz könnten keine Gedichte mehr geschrieben werden.

Rettung der Erinnerung

Die Sensibilisierung für seine Geschichte ist der Versuch der Rückgewinnung einer europäischen Identität. Es ist keine rückwärts gewandte Schrulle, keine geisteswissenschaftliche Attitüde, kein Wärmebad in ökonomischer Erkaltung. Geschichtliche Sensibilität bedeutet, eine Selbstbejahung Europas im Maßstab der Anerkennung fremden Leids sich neu zu erkämpfen. Und umgekehrt: Alle Versuche der Formulierung einer Identität Europas dienen nicht der Störung multikultureller Selbstgefälligkeit, sondern die Rede von der europäischen Identität ist der Versuch einer Rettung der Erinnerung.

Europa trägt die Last einer leidvollen Schuldgeschichte, über die wir nicht einfach hinweggehen können, wollen wir nicht auf einen festen Grund der Selbstbejahung verzichten. Zudem wissen wir aus existenziellen wie sozialen Zusammenhängen, wie lange Gewalt- und Schulderfahrungen fortwirken. Über Letzteres sollten wir uns, erst recht als Christen, nicht wundern. An verschiedenen Stellen der Bibel ist die Rede davon, dass die Söhne und Enkel die Vergehen der Väter zu tragen haben, was nicht auf eine besondere Rachsüchtigkeit Gottes, sondern auf die machtvollen Auswirkungen der Sünde hinweist.

Freiheit zur Umkehr

Damit komme ich zu einer zweiten Grundannahme einer christlichen Maßstäblichkeit eines europäischen Versöhnungsprojekts. Es ist die ungeheuerliche Neuheit der Verkündigung Jesu, angesichts dieser Erfahrungen intergenerativer Verstrickungen ein neues Bündnis von Glaube und Leben - eben nicht nur von Glaube und Vernunft, eben nicht nur ein bloß geglaubter und bloß argumentierter Glaube! - anzustiften und zu ermöglichen: Umkehr. Die Dignität der christlichen Freiheit ist die Freiheit zur Umkehr. Wir widersprechen damit einer einseitigen ökonomischen Verteilungslogik und einem allzu steilen Fortschrittspathos, also geometrisch gesponnenen Mechanismen des Leid-Ausgleichs und des Vergessens. Ökonomische Restituierung ist notwendig, reicht aber nicht. Wir bestehen auf einer verletzlichen, erinnernd zu bewahrenden und zu bewährenden europäischen Identität.

Das alles heißt aber auch, dass in einem wirklichen Versöhnungsprozess die konkreten Geschichten der Gewalt zur Sprache zu bringen sind und der Versuchung zu widerstehen ist, in ein allgemeines Schuldbekennen auszuweichen, das letztlich an der Oberfläche verbleibt.

Was ist gemeint? Lassen Sie es mich an einer Erinnerung zu verdeutlichen versuchen: Bekanntlich ist die deutsch-polnische Geschichte - nach einer friedlichen und fruchtbaren Epoche insbesondere vom 14. bis zum 18. Jahrhundert - in den letzten 250 Jahren von Fühllosigkeit, von Leid und himmelschreienden Katastrophen durchzogen. Polen und Deutschland - das war dann für fast 250 Jahre eine Unglücksachse der europäischen Geschichte. Man muss nur an die drei polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts erinnern, die für 170 Jahre das polnische Staatswesen zerstört haben. Nach der neuerlichen Katastrophe des schrecklichen Vernichtungskrieges vor 60 Jahren und nach der anschließenden unglücklichen Vertreibung der Deutschen aus Polen haben die polnischen Bischöfe am Ende des II. Vatikanischen Konzils, also vor 40 Jahren, in einem bewegenden Brief an ihre deutschen Mitbrüder erklärt: "Wir vergeben und bitten um Vergebung", was die deutschen Bischöfe entsprechend beantwortet haben. Viel ist durch diese gegenseitige Vergebungsbitte ausgelöst worden und geschehen und ein Umdenkprozess hat begonnen. Gleichwohl gibt es offensichtlich noch immer tief sitzende Ängste, Vorurteile und Unsicherheiten bezüglich des jeweils anderen. Und immer wieder tauchen in breiten Bevölkerungskreisen beider Länder schier unbegreifliche Irritationen über die jeweils anderen auf, die dann auch politisch wirksam werden, wie wir es gegenwärtig wieder erfahren.

Wenn ich den langen Weg der Versöhnungsbemühungen zwischen Deutschen und Polen bedenke, erscheint mir eine Erfahrung zentral: Die Mauern des Schweigens zwischen unseren beiden Völkern, des Schweigens über die tief sitzenden Verletzungen, Verwundungen, Erfahrungen und Ängste müssen aufgebrochen werden. Es muss auch zur Sprache kommen, was z.B. Ernst Moritz Arndt 1848 in einem Zeitungsaufsatz schreiben konnte: "Ich behaupte eben mit der richtenden Weltgeschichte vorweg: Die Polen und überhaupt der ganze slawische Stamm sind geringhaltiger als die Deutschen." Dass dies beleidigende Polenbild, das dann auch noch die vorausgegangenen Teilungen rechtfertigen sollte, sich als Trauma im Empfinden des polnischen Volkes festsetzte und sich dann im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in Polen erneut bestätigte - das alles kann wohl nur in einem langen Versöhnungsprozess, der nichts verschweigt, wirklich überwunden werden.

Nicht nachträglich siegen

Dasselbe gilt auch für die Geschichten der Vertreibung. Sie sind sicher Folgen der monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber die Vertreibungen zu verschweigen, heißt den Imperialismus Stalins zu ratifizieren. Das tragische Verhältnis Deutschland-Polen ist leider nicht das einzige, aber ein besonders schmerzhaftes Beispiel für fortwirkende geschichtliche Belastungen.

Die geschichtspolitische Aufgabe für Christen heißt hier: Umkehr aus Fühllosigkeit und also Verantwortung für die Erinnerung des anderen. Wir - Deutsche, Polen, Österreicher, Tschechen, Kroaten, Serben - sind verantwortlich, dass die Erinnerung des anderen nicht verloren geht. In dieser Verantwortung haben wir nicht recht und siegen nicht nachträglich, sondern nehmen Partei für den anderen.

Testfall EU

Versöhnung, die uns von Gott geschenkt und aufgetragen ist, verlangt Umkehr, wirkliches Einlassen aufeinander, auch auf die Verletzungen und Verwundungen in der gemeinsamen Geschichte. Versöhnung könnte ja nicht gelingen, wo verdrängt würde, was versöhnungsbedürftig ist. Wenn nicht wahrgenommen würde, was so nicht bleiben darf. Versöhnung meint: Die Beziehung soll wieder aufgenommen, geheilt werden, um miteinander die gemeinsame Zukunft zu gestalten. Versöhnung, wirkliche Versöhnung, kann nicht folgenlos bleiben. Insofern ist das neue Europa, die EU, gleichsam Testfall für das Gelingen der Versöhnung und darauf gründender wirksamer Solidarität. Nur so wird Europa glaubwürdig, nur so werden die Menschen Vertrauen schöpfen.

Im Übrigen: Es ist zu viel geschehen in diesem Europa und von diesem Europa aus, als dass wir von der Umkehr zur Versöhnung ablassen könnten!

Der Autor war Bischof des Bistums Hildesheim und Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der EU (COMECE).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung