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Vor London

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In wenigen Tagen werden in London die Außenminister der vier Weltmächte mit den Beratungen beginnen, deren Ausgang über den Abschluß des österreichischen Staatsvertragps und damit über den Beginn des wirklichen Friedenszustandes für Österreich entscheiden soll.

Als am 1. November 1943 die Moskauer Deklaration jene Periode hartnäckigen Schweigens über Österreich abschloß, in die es die Märztage des Jahres 1938 verschlagen hatten, da richtete sich das österreichische Volk wieder hoffend auf. Nun war also doch jene Zeit vorüber, in der nicht nur verwegene Spieler es unternehmen konnten, selbst den Namen Österreich weg-zuesikamotieren, sondern auch in der Münchener Zusammenkunft und in den Kriegserklärungen der Alliierten an Deutschland nicht ein Laut mehr an die bisherige Existenz Österreichs und die ihm angetane Gewalt erinnert hatte. Man hatte also inzwischen — teuer erkaufte Erkenntnis! — verstehen gelernt, was es bedeutet hatte, als der Stein Österreich aus der mitteleuropäischen Ordnung herausgebrochen wurde, und daß man an einen neuen Aufbau nicht denken könne, ohne das Scheitelstück dieses Mitteleuropa tragenden Bogens wieder an seinen rechten Platz zu setzen. Als uns in der Moskauer Deklaration zugleich gesagt wurde, Österreich trage Verantwortung für die Kriegsteilnahme an der Seite HSfrierdeutschlands, nahmen wir diesen Widerspruch zu den historischen Tatsachen als einen unschwer aufzuklärenden Irrtum bin. Denn hätte die Rolle des jeder Eigenständigkeit beraubten Landes willentliche und verantwortliche Kriegsteilnahme bedeutet, was war dann die Rolle jener Staaten, die bei Bestand eigener Regierungen und mindestens äußerlicher Souveränität, unter einem nicht größeren Zwange Millionenheere von Kriegshelfern^ in die Rüstungswerkstätten und auch an die Fronten HJtlerdeutschlands lieferten? Und wir besannen uns der heroischen Scharen, die in den Kerkern und auf den Schafotten der Tyrannis Bekenntnis und Blutzeugenschaft abgelegt hatten für das wahre Österreich, und waren sicher, daß wir jenen Irrtum widerlegen könnten. Bevor noch alle andern einen Finger gerührt und während ihre Diplomaten noch mit dem Teufel paktierten, hatte Österreich schon für seine und Europas Freiheit geopfert und gelitten. Das österreichische Volk war sicher, daß es nicht umsonst daran erinnern und nach allen seinen Leiden an die Gerechtigkeit werde appelliefen können.

Als am 12. Februar 1945 das Ergebnis der Zusammenkunft von Jalta verkündigt wurde, durfte der letzte Zweifel fallen, daß die Alliierten den „Anschluß“ als „erzwungen, völkerrechtswidrig und daher rechtsunwirksam“ betrachteten und entsprechend diesem ihrem Urteil gegenüber Österreich verfahren würden. In dem Bombenhagel, der Wien und unsere Industriestädte zerschlug, inmitten der sich steigernden Terrorakte einer zerfallenden Zwingherrschaft, schöpften wir Kraft aus der Hoffnung auf die kommende Freiheit. Der Armeebefehl, mit dem der siegreiche Feldherr der russischen Armee beim Überschreiten der niederösterreichischen Grenze Österreich begrüßte und die Wiederherstellung der alten Ordnung eines freien Österreich ankündigte, schien mit der Kraft des Schwertes zu bestätigen, was die Federzüge der führenden Staatsmänner vor aller Welt verheißen hatten.

Das war vor zweieinhalb Jahren. Es lohnt sich nicht, weil sie allbekannt und sichtbar sind, alle die Stationen der Enttäuschung und Demütigung zu rekapitulieren, die seit jenen Tagen dankbaren Befreiungsjubels das österreichische Volk erlebt. Seit damals verharrt Österreich in einem Zustand staatlicher Abhängigkeit, wie etwa jener war, in den vor einem Jahrhundert Staatsgebilde des Balkans versetzt wurden, die aus halber Barbarei als „Suzerän“ in die Oberhoheit der alten Türkei entlassen wurden. Dieser Vergleich bezeichnet beiläufig das staatsrechtliche Verhältnis, charakterisiert aber nicht die geschaffene Unordnung, in der auch die einfachen verfassungsrechtlichen Grundrechte, deren Einhaltung das primitive Fundament des zivilisierten Staates darzustellen hat, als fragwürdig erscheinen, die österreichische Gerichtsbarkeit durch fremde Kompetenzen begrenzt, das Briefgeheimnis aufgehoben ist, die staatliche Verwaltung und die Immunität von Volksvertretern Eingriffen unterliegt und selbst die Gesetzgebung des Parlaments, also das Palladium der Demokratie, einer Abhängigkeit unterworfen ist — es sei wiederholt: jetzt zweieinhalb Jahre nach Waffenruhe.

Der Staatsvertrag ist bestimmt, diesem Zustand, wie ihn solcherart und solcher Dauer die Nachkriegsgeschichte früherer internationaler Konflikte in Europa nicht kennt, ein Ende zu setzen. Wird es dazu kommen? Das Mißtrauen in die Stärke der konstruktiven Kräfte und den staatsmännischen Ausgleich der bestehenden Gegensätze ist so groß geworden, daß der Zweifler allzu viele geworden sind. Die Lage für das österreichische Volk ist--ww-so drückeruier, als es selbst das allerwenigste zu einer Lösung — ob sich diese nun vor oder nach dem deutschen Staatsvertrage vollziehe — beitragen kann. Denn Österreich ist in dem Zusammenstoß der größten Mächte Objekt geworden. Und sosehr es anfänglich versuchte, aus eigenem Willen seinen Weg, den Weg einer ruhigen, leidenschaftslosen, nach linkes und rechts gutwilligen Neutralität zu gehen, so oft scheiterte dieser Versuch an der Furcht der Mächtigen voreinander, einer Furcht, die heute die internationale Atmosphäre verfinstert und den Zuschauern des Widerstreits der Großen zwangsweise und unentrinnbar Rollen zuteilt, die sie sich selbst nie gewählt haben würden. Alle Verantwortung liegt bei den Großen.

Die Herren der Welt mögen es für gering achten, wie das österreichisdie Volk in dieser Lage empfindet, wie es über die feierlichen Versprechen denkt, die ihm gemacht wurden und über die unter dem Schall der Tuba und nach dem Ritual eines Weltgtrichtshofes verkündeten internationalen Rechtsverkündigungen. Man kann füglich über das Rechtsbewußtsein und die Freiheit eines kleinen Volkes hinweggehen, auch wenn es nicht so friedliebend wäre, wie das österreichische, und wenn es nicht sosehr wie dieses dem internationalen Handgemenge die Arbeit und die Bereicherung der Menschheit mit seiner Kunst und Wissenschaft vorziehen würde. Aber worüber man nicht hinweggehen könnte, das müßte die Wirkung dieses weithin sichtbaren Beispiels sein, wie es um die Demokratie, die Freiheit und die Achtung der menschlichen Würde bestellt sei, und daß in Wirklichkeit über alles ja doch nur die Gewalt entscheidet. Wie immer die Staatssysteme lauten, mit denen man die Menschen glücklich zu machen sudit, alle erklären sie — selbst die faschistischen und die totalitären —, die Demokratie, die Freiheit und die Menschenwürde erheben zu wollen. Beabsichtigen alle, sich an Österreich widerlegen zu lassen? Und welche Wirkungen wird es haben müssen, wenn allgemach die Völker entdecken müßten, daß alle die wohlklingenden Formeln, die leuchtenden Devisen, die flatternden Fahnen nur Chimäre seien, nur Worthülle und Flitter für das in Wahrheit alles Bestimnjende, vor dem jedes menschliche Recht weicht und von dem jedes göttliche Recht geleugnet wird: die Macht, die gepanzerte Faust, das gezückte Schwert?

Die Verantwortung, die auf den Schultern der vier leitenden Staatsmänner liegt, ist so groß, daß man nur in Ehrfurcht vor der Last stehen kann, die — vielleicht weit-entscheidend — ihnen vor der Geschichte auferlegt worden ist. Jetzt nützt keine neue Vertagung mißglückter Konferenzen auf spätere Zeiten mehr. Moskau darf sich nicht wiederholen. In den Händen der Großen Vier liegt diesmal nicht allein das Schicksal Österreichs und Deutschlands, sondern wahrscheinlich die Zukunft des Mensdien-geschlechtes.

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