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Licht im Osten

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Es hatte vier Tage lang geregnet. Durch die dichten Wolken bricht jetzt zum ersten Male das Sonnenlicht und fällt in dünnen Strahlbündeln auf die Rosentalwiese.

Eintausendfünfhundert Posaunen blasen: „Lobet den Herrn.“ Die Volkspolizei überblickt die Anwesenden, und schätzt ihre Zahl auf sechshundertundfünfzigtausend. — Am Rande der riesigen Festwiese stehen russische Offiziere und sehen zu. Mit Frau und Kind und Kinderwagen.

Das große Wagnis ist zu Ende (oder: hat es soeben erst begonnen? In einem neuen erregenden Sinne?). Der Deutsche Evangelische Kirchentag vom 7. bis 11. Juli 1954 in Leipzig ist zahlenmäßig die größte Zusammenkunft evangelischer Christen in der gesamten Geschichte ihrer Kirchen und Bekenntnisse, er ist zugleich, seit 1945, die mächtigste Kundgebung des deutschen Einheitswillens in Ost und West. Und er ist zum dritten . eine Bekundung des evangelischen Glaubens, die niemand im „christlichen Abendland“ übersehen darf, der, so oder so, mit christlicher Wirklichkeit befaßt ist.

Die Evangelischen Kirchentage sind eine Frucht der Laienbewegung in der evangelischen Kirche Deutschlands — so bekennt es Otto Dibelius, evangelischer Bischof von Berlin:

„Das ist eine neue Art von Evangelisation. Hier evangelisiert die Gemeinde sich selber."

„Nach der Auswirkung dieser Kirchentage zu fragen — dazu ist es noch zu früh. Es kommt jetzt noch nicht auf die Wirkungen an, sondern einfach darauf, daß die Kirchentage ihrerseits eine Auswirkung sind, nämlich die Auswirkung einer neuen, inneren Bewegtheit unter den Laien. Wir evangelisieren uns gegenseitig, Theologen und Laien, lebendig geworden unter Gottes Wort. Das ist es. Darin liegt innere Kraft. Und es liegt darüber auch — wir Menschen können nicht anders urteilen — eine Verheißung!"

Eine halbe Million Menschen aus Ostdeutschland ist hier zusammengekommen. Um sich auszusprechen? Um Fragen zu stellen? Um Antworten zu hören? Um mit den zehntausend Menschen aus Westdeutschland zum ersten Male wieder in Berührung zu kommen? Das alles auch. Nun hatte aber bereits, warnend, bittend, beschwörend, der Kirchentagspräsident Dr. v. Thadden-Trieg- laff, zur Eröffnung des Kirchentages erklärt: „Der Evangelische Kirchentag besagt nicht eine violette Nachahmung irgendwelcher Kundgebungen, wie sie allerorten in der Welt stattfinden. Auch keinen billigeren Ersatz für die Wunschträume der Gegenwart, wie immer sie aussehen. Er betreibt nicht die Sache Bonns und nicht die Sache Pankows.“

„Wir geben keine Parolen aus."

„Wir stehen beim Evangelischen Kirchentag selbst unter der Last der ungelösten Fragen, an denen ein Jahrhundert zerbrach. Fragen, deren Geschichte mit viel menschlichem Versagen, mit viel eigener Schuld, ja mit einem nicht ganz seltenen Verrat der Christen an ihrem eigentlichen Auftrag verbunden ist. Wir stellen uns mit Zagen und doch mit Entschlossenheit in den Riß, zusammen mit allen denen, die gleich uns guten Willens sind, nicht um anzuklagen, sondern um neue Wege zu neuen Erkenntnissen zu suchen. Es gibt kein Zurück.. Wer die Wirklichkeit unserer Zeit ohne Illusion sieht und das Suchen nach, der Wahrheit damit verbindet, der kann’nicht anders; als Hand änlegen da, wo es heute wirklich brennt."

Es brennt überall. Es brennt in Millionen Gewissen von Menschen, die sich durch tag- tägliche Befehle und Versuchungen, denen der Mensch, so wie er eben ist, nicht gewachsen ist, überfordert wissen.

Nach zagen Anfängen in den ersten Tagen gesdiieht das Unerhörte: Mitten in einem Totalstaat werden, in der Mitte von Tausenden von Menschen, Fragen gestellt, die an die Existenz dieses Staates ebenso wie an die nackte Lebensexistenz jedes einzelnen in ihm rühren.

„Was sollen wir tun, wenn angeordnet wird, am Sonntag zu arbeiten?“ „Dürfen wir in einem Verhör lügen, um dadurch einen Bruder zu retten?“ „Darf ein Christ sich gegen ein Gericht der Obrigkeit wehren?“ Diese Fragen werden nicht im Zigarrendunst jener Kongresse, die landauf, landab üblich sind in der „freien Welt“, gestellt, sondern sie werden im Angesichte Stalins erhoben. Acht Meter hoch, aus Erz gegossen, auf marmornem Sockel, blickt Marschall Stalin auf die Sechzigtausend herab, die zu einem der sechs Arbeits- und Gesprächskreise zusammengekommen sind — eben hier: im Sowjetpavillon der Leipziger Messe, einem riesigen, dreischiffigen Bau aus Beton und Stahl und Glas, der in der Apsis den Kreml in Glasmalerei zeigt und den die Sowjetunion als Eigentümerin dem Kirchentag in letzter Minute zur Verfügung gestellt hat. Sein Sims trägt in goldenen Lettern die Worte: „Das Werk Stalins wird durch die Jahrhunderte leben.“ Unter ihm, jetzt, für diesen Tag, ein Kreuz aus Holz.

Die Aussprache der beiden letzten Tage verdichtet sich um drei Fragenkreise: Muß sich ein Christ einer unchristlichen Regierung unterordnen? Darf er um seiner und seiner Familie Sicherheit willen unwahr sein? Muß ein enteigneter Bauer sein jetzt einer Genossenschaft gehörendes Land mit dem gleichen Fleiß und der gleichen Liebe wie einst bestellen?

, Die Fragen zeigen es bereits, wie sehr dieser Kirchentag ein Tag des Laien ist (und wie sehr alle Kirchentage aller christlichen Bekenntnisse, die sich selbst ernst nehmen, heute Tage der Laien sein müssen): weil der Laie, als Täter und als Hörer des Wortes, heute überall auf dieser Welt (in den freien

Ländern sieht es nur nicht so dramatisch und tragisch aus!) von zwei Seiten her aufgerufen wird — vom Wort Gottes und vom Machtwillen der Menschen. Die ihn als Chefs und Vorgesetzte, als Polizisten und Staatsanwälte, als Bürokraten und Parteileute, als freundliche Berufskollegen und Genossen nötigen und drängen, ein Ja zu sagen, mitzutun oder zu schweigen — dort, wo die Stimme des gepeinigten Gewissens gegen all diese Gleichschaltung und Gleichmacherei, gegen den Terror der Konformierung aufschreit.

Hat der Leipziger Evangelische Kirchentag eine Antwort auf die tausend Fragen aus Millionen gequälten Herzen gefunden?

„Mancher geht wohl mit einem Haufen Scherben!“ Mit diesem Wort bekennt einer der Diskussionsleiter, daß keine „Antwort“ gefunden wurde. Dasselbe bekennt die „Bilanz des Kirchentages“, die bei der letzten Kundgebung verlesen wird. — Was aber steht hinter diesem offenen Eingeständnis, daß keine Antworten, keine Parolen, keine Pläne und keine Programme Gültigkeit haben? — Zunächst eines: die „brutal offene Sprache der Laien" (wie es ein westdeutscher Beobachter genannt hat): diese hat die Dinge offen beim Namen genannt und auch die Theologen zu weniger vorsichtigen Formulierungen gezwungen. Da ergab sich nun — und eine sehr offene, überraschend offene Aussprache mit Johannes R. Becher, heute Kulturminister der Deutschen Demokratischen Republik, bestätigte es: es besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen Christentum und jeder weltimmanenten Weltanschauung, und es besteht ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen totalitären und freiheitlichen Regierungen und politischen Prinzipien.

Was nun? Die Versuche, individuell, persönlich eine Antwort zu geben, lassen sich drei Gruppen zuordnen. Da sind Menschen, ostdeutsche Christen, die auf dem Boden eines sogenannten „christlichen Realismus“ sich zur politischen Zusammenarbeit mit dem ostzonalen Regime bekennen, weil sic meinen, auf diese Weise ihren Brüdern helfen und der Christenheit in der „Neuen Ordnung“ der östlichen Hemisphäre Raum schaffen zu können. Da sind andere, die sich zum Widerstand entschlossen haben und die überzeugt sind, daß die im Osten Heranwachsende „Bekennende Kirche“ das Evangelium in täglicher Auseinandersetzung mit der politischen Macht verkünden müsse. Da ist eine dritte Gruppe (in vielen Schattierungen und inneren Stufungen), die sich zum leidenden Gehorsam bekennt, zu dieser großen, vielumstrittenen und in ihren gültigen Zeugen so ehrwürdigen lutherischen Tradition des deutschen Ostens: Mag die Obrigkeit auch schuldig sein, ihr gilt Gehorsam — so hat es Paulus verkündet, er, der unter Kaiser Nero schrieb: „Jede Obrigkeit ist von Gott ..

Der Ernst, der ergreifende Ernst, der auf den Gesichtern von Angehörigen aller dieser drei Gruppen zu sehen ist — im Verein mit einer großen Spannung, einer innersten Ballung aller Kräfte, verbietet es, an der Aufrichtigkeit ihrer Repräsentanten zu zweifeln.

Also wieder keine Antwort? — Katholische Beobachter, die an feste Resolutionen und Weisungen gewohnt sind und selbst nicht allzu vertraut mit dem oft jahrhundertelangen Ringen um einzelne Glaubensfragen in ihrer Kirche (etwa im Gnadenstreit) sind, etwa um die heute offene Frage, ob es im Atomzeitalter einen gerechten Krieg gebe, werden hier vielleicht enttäuscht sein. Jeder Beobachter aber, der Bescheid um die heute übliche Unsauberkeit im Verschleifen notwendiger Aussprachen, im Gleiten über notwendige Gegensätze weiß, erstaunt hier bereits über die intellektuelle Ehrlichkeit und Redlichkeit der Fragen und Nicht-Antworten auf diesem Kirchentag. Wenn er dann noch näher hinhörte, dann vermochte er durch all diese tausend Fragen hindurch eine tiefwurzelnde Antwort zu vernehmen. Diese läßt sich in einigen Sätzen anschaulich machen — verständlich wird sie nur dem, der sie als Wirklichkeit gläubig erfährt: Wir sind alle arme, schwache Menschen; der eine von uns muß in seinem Gewissen diesen Weg gehen, der andere jenen anderen; wenn wir Christus leben, wird Er uns die Geduld und die Kraft geben, diese Zeit zu bestehen. Das „Wort des Kirchentages“, die Schlußresolution, faßt dieses große Anliegen dahingehend zusammen.

„Wir grüßen vom Leipziger Kirchentag alle Brüder und Schwestern in Ost und West mit dem Worte Jesu Christi: .Meinen Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.’ In diesem Frieden waren wir beieinander zur Freude der Gemeinde und zum Staunen der Welt. Dabei sind wir aufs neue beunruhigt worden über die Spannungen und Gegensätze im politischen und geistigen Leben der beiden Räume, in denen wir getrennt voneinander leben müssen. Dieser Not haben wir uns gestellt. Aber wir haben den Frieden, den Christus uns gibt, als heilende Kraft erfahren. Dieser Friede ließ aus aufeinander hören und einander verstehen. Dieser Friede schuf Freude und Humor aus Glauben. Wir sind beschämt worden in unserer Müdigkeit, Ungeduld und Bitterkeit. Wer vom Frieden lebt, den Christus gibt, hat kein Recht zu Gleichgültigkeit und Verzweiflung. Selbst wenn unsere Erwartungen heute an weltpolitischen Tatsachen scheitern, so ist der Friede, den Christus gibt, die Realität. Denn Er gibt den Frieden nicht, ,wie die Welt gibt’. Gott sei Dank! Sein Friede ist endgültig und von umstürzender Kraft. Ob wir im Osten und im Westen bald vereinigt werden, weiß kein Mensch. Vielleicht liegt ein langer und harter Weg vor uns. Es besteht Gefahr, daß die einen erschöpft zu s a m menbrechen und die anderen sich selbst sichern. Wir dürfen und wollen das nicht. Wir halten einander fest. Denn der Friede Christi unter uns übt seine Macht aus. Weil wir Jesus Christus loben, darum trennen wir uns nicht; weil wir Jesus Christus bekennen, darum beten wir füreinander. Weil wir ihn gemeinsam lieben, darum trägt einer des anderen Last. Weil wir so von Seinem Frieden leben, lassen wir uns nicht in den Haß gegeneinander treiben. In diesem Frieden, den Christus gibt, gehen wir von Leipzig heim in unsere Gemeinden nach Ost und West."

„N a c h O s t u n d W e s t.“ In Leipzig ist es zu einer Begegnung gekommen, die mit Schlagwörtern, Aengsten und Parteiparolen aufgeräumt hat. Ostdeutsche und Westdeutsche beginnen, aus den Verschlägen zu treten, in die eine Angst und eine Enge, die Psychose der Nachkriegszeit, beide gebannt hielt, und beginnen zu sehen: daß die Wirklichkeit noch schwieriger ist als sie es gedacht hatten — schwieriger, weil vielfältiger und verwickelter —, daß sie aber eben deshalb gemeistert werden kann, wenn eine Quelle gefunden wird, die Geduld, Gelassenheit, Freude zu schwerster Arbeit mittelt.

Die Menschen des Leipziger Kirchentages haben diese Quelle gefunden im Gott der Psalmen und im fleischgewordenen Wort.

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