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„Werfet euer Vertrauen nicht weg!“

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Durch die Aufklärung und durch die in ihrer Gefolgschaft stehende liberale Theologie hatte sich in den letzten hundertfünfzig Jahren ein doppelter Irrtum in die evangelische Kirche eingeschlichen und sich zerstörend ausgewirkt. Der eine Irrtum bestand in der Behauptung, daß der Glaube eine rein persönliche Angelegenheit sei, die mit der Oeffentlichkeit nichts zu tun habe, denn im Glauben gehe es nur um das Verhältnis zwischen der einzelnen Seele und Gott. Der an* dere Irrtum ging von dem Schlagwort von der „unsichtbaren Kirche“ aus, denn der Glaube sei eine reine geistige Sache, fernab von der Welt der greifbaren und leibhaftigen Dinge. Die evangelische Christenheit ist vor allem durch den Kampf mit den totalitären Machtsystemen der Gegenwart aus dem Bann dieser zerstörenden Irrtümer befreit worden. Die evangelischen Kirchentage der letzten fünf Jahre sind ein unübersehbares Zeichen dafür, daß das Evangelium nicht mit privatisierender Frömmigkeit zu verwechseln ist, sondern daß der vom Evangelium erfaßte einzelne Christ sofort von der Dynamik des Glaubens ergriffen wird, die zur Oeffent-lichkeitsgeltung und Oeffentlichkeitsgestaltung drängt.

Die sieben Arbeitsgruppen des Hamburger Kirchentages, der unter der Losung stand, „Werfet euer Vertrauen nicht weg!“ Hebr. 10/35 (In der Kirche; In der Familie; In der Politik; In der Arbeit; Im Dorfe; In der Siedlung; In der Großstadt), bezeugen, wie in der evangelischen Christenheit das Bemühen am Werke ist, aus dem Getto der privaten Religion zur Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben durchzubrechen. Begreiflicherweise war die Arbeitsgruppe III: .Werfet euer Vertrauen nicht weg in der

Politik“ am stärksten besucht. In dieser Gruppe sprach unter anderen Kirchenprä-sident D. N 1 e m ö 11 e r über das Thema „Unser Volk unter Völkern“. Er charakterisierte die Aufgabe des deutschen Volkes als eines Volkes auf der Grenze zwischen Ost und West, als die der Verständigung zwischen den weltpolitischen Spannungen und Gegensätzen. Nur in der Erfüllung dieser Aufgabe habe das deutsche Volk Hoffnung auf eine Weiterexistenz. Auch der Irrtum von der „unsichtbaren Kirche“ ist überwunden durch die Erkenntnis, daß die Kirche der Leib Jesu Christi ist und daß die Gemeinde Jesu ihren Glauben gemeinsam vor Gott und der Welt sichtbar, hörbar und leibhaftig bekennen muß. Diese sichtbare und leibhaftige Gemeinde wurde eine Wirklichkeit, als sich 60.000 Menschen vor der Michaeliskirche zurh Eröffnungsgottesdienst zusammenfanden, und als dann in der Schlußkundgebung 300.000 Menschen Gott im gemeinsamen Gebet und Lied lobten und bekannten.

Bei einem Presseempfang hat der Präsident Dr. Thadden den Sinn des Kirchentages von Hamburg in vier Punkten umrissen.

In ihm vollzieht sich ein Stück gesamtdeutscher Wiedervereinigung, das dadurch bedeutsam wird, daß die Brüder und Schwestern, die durch den Eisernen: Vorhang herüberkommen konnten, über Wochen und Monate voll Not und Verfolgung, aber auch von Bekennermut, Glaubenstreue und Durchhilfe zu berichten haben. Was jene erlebten, muß in der ganzen evangelischen Kirche spürbar werden, wenn sie nicht außerhalb der Geschichte Gottes in. unserer Zeit bleiben wolle.

■ Der evangelische Kirchentag will kein politisches Ereignis sein, sondern in erster Lin\e eine Versammlung von Christen unter dem Kreuz. Er ist weder eine Art evangelischer Parteitag noch eine kirchliche Synode, son-

dern der Aufbruch der Kirche zu neuen Gestaltungen und Aufgaben. Vor allem muß er sichtbar machen, daß die Kirche nicht nur eine Sache der Pfarrer ist, sondern vor allem vom Apostolat evangelischer Laien getragen wird.

Ferner muß sich der Hamburger Kirchentag dessen bewußt sein, daß er seine Tagung in der Stadt Johann Hinrich Wicherns hält, des Begründers der Inneren Mission und der evangelischen Kirchentage vor 100 Jahren. Deshalb stellt sich der Kirchentag mit ganzem Ernst den Fragen der sozialen Wirklichkeit von heute und sucht nach Lösungen, die eine Hilfe für morgen sein könnten.

Und zuletzt soll der Hamburger Kirchentag in einem höheren Sinne das bedeuten, was das Wesen der Hansestadt Hamburg ausmacht, die das Tor Deutschlands zur Welt ist, er soll die Wirklichkeit der Oekumene und der universalen Kirche Christi bezeugen.

Was der Präsident des Kirchentages hei diesem Presseempfang zum Ausdruck gebracht hat, ist in der Tat Wirklichkeit geworden. Zum Unterschied vom Kirchentag im vergangenen Jahr in Stuttgart trug er wieder gesamtdeutsches Gepräge. Weit über 1 5.0 0 0 Besucher waren aus der Ostzone gekommen und wurden überall mit besonderer Herzlichkeit empfangen. In den verschiedenen Arbeits- und Diskussionsgruppen haben ihre Aussagen und Berichte eine besondere Rolle gespielt.

Von Jahr zu Jahr wird die Teilnahme der Kirche aus der Oekumene immer stärker. Vor allem waren die Nachbarkirchen aus Holland und den skandinavischen Ländern vertreten, aber auch die anderen europäischen Kirchen, auch die Kirchen Amerikas, Indiens und Afrikas hatten ihre Vertreter gesandt. Besonders ist zu bemerken, daß der Vertreter des Katholikentages, der Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Landtagspräsident Oberbürgermeister Joseph Gockeln aus Düsseldorf, bei der Schlußkundgebung ein sehr warmempfundenes und freundliches Grußwort sprach, das mit großem Beifall aufgenommen worden ist. Es war ferner höchst bedeutsam, daß Bundeskanzler Dr. Adenauer bei seinem Besuch in Hamburg vor dem Präsidium des Kirchentages als katholischer Christ zum Ausdruck brachte, daß es in dieser Zeit nur eine Rivalität der Konfessionen geben dürfe, die der Nächstenliebe. Denn in dem Kampf zwischen Materialismus und Christentum müsse jeder die letzte Kraft aufwenden, damit Gott obsiegt.. Und er wird siegen und bedient sich unser als seiner Werkzeuge. Denn als Katholik lege er Wert darauf, daß die Konfessionen nicht gegeneinander arbeiten, sondern alle Kräfte zusammenfassen und dadurch stark werden.

Im Rahmen des Eröffnungsgottesdienstes dankte der Präsident des Kirchentages von Hamburg für die bereitwillige Mithilfe bei der Bewältigung der schweren Unterkunftswagen und der finanziellen Schwierigkeiten: „Sie haben vor aller Welt wahrmachen wollen, was das Neue Testament unter dem brüderlichen Eintreten für einander in der Gemeinde Jesu Christi versteht.“

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