6570047-1950_15_20.jpg
Digital In Arbeit

Nach dem „geistlichen Frühling“

Werbung
Werbung
Werbung

Als das „Dritte Reich im Frühjahr 1945 unter schweren Stürmen und Erschütterungen zusammenbrach, sah sich die evangelische Kirche in Deutschland über Nacht “vor eine völlig neue Lage und Aufgabe gestellt. Es hatte in den letzten Jahren der nationalsozialistischen Machtherrschaft viel persönlicher Glaubensmut dazugehört, sich zur christlichen Wahrheit und Sittlichkeit zu bekennen. Die evangelische Kirche war infolgedessen kleiner geworden, aber sie hatte durch diese Zurückdrängung zweifellos an innerer Konzentration und Kraft gewonnen. Schon hatte man sich damit abgefunden, daß man als Christ eben die Schmach der Welt tragen müsse, da gingen die Tore auf einmal wieder weit auf und unvorstellbare Scharen von Menschen wandten sich in neuem Vertrauen schutz-und hilfesuchend der Kirche zu. Die Arbeiterschaft, beeindruckt von dem tapferen Widerstand der „Bekennenden Kirche“, zeigte sich in einer Weise offen für Gespräch und Begegnung, wie das in der Geschichte des Sozialismus bisher noch nie der Fall gewesen war. In den Akademikerkreisen begann ein neues respektvolles Fragen nach den Kraftquellen der christlichen Offenbarung. Wohl strebten manche auch zur Kirche zurück, weil es bei der Ausfüllung des Fragebogens vorteilhafter war, seine Kinder nachgetauft zu haben. Aber daneben gab es eine große Schar der innerlich Zerbrochenen und bitter Enttäuschten, die von Herzen danach verlangten, einen neuen Halt und Grund unter den Füßen zu bekommen, nachdem der babylonische Turm zusammengestürzt war.

Wie hat sich die evangelische Kirche in Deutschland dieser total verwandelten Situation gegenüber verhalten? Man war sich klar darüber, daß die Kirche in einer Stunde von so außerordentlicher Tragweite alles zugleich zu sein hatte: wahr, barmherzig und hilfreich. Es kam nicht in Frage, daß nach so viel Verirrung einfach in ein Neuland hinübergewechselt wurde, als wenn nichts geschehen wäre. Es mußte von der Kirche ein Nein gesprochen werden in persönlicher Mitschuld und Mitverantwortung dafür, wie alles gekommen war. Dieses Wort des Gerichts und des Selbstgerichts erfolgte bekanntlich in jener „Stuttgarter Erklärung“ unmittelbar nach dem Zusammenbruch, an der Männer, wie T e o-phil Wurm, Martin Niemöller, Hans Asmussen und Hans Lilje in maßgeblicher Weise mitgearbeitet hatten. Nicht alle Glieder der Kirche waren damals damit einverstanden. Jedenfalls aber hatte dieses Wort die ungeheure Wirkung, daß alsbald wieder das Vertrauen der Weltchristenheit zur evangelischen Kirche in Deutschland neu aufbrach und daß sich im Zusammenhang damit die Schleusen der ökumenischen Hilfsquellen in großzügiger Weise öffneten.

In einem Volk, über das eine Katastrophe von so fürchterlichem Ausmaß hereingebrochen war, durfte die Kirche auf keinen Fall allein nur mit dem Schwert der Wahrheit kommen. Es galt vor allem, in der Sprache des biblischen Prophetismus ausgedrückt, „mit den Müden zu reden, das zerstoßene Rohr nicht zu zerbrechen und den glimmenden Docht nicht zu erlöschen“. Die Jahre nach dem Zusammenbruch gaben der evangelischen Kirche in Deutschland reichlich Gelegenheit, dieses Wort in die Tat umzusetzen, indem man die Vergebung an Stelle der Vergeltung walten ließ. Man hat den Menschen die Gemeinschaft nicht versagt, die sie einmal verleugnet hatten und jetzt wieder suchten. Ein Mann wie der Stuttgarter Landesbischof Dr. W u r m, der dem „Braunen Haus“ gegenüber nicht geschwiegen hatte, erhob auch jetzt wieder seine Stimme und kämpfte dafür, daß sich der Geist der Rache nicht bösartig hemmungslos austoben durfte an denen, die mitschuldig geworden waren. Daneben hat die evangelische Kirche seit 1945 in der Zusammenarbeit von Hilfswerk und Innerer Mission Großes geleistet im Dienste der Heimatlosen, Ausgebombten, von Hunger, Krankheit und Elend Bedrängten.

Vor allem aber galt es, eine Aufgabe neu in Angriff zu nehmen. Es mußte nar der Niederlage der nationalsozialistischen Weltanschauung eine völlig neue Orientierung für das gesamte menschliche Denken und Handeln aus dem Geist des Evangeliums gegeben werden. Es waren ja alle Berufe einer fragwürdigen Ideologie erlegen, und dieses falsche Denken hatte sich in der Praxis des Lebens verhängnisvoll genug ausgewirkt. Der Vollzug dieser Aufgabe geschah in der Weise, daß in allen Landeskirchen der Westzone evangelische Akademien ins Leben gerufen wurden, Freizeitstätten, an denen in fortlaufenden Kursen evangelische Bildungs- und Erziehungsarbeit geleistet wird. Dabei hat es sich als besonders fruchtbar erwiesen, Menschen in Gruppen von etwa je hundert Teilnehmern einzuladen, ausgewählt nach einheitlicher Berufszusammensetzung.

Das Echo auf diese Bemühungen war in den ersten Jahren nach der Katastrophe gewaltig. Um der Wahrhaftigkeit willen aber muß gesagt werden, daß dieser verheißungsvolle Anlauf nicht angehalten hat. Wir beobachten heute weithin ein Nachlassen dieses geistlichen Frühlings. An Stelle der offenen Herzen und Türen ist vielfach Gleichgültigkeit und Verschlossenheit getreten. Die Gründe für diesen Entwicklungsprozeß sind mannigfacher Art. Ungezählte Gemeinden haben durch die Kriegseinwirkungen ihre gottesdienstlichen Stätten verloren. Die Notkirchen, die an die Stelle getreten sind, bescheidene Säle, oft auch nur armselige Holzbaracken, fassen nur einen kümmerlichen Bruchteil der Gemeindegliederzahl. Wohl sind diese neuen „Gotteshäuser“ allsonntäglich gedrängt voll. Aber diese Zahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Großteil der Gemeinde sich verlaufen hat. Die erstaunlich rasche und günstige Sanierung der Lebensverhältnisse, die wenigstens dem westlichen Teil von Deutschland zuteil geworden ist, hat bewirkt, daß der Hunger nach Gott und seinem lebendigen Wort geringer geworden ist. Man kann sich jetzt auch an anderen Tischen wieder satt essen. Man ruft nicht mehr so aus der Tiefe wie in den Jahren der bittersten Not. In der Ostzone Deutschlands ist das nach allen Nachrichten, die wir von dort empfangen, völlig anders. Dort steht der Mensch bei Tag und Nacht in einer solchen Anfechtung des Leibes und der Seele, daß er unmittelbar auf die Hilfe Gottes geworfen bleibt. In gewissem Sinn ist darum die Kirche in der Westzone mehr gefährdet, trotz oder besser gesagt gerade wegen der viel größeren Sicherheit und Ruhe, deren sie sich erfreuen darf. So sehen wir heute unsere Hauptaufgabe darin, dahin zu wirken, daß die evangelische Kirche in Deutsdiland wach bleibt gegenüber den Gefahren der Verbürgerlichung, der Restauration, der Verweltlichung, und wir meinen, daß auch die katholische Kirche in Deutschland die gleichen Gefährdungen kennt und ihnen begegnen muß.

Hoffnungsvoll erscheint der Blick auf die junge Generation. Die jungen Menschen fragen heute, wenn sie dem •Christentum näher treten, wieder radikal. Sie wollen entweder entschiedene Christen sein oder sie wollen es überhaupt nicht sein. Eine wohltemperierte, mittelmäßige, lauwarme Christlichkeit erscheint ihnen als unvollziehbar. Der Zudrang zum evangelischen Theologiestudium ist außerordentlich lebhaft. So hatte die Universität Tübingen in dem eben abgeschlossenen Wintersemester 520 evangelische Theologiestudenten. Diese Zahl würde noch beträchtlich höher sein, wenn nicht ein von der Militärregierung festgesetzter Numerus clausus die Gesamtzahl der Studierenden begrenzen würde.

So tut man gut daran, bei einem solchen Bericht nicht mit zu vollen Posaunen zu blasen, es ist aber auch kein Grund vorhanden, im Blick auf die Zukunft zu verzagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung