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Rückfall oder Aufstieg?

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hn letzten halben Jahrhundert haben sich im intellektuellen Raum Europas Dinge begeben, die vor hundert Jahren noch undenkbar schienen: die Einkehr beziehungsweise Annäherung von Eliten in Wissenschaft, Kunst, Literatur, ein Offenwerden breiter Kreise von „Gebildeten" für das Leben und die Lebensfragen des orbis catholicus. Aus diesem Prozeß gingen hervor: eine Erneuerung der christlichen Presse und Publizistik, eine erste Begegnung von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaften, die ak-

tive Teilnahme von Laien an der Theologie, das Erstehen eines transparenten Realismus in der Kunst und Literatur. Wer heute sich über Grundfragen der Genesis informieren will, kann zu christ-

liehen Naturforschern gehen, wer heute etanas vom christlichen Gottes- und Menschenbild erfahren will, aber auch etwas von priesterlicher Existenz und vom Mysterium der Kirche in der Welt, muß bei christlichen Dichtern einkehren.

dieser Prozeß der Einkehr des europäischen Intellektuellen in die Kirche hat lange vor dem ersten Weltkrieg begonnen, er setzte sich nach diesem fort, um nach dem Ende des zweiten Weltkrieges abziuflauen, zum Stillstand zu kommen, ja bereits in wichtigen Ländern zu i versiegen und sogar rückläufig zu werden. Frankreich, Italien, Deutschland geben hier das Exem- peli noch leben einzelne der großen Alten, wie Claudel, Maritain, Papini, die Söhne aber gehen sehr andere Wege. Es sei hier nur, als Symbolfall, auf Claude Mapriac, den Sohn Franęois Mauriac's, verwiesen. Diesen Söhnen erscheint nicht, wie seinerzeit den Vätern, die Kirche als der Raum der Freiheit und Menschlichkeit, sondern — wir referieren hier nur — als ein „Kerker, zumindest ein Ghetto, das vorübergehend aus opportunen Gründen Tür und Tor geöffnet batte". Man muß dieses Ressentiment bereits hier vorstellen, da es in der neuen Abkehr der Intellektuellen von der Kirche, zumal in den romanischen Ländern, eine große Rolle spielt. Die Entwicklung der politischen Situation Westeuropas in diesen letzten Jahren ist undenkbar ohne dieses Ressentiment von Intellektuellen, die i sich enttäuscht, wenn nicht betrogen wähnen.

Und Deutschland? Soweit die diesige Luft Einblick gewährt, läßt sich feststellen: geringes Interesse für katholische Bücher und Publizistik, keine Weiterbildung jener großartigen Phänomene,

die nach dem ersten Weltkrieg durch das Berjin Sonnenscheins und Guardinis, das Leipzig und Dresden der Oratorianer, das

München der jesuitischen Avantgarde vertreten wurden.

Im Herbst des Vorjahres, 1951, bestieg der Nestor und Protektor deutscher katholischer Wissenschaft, der zweiundachtzigjährige Kardinal von München, das Podium der Festversammlung der Görres-Gesellschaft, um die deutschen Katholiken zu beschwören, etwas zur Unterstützung ihrer geistig Schaffenden zu tun

Hören wir nun die Stimmen katholischer Intellektueller in Österreich, so wie

sie unter sich ihre großen Sorgen aussprechen. Da steht an erster Stelle die Klage: wir haben keine Standesvertre- tung, weder im Staat noch in der Kirche. Das faktische Interesse beider Mächte an uns ist gering, trotz vieler gegenteiliger Behauptungen. Wir brauchen dringend: eine als Dach zu denkende Sammlung katholischer Intellektueller, über und außerhalb aller Parteiformationen politischer und akademischer Art. An die Spitze müßten Männer und Frauen mit Charakter und Bildung treten. Nur ein solcher Bund, der sich sehr elastisch einer regen Propaganda- und Pressepolitik bedienen müßte, könnte faktisch Bitten und Forderungen mit einiger Aussicht, redlich Gehör zu finden, erheben. Wir haben das Gefühl, ein verlorener Haufe zu. sein

In der Kirche wäre da zu erbitten: eine Klarstellung der Bedeutung, der möglichen Bedeutung des katholischen Intellektuellen für die Arbeit der inneren Mission, der Glaubensverkündigung, der Apologie; für die Christianisierung in den Randzonen der Pfarren, der Kirche, der Katholizität. Notwendig wäre deshalb da

und dort: der Abbau eines Mißtrauens gegen den Intellektuellen, gegen seine Mitarbeit, gegen seine Aktivität. Die Weckung des Wissens des Klerus um die spezifischen Versuchungen, Sorgen, Schwierigkeiten des Intellektuellen.

Dazu gehört, etwa in der Pfarre, ein gewisses Maß von Rücksicht bei der Ge-

staltung der Predigt, Rücksicht nicht sosehr in bezug auf die Intellektuellen in der Kirche, wohl aber auf deren Brüder am Rande der Kirche, die oft nach vielen Jahren zum erstenmal wieder eine Kirche aufsuchen, das heißt suchen; eine Messe also und eine Predigt, die einigermaßen ihrem beruflichen Weltbild und ihrer Mentalität entgegenkommt. Schon deshalb wäre es wichtig, in jeder Diözese unter der Obhut des Bischofs eine kleine Gruppe von Klerikern und Laien zu bilden, die regelmäßig Bilanzen erstellen über die materielle, geistige und religiöse Lage der geistigen Arbeiter in der Diözese. Gemäß dem bekannten Wort

des hl. Bernhard ist der Tempel Gottes zuallererst der Mensch; wenn dieser nicht rechtzeitig gebaut, aufgebaut wird, hat es wenig Sinn, Kirchen zu bauen. Wie gedenkt man direkt und vor allem indirekt Ausbildung, Unterbringung, Familiengründung christlicher Intellektueller zu fördern? Was kann geschehen für eine im Bischofswort verpflichtende Wei

sung an katholische Bürger, Wirtschafter, Universitätsprofessoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Wohlhabende, Agrarier, bestimmte Leistungen, etwa einen katholischen Kulturgroschen, zur Förderung christlicher geistiger Arbeit auf sich zu nehmen? Neben diese Erstaufgaben tritt als Bitte der österreichischen Intellektuellen an die Führung ihrer Kirche: die Klarstellung der Bedeutung, des Arbeitsbereiches katholischer Bildungswerke, Akademien, hohen Schulen. So heiß dieses Eisen ist, jetzt ist es Zeit, daß es geschmiedet wird: die notwendige kommende Einigung und Einung der kirchlich inspirierten Volksbildungswerke, die Zusammenarbeit der Wiener Katholischen Akademie mit dem Salzburger Universitätswerk. Kirchenführung, Professoren, Studenten und Protektoren, Förderer und Schirmherren zusammen können allein das katholische Bildungs- und Forschungswesen instand setzen, so daß es feste Stützpunkte katholischer Arbeit in die Welt hinein bildet und zugleich lebensmäßig die Grundlage abgibt, den Boden, auf dem ein Nachwuchs heranwachsen kann.

Alles das hat aber nur dann Sinn, wenn es dem katholischen Intellektuellen ermöglicht wird, in Freiheit und Würde in der Kirche zu dienen. Der Intellektuelle soll aufrecht stehen können in einem erweiterten Innenraum der Kirche, in dem

er die Anteilnahme der Kirche erfährt in Aussprache, Begegnung, Diskussion und Auseinandersetzung. Nicht oft genug kann darauf hingewiesen werden: ohne innerkatholische Kritik, ohne sachliche Gegnerschaft kann die Wissenschaft und geistige Arbeit nicht existieren. Sie ist Vorbedingung einer standfesten katholischen geistigen Arbeiterschaft.

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