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Evangelische Kirche in Bewegung

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Zwei Ereignisse der letzten Zeit lassen es im Blick auf die evangelische Kirche in Deutschland als gerechtfertigt erscheinen, von einer .Kirche in Bewegung“ zu sprechen: der Kanzelaufruf der Berlin-Brandenburgschen Kirchenleitung vom 23. April dieses Jahres und die Erklärung der im Ostsektor von Berlin versammelten Synode der evangelischen Kirche in Deutschland zu der Frage: „Was kann die Kirche fürden Frieden tun?“ Nimmt man noch hinzu, was am Tag der Eröffnung der Berliner Synode Bischof D. Dibelius in seinem Rechenschaftsbericht über die Teilnahme der evangelischen Kirche in Deutschland an den Vorgängen des öffentlichen Lebens sagte, dann wird der Wandel, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat, offensichtlich: die Kirche ist aus ihrer abwartenden Haltung herausgetreten. Sie will nicht länger schweigen zu dem, was in der Öffentlichkeit geschieht, sie fühlt sich mitverantwortlich auch für die äußeren Lebensbedingungen des Volkes. Darum war es auch keineswegs überraschend, daß in der Beantwortung der Frage: „Was kann die Kirche für den Flieden tun?“ auch sehr konkrete Dinge genannt wurden, wie etwa die Freigabe der Gefangenen, die Beseitigung der Zonengrenzen und der Abschluß gerechter Friedensverträge.

Es ist nicht neu, daß die evangelische Kirche in Deutschland zu öffentlichen Fragen Stellung nimmt. Als der nationalsozialistische Staat im Jahre 1933 sich anschickte, die bis dahin selbständigen evangelischen „Landeskirchen“ unter Führung eines „Reichsbischofs“ zusammenzuschließen und „gleichzuschalten“, setzten sich verantwortungsbewußte Pfarrer und Laien zur Wehr.. Als „bekennende Kirche“ im In- und Ausland viel verkannt, von der Parteidoktrin als getarnte politische Opposition gebrandmarkt, das Konzentrationslager stets vor Augen, hat diese „Kirche in Bewegung“ durchgehalten bis zum Ende und den Weg durch die Wirrnis der Zeit gewiesen.

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sah sich diese „Kirche in Bewegung“ vor neue, ungeahnte Aufgaben gestellt. Ein unübersehbarer Strom von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen flutete in die westlichen Besatzungszonen. Seelische und materielle Hilfe tat not. Ein Land ohne staatliche Ordnung konnte sie nicht bieten. Es war niemand da, der Anordnungen treffen konnte. Da trat die Kirche auf den Plan. Das „Hilfswerk der evangelischen Kirche in Deutschland“ wurde geschaffen. Im Lauf von drei Jahren hat es rund 50 Millionen Kilogramm Auslandsliebesgaben und weitere 50 Millionen Kilogramm Lebensmittel und Liebesgaben aus deutschen Spenden verteilt.

Der große Flüchtlingsstrom hatte weithin auch eine starke konfessionelle Umschichtung zur Folge. Nach einer südwestdeutschen Statistik ist in Nordwürttemberg der Anteil der Katholiken von 23 auf 30 Prozent und in Hessen von 26 auf 33 Prozent gestiegen. Im Bayrischen Wald, wo es bisher kaum Evangelische gab, sind durch den Zuzug von Flüchtlingen große evangelische Gemeinden entstanden. Hier stellte der Bischof von Passau die Mitbenützung von fünfundzwanzig katholischen Gotteshäusern in seiner Diözese frei und in Schleswig-Holstein konnte es vorkommen, daß der evangelische „Pastor“ den katholischen Flüchtlingspfarrer im eigenen Dienstwagen persönlich von Lager zu Lager führte. Solche aus der Not der Zeit geforderte Begegnung der Konfessionen gehört mit zu dem, was mit dem Thema „Kirche in Bewegung“ gemeint ist.

Es ist bezeichnend für die völlig veränderte Lage der evangelischen Kirche in Deutschland, daß sie ihren Beitrag zur Lösung des Flüchtlingsproblems auch auf dem Gebiet des Wohnhaus- und Siedlungsbaues erbringt. Schon 1946 wurde in der Nähe von Frankfurt am Main auf einem ehemaligen Exerzierplatz mit dem Bau der Siedlung „Heilsberg“ begonnen, die 5000 Menschen eine Heimat bieten und mehrere Lehrwerkstätten für Jugendliche erhalten soll. Seitdem sind auch an anderen Orten Siedlungen entstanden, für die das Evangelische Hilfswerk als Bauherr zeichnet, so auf dem ehemaligen Munitionslagerplatz Espelkamp in Westfalen, wo für etwa 10.000 Menschen Wohnraum und Arbeitsmöglichkeit geschaffen wird.

Auch auf dem Gebiet der Publizistik ist die evangelische Kirche in Deutschland eine „Kirche in Bewegung geworden. Das von Bischof D. Lilje herausgegebene „Sonntagsblatt“ und die im Evangelischen Verlagswerk in Stuttgart erscheinende Wochenschrift „Christ und Welt“ sprechen eine sehr offene Sprache zu allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Darüber hinaus vermitteln evangelische Akademien Gespräche zwischen Vertretern der Kirche einerseits und Medizinern, Juristen, Lehrern, Kaufleuten, Studenten und Vertretern des Sports andererseits. Eine Begegnung besonderer Art ermöglicht die kürzlich eröffnete Evangelische Sozialschule in Friedewald in Hessen; sie führt Gewerkschaftssekretäre und Arbeitervertreter mit Pfarrern zusammen und veranstaltet regelmäßige „Soziallehrgänge“ für Pfarrer.

Vor ganz andere Probleme ist die evangelische Kirche in der deutschen Ostzone gestellt. Hier ist das eingetreten, was der Heidelberger Professor Edmund Schlink im Blick auf den Kampf der „bekennenden Kirche“ in den Jahren 1933 bis 1945 sagt: „Das größte Geschenk war die Zerschlagung aller irdischen Stützen und Sicherheiten, durch die die Kirche bisher ihren Bestand garantiert sah, und das alleinige Geworfensein auf ihren Herrn Jesus Christus.“ In Ostdeutschland ist die Trennung von Staat und Kirche durchgeführt. Hier ist das 1000jährige konstantinische Zeitalter, in dem die Kirche eine selbstverständliche Offentlichkeitsstellung hatte, zu Ende gegangen. Der Religionsunterricht, bisher von weltlichen Lehrern im Rahmen ihrer sonstigen Lehrverpflichtung erteilt, ist aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen. So mußte die Kirche in ganz kurzer Zeit einen eigenen Religionsunterricht aufbauen, der „Christenlehre“ genannt wird. Die Pfarrer allein hätten diese — vielfach ungewohnte Arbeit nicht bewältigen können. In dieser Notlage wandten sich die Kirchenleitungen an das Kirchenvolk und „Kirche“ kam „in Bewegung“. Schulungskurse wurden eingerichtet, im denen freiwillige Helfer, oft erst nach Arbeitsschluß in den Abendstunden, für den Dienst an der Jugend vorbereitet wurden. Gegenwärtig stehen in Ostdeutschland etwa 20.000 solcher Laienkräfte im Religionsunterricht. Welche Verantwortung diese von der Kirche bestellten Religionslehrer auf sich nehmen müssen, erhellt allein aus der Tatsache, daß in Ostdeutschland ein amtliches Lehrbuch für Geschichte, das für Unterrichtszwecke benützt wird, den Satz enthält: „Durch die Wissenschaft ist erwiesen, daß es überhaupt keinen Christus gegeben hat.“

Als besondere Not wird in Ostdeutschland der Pfarrermangel angesehen. Gegenwärtig sind 1000 Pfarrstellen unbesetzt. Die Meldung, daß 170 Theologiestudenten der westdeutschen Universität Göttingen sich verpflichtet haben, nach Abschluß ihres Studiums sich der evangelischen Kirche in der Ostzone zur Verfügung zu stellen, verdient Beachtung, hebt jedoch den Notzustand nicht auf. An vielen Orten sind Mitarbeiter der inneren Mission und Diakonissen in die Bresche gesprungen und haben die geistliche Betreuung sonst verödeter Ge meinden übernommen; sie halten Bibes-stunden und Gottesdienst, sie leisten Gesundheitsdienst unter oft größten persönlichen Entsagungen.

Solche und ähnliche Beispiele beweisen, daß die evangelische Kirche in der Ostzone einer harten Bewährungsprobe unterworfen ist. Und doch ist in den Briefen aus der Ostzone sehr oft zu lesen: „Wir beneiden euch Im Westen nicht. Wir haben viel mehr Sorge, es ginge dort zu glatt. Bei euch kostet das Christsein nichts ... Wir sehen die Kirche im Westen in geordneter Sicherheit unter den Besatzungsmächten, die sich christlich nennen, während wir im Osten erleben, wie alle Stützen und Krücken weltlicher Sicherheit uns zerbrochen werden und wir ganz allein auf Gott geworfen sind und seine tägliche Führung. Hier im Osten ist einer der Brennpunkte kirchengeschichtlichen Geschehens im Abendland. Wahrlich, ihr sollt uns beneiden, nicht bemitleiden..

„Kirche in Bewegung“ — im Osten wie im Westen. Und an verantwortlicher

Stelle in der Leitung dieser Kirche ein Mann, dem die Universität Marburg vor wenigen Monaten die Würde eines Doktors der Rechte verliehen hat: der Berliner Bischof DDr. Dibelius, dessen mutvolles Eintreten für Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit auch im Ausland Achtung und Anerkennung findet. Es wäre verfrüht, aus der gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirche in Deutschland allzu weitgehende Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Mit einiger Vorsicht darf jedoch gesagt werden, daß diese „Kirche in Bewegung“, die heute vielleicht noch im Vorfeld kommender Ereignisse steht, der gesamten abendländischen Kulturwelt einen nicht zu unterschätzenden Dienst erweist.

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