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nterventionen in Vichy

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F.: Herr Präsident, Sie erwähnten soeben Ihre Interventionen bei der Vichy-Regierung gegen die Auslieferung der französischen und deutschen Juden an die nationalsozialistischen Behörden. Ihr Bericht, der historisch ein ungewöhnlich interessantes und faszinierendes Dokument darstellt und in Deutschland kaum bekannt sein dürfte, gibt über zwei Dinge Aufschluß: Erstens erwies sich der Versuch einer Einflußnahme auf die Regierung des Marschalls Pėtain als ergebnislos. Zweitens ist sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite alles Menschenmögliche unternommen worden, um den Deportationen ein Ende zu setzen. Ich habe nun — nach Lektüre der mir überlassenen Unterlagen — eine Vorstellung, warum der Geschäftsträger der deutschen Botschaft, Gesandter Schleier, Außenminister von Ribbentropp empfohlen hatte, Sie auf die Liste derjenigen prominenten Persönlichkeiten zu setzen, die im Falle einer alliierten Invasion als Geiseln zu verhaften seien. Wie erklären Sie sich, Herr Präsident, die Passivität der Vichy- Regierung in der -Judenfrage — mit echtem Antisemitismus oder mit der völligen Abhängigkeit von den nationalsozialistischen Behörden?

A.: Beide Gesichtspunkte spielten eine Rolle. Marschall Pėtain zeigte eine absolute Hilflosigkeit, während mir ein Minister seiner Regierung über die Juden offen ins Gesicht sagte: „Diese Leute haben dem Land so viel Schaden zugefügt, daß sie eine kollektive Bestrafung verdienen.”

Als ich Ministerpräsident Pierre Laval im Sommer 1941 aufsuchte, um gegen die Deportation zu protestieren, sagte er, er könne nicht anders handeln. „Werden Sie denn”, fragte ich ihn, „eine regelrechte Menschenjagd veranstalten?” Und er gab zur Antwort: „Man wird sie überall dort suchen, wo sie sich versteckt haben könnten.” Ich fragte weiter: „Wären Sie damit einverstanden, daß wir wenigstens die Kinder retten?” Darauf Laval: „Die Kinder müssen bei ihren Eltern bleiben.” Ich insistierte: „Aber Sie wissen doch, daß sie von ihnen getrennt werden?” Laval verneinte. Nachdem ich ihm versichert hatte, daß dies der Fall sein werde, fragte der Ministerpräsident: „Was wollen Sie mit den Kindern machen?” Ich antwortete, daß französische Familien sie adoptieren würden. Daraufhin stellte Laval fest: „Ich will nicht, ‘daß auch nur ein einziges Kind ip Frankreich zurückbleibt.”

Es blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als ihn auf den Ernst der Lage hinzuweisen und ihm zu sagen, daß angesichts dieser Tatsachen die Kirchen nicht schweigen könnten. Er erwiderte: „Die Kirchen? Sie haben so manches andere getan! Ich habe dies dem Vertreter der Nuntiatur gesagt, der mich aufgesucht hat. Im übrigen: Mögen sie tun, was sie wollen. Ich werde weiter fortfahren, das zu tun, wozu ich verpflichtet bin.”

Ich habe in meinem Rechenschaftsbericht im Oktober 1945 diese Unterredung dahin kommentiert, daß von einem Mann nichts zu erhalten war, den die Deutschen im Glauben ließen — oder der so tat, als glaube er es —, daß die aus Frankreich fortgeführten Juden nach Südpolen gebracht würden, um dort Land zu bebauen, das später zu einem jüdischen Staat gehören sollte, den die Deutschen angeblich errichten wollten. Ich führte ihm die Massaker vor Augen; er aber sprach von „Gartenbau”...

F.: Ich habe aus Ihrer Darstellung und Ihren schriftlichen Aufzeichnungen entnommen, daß die katholische Kirche parallele Schritte unternahm. Hat zwischen Ihnen und der katholischen Kirche eine Verbindung bestanden?”

A.: Kardinal Gerlier, der von Lyon aus wirkte, und ich unterrichteten uns gegenseitig über unsere Interventionen. Bereits vor dem Ihnen geschilderten Gespräch mit Laval hatten der Erzbischof von Toulouse, die Bischöfe von Montauban und Marseille und auch Kardinal Gerlier selbst Hirtenbriefe verlesen lassen, von denen einige, die sich mit der Verfolgung von „Nichtariern” befaßten, von großem Mut getragen waren.

Die ökumenische Bewegung

F.: Hat die ökumenische Bewegung, die Sie, Herr Präsident, zu ihren entscheidenden Köpfen zählt, seit 1910 wirklich umwälzende Erfolge erzielt?

A.: Wenn wir auf die letzten 50 oder 60 Jahre zurückblicken, so können wir feststellen, daß sich ein revolutionärer Wechsel vollzogen hat. Wir haben den wachsenden Wunsch nach wirklichen Kontakten auf seiten der Katholiken erlebt. Bedenken Sie: Im Jahr 1928 ist der Papst noch gegen jede Art von Ökumenismus eingetreten! Und noch 20 Jahre später, 1948, verbot ein •Monitum des Heiligen Stuhls jedem katholischen Theologen, als Beobachter beim ökumenischen Kongreß anwesend zu sein. Aber nach dem letzten Krieg kamen die Dinge rasch in Bewegung. Und ich kann heute generell feststellen, daß ich über die Ergebnisse der letzten 60 Jahre beglückt bin, in denen ich mit dem Einsatz meiner ganzen Person für christliche Einheit eingetreten bin.

In den Jahren 1959, 1960, 1961 wurde katholischen Beobachtern von Rom erlaubt, offiziell an den Sitzungen des Zentralkomitees des ökumenischen Rates und an der großen Versammlung von New Delhi teilzunehmen. Die protestantischen Kirchen fanden es ihrerseits fast normal, daß der ökumenische Rat der Kirchen aufgefordert wurde, Beobachter zum Vaticanum zu senden.

F.: Wo steht nun der Protestantismus heute in der Frage der Einheit? Ihre Gedanken, Herr Präsident, die Sie kürzlich in einem Vortrag in Heidelberg entwickelten, haben in Deutschland ein starkes Echo gefunden. Die Presse berichtete ausführlich darüber und stellte besonders heraus, daß Sie die Evolution des Annäherungsprozesses zwischen der katholischen und den protestantischen Kirchen als „Wunder” bezeichnet hatten.

AIch möchte wiederholen, wie sehr Karl Barth und der Beobachter des Ökumenischen Rates beim Vatikanischen Konzil, Lukas Fisher, recht haben, den Protestanten immer wieder mit Nachdruck zu sagen: Wie bedeutungsvoll auch das Problem unseres Kontakts und des Gesprächs mit der katholischen Kirche sein mag — noch wichtiger ist für uns, zu wissen, ob unsere Kirchen heute die Erneuerungsbewegung erleben, jenen Durst nach Erneuerung, den in der katholischen Kirche die Worte so vieler Konzilväter und die Taten des päpstlichen Souveräns ausgelöst haben. Wir dürfen beim Gedanken an unsere Beziehungen mit der katholischen Kirche den Imperativ der Einheit unserer eigenen Kirchen nicht vergessen. Sonst müßten wir angesichts der gegenwärtigen geistigen Verfassung fürchten, auf dem Weg der biblischen Erneuerung eines Tages von unseren Brüdern der römischen Kirche überholt zu werden.

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