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Arbeiteradvent vor 20 Janren

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Mit dem Zusammenbruch des alten Österreich zerfiel auch ein Konzept, nach dem die Kirche in Österreich bisher gelebt und gearbeitet hatte: die Vorstellung vom selbstverständlich „katholischen Österreich“, dessen Garant das katholische Herrscherhaus war. Die Bedeutung, ja die Größe dieser Idee soll über ihrer Tragik nicht übersehen werden; auch nicht, daß Kirche und Seelsorge vor 1918 zeitbedingt ihre Pflicht getan hatten. Aber, daß sie je in eine Existenznot geraten könnten, war ihnen vor 1918 unvorstellbar.

Es war ein von der jungen Generation heute kaum mehr nachfühlbarer Schrek-ken, der mit einem Male über die Kirche hereinbrach. Die, wie man meinte, unabdingbaren Voraussetzungen ihrer Arbeit: christliche Gesetzgebung, die Erziehung und Bildung der Jugend aus dem Geiste des Glaubens, die kirchliche Ehe, die bisherige wirtschaftliche Grundlage der Seelsorge und vieles andere waren von heute auf morgen in Frage gestellt. Es war nicht der Entschluß einer Überlegung, sondern die einfache Not, die sie zugreifen ließ, als die christliche Partei sich als Garanten der soziologischen Forderungen der Kirche antrug, um so mehr, als andere Parteien den Abbau der öffentlichen Stellung der Kirche auf ihr Programm gesetzt hatten.

Weil nun aber keine dieser Parteien rein weltanschauliche Interessen hatte und alle, und zwar primär, ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Konzept verfochten, begann jene Tragik, die immer mit der Bindung der Kirche an eine bestimmte Partei gegeben ist. Diese peinliche Notlage war wiederum für die kirchenfeindlichen Gruppen der Anlaß zu einer verstärkten antireligiösen Propaganda, die immer drohender einer Abfallshetze zutrieb, wie man sie bisher nicht für möglich gehalten hatte.

Der in seinem Ursprung atheistische Marxismus hatte nun eine billige und jedem Augenschein glaubhafte neue Parole- Die Kirche steht in den Reihen unserer politischen Feinde! Heraus aus dieser Kirche! Die Freidenker übernahmen seine weltanschauliche Führung. Wir denken heute kaum mehr daran, daß einem damals in Wien nicht nur das Abzeichen der roten Nelke, sondern ebensooft das Stiefmütterchen (in eine merkwürdige Teufelsfratze verzerrt) auf jedem Schritt begegnen konnte. Die Gegensätze verschärften sich, als ein, nein: der prominente Priester des damaligen Österreich die Führung der Christlich-sozialen Partei und bald die der antimarxistischen Front übernahm. In einem erschütternden Brief an mich gestand er mir auf meine Bedenken, er habe sich dazu entschließen müssen und könne nicht abspringen; er wisse sich als Lenker eines Wagens, der abwärts rolle, und müßte dafür sorgen, daß er unten nicht zerschelle. Damit ist die staatspolitische Sendung Seipels und seine menschliche Größe gekennzeichnet. Aber seine Stellung wurde nun gegen seine Absicht der neuralgische Punkt jener Tragik, in der sich die Kirche in Österreich befand.

Die Zahlen der Kirchenaustritte wuchsen nun lawinenartig an; bald war die Hunderttausendgrenze überschritten. Da beschloß man in Wien eine allgemeine Mission in allen Pfarren und Kirchen. Es sollten die Arbeiter erfahren, was die Kirche will. Aber die Missioa war ein Schlag ins Wasser. Diejenigen, für die sie bestimmt war, kamen nicht oder konnten nicht kommen, weil der Terror zu groß war. Die Arbeiterschaft war weiterhin der Propaganda der Frei-denkerei überantwortet.

In dieser Not meinte ich, einspringen zu müssen. Mission? Ja, aber sie sollte sich an das Wort des Herrn halten: „Gehet hin und lehret“, und das nicht heißt: „Ladet sie zu euch ein und wartet, bis sie kommen.“ In Artikeln, vor allem im „Seelsorger“, versuchte ich, um Verständnis für die wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter zu werben und um Loslösung der Seelsorge aus der Parteipolitik. Durch die Vermittlung jener Gruppe innerhalb des Sozialismus, die um die Befreiung ihrer Partei aus den Fängen der Freidenker kämpfte, gelang es mir, zunächst in vielen Gewerkr Schaftsversammlungen, die zu Hunderten besucht waren, und in Zusammenkünften der sozialistischen Hoch- und Mittelschüler zu sprechen. Es erschütterte mich immer wieder, welche Verwirrung und wieviel seelische Not die Leute in diese Versammlungen trieb.

Am 17. November 1928 kam es endlich zur ersten großen Versammlung im Bezirksamt am Aisergrund. Die roten Plakate fragten an allen Wänden: „Kann ein Katholik Sozialist sein?“ (Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mich zum Sprecher in dieser Versammlung mit Vorwissen und dem Segen meines Oberhirten entschlossen hatte.) Nach der Einleitung des Vorsitzenden Otto Bauer, es bliebe dem Proleten in den Kämpfen um seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung nichts anderes übrig, als sich in die Reihe der einzigen proletarischen Partei zu stellen, sprach ich. Was ich wollte, war, daß die Arbeiter die wirklichen Gründe erführen, welche die Kirche zu ihrer Stellungnahme zwinge, und daß die programmatische und tatsächliche Haltung der Sozialistischen Partei im damaligen Augenblick diese Frage nur mit „nein“ beantworten konnte.

Nach mir sprach Nationalrat Dr. Wilhelm Ellenbogen, der selber ein entschlossener Gegner der Freidenkerei war: Religion gehöre so zum Menschen wie das Atmen und das Essen. (Er war Arzt.) Die Sozialdemokratische Partei habe sich aus einer religiösen und ebenso einer antireligiösen Stellungnahme herauszuhalten, mit ihrem Programm, „Religion ist Privatsache“, müßte nun erhst gemacht werden. Aber es genüge heute schon, die gestellte Frage mit ja zu beantworten.

Nein und ja? Die nachfolgende Aussprache — die Versammlung dauerte dreieinhalb Stunden — enthüllte wieder die Fragenot, in der die Arbeiter lebten.

Die Arbeit wuchs nun in ungezählten Aussprachabenden und Versammlungen an. Aber auch die Mißverständnisse und Widerstände. In beiden Lagern. Es war nicht meine Absicht, in das unmittelbar Politische einzugreifen; ich hatte rein religiöse und seelsorgliche Anliegen. Ich konnte es aber auch nicht verhindern, daß die Abgeordneten Leuthner und Glöckel im Parlament meine Vorträge oder Artikel dem Bundeskanzler Seipel entgegenhielten. Selbst Freunde rückten ab und das im Augenblick, wo die Arbeit am härtesten war und ich Helfer gebraucht hätte. Der „Seelsorger“ ließ mir den entscheidenden Aufsatz „Sozialisten seelsorge“ ein Jahr lang liegen und veröffentlichte ihn erst im November 1930 mit einer distanzierenden Ein-begleitung. Am 14. November 1930 versuchte ich in einem Vortrag in der Leo-Gesellschaft über „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft und das katholische Gewissen“ die Grundlagen meines Vorhabens vor geistig führenden Katholiken bewußt zu machen. Der Vortragssaal war überfüllt (was in der Leo-Gesellschaft etwas zu bedeuten hatte), das Interesse war groß, auch der Widerhall, die Berichte in der Presse einseitig und zum Teil irreführend.

Um diese Zeit luden bereits rote Plakate der religiösen Sozialisten am Alser-grund und allen diesem benachbarten Bezirken zu drei Adventvorträgen ein. Der rote Bezirksvorsteher hatte mir wieder den großen Saal im Bezirksamt zur Verfügung gestellt. Als ich am 26. November nach sieben Uhr in die Währinger Straße kam, stockte zwischen dem Bezirksamt und dem Chemischen Institut die Straßenbahn. Viele . Hunderte verlangten noch Einlaß am Portal, aber der Saal, das ganze Stiegenhaus und zum Teil der Hof waren gepreßt voller Menschen. Fast mußte ich über die Köpfe der

Leute gezogen werden. Die Polizei verlangte die Sperre. Nach längerem Verhandeln kam es zu einer Lösung; Ich spreche sofort. Inzwischen warten die andern im Hof. Nach einer Stunde wird der Saal geräumt und die zweite Partie besetzt den Saal. Ich sprach über „Die Weltanschauungskrise der Gegenwart“.

Beim zweiten Vortrag, am 3. Dezember, über „Das Weltbild des Gläubigen“ war dieselbe Erscheinung; 500 bis 600 Menschen harrten im Hofe bei einigen Kältegraden aus, bis sie zur Wiederholung nach einer Stunde eingelassen wurden. Ebenso am 10. Dezember, einem besonders kalten Abend. Ich sprach über „Die Botschaft Christi an diese Zeit“. An jedem dieser Abende waren etwa tausend Arbeiter da. Die meisten wären nicht in eine Kirche zu bringen gewesen.

Und das Ergebnis? — Es gibt eine Statistik der Abgefallenen, aber es kann keine Statistik der Nichtabgefallenen geben. Ich hoffe, daß die Arbeit wenigstens den Erfolg hatte, daß es sich Tausende überlegten, den letzten Schritt zu tun, der sie von der Kirche trennte. Nach dem Eindruck zahlloser Aussprachen darf ich das wohl sohließen. Freunde wollten wissen, daß seit dem Augenblick, als die sozialistische Presse meine Vorträge und Artikel kommentierte, der Abfall wesentlich nachließ. Es blieb für viele beim Advent. Aber auch der Advent ist etwas Großes, und ehe das Licht der Heiligen Nacht die Seele trifft, d i e große Hoffnung. Sie wird sich an allen erfüllt haben, die guten Willens waren.

Die Kirche in Österreich hat seit 1945 jene Stellung bezogen, für die zu werben nach dem ersten Weltkrieg ein aussichtsloses Unternehmen schien.

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