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Die Christlichen Demokraten Italiens

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Als im Juni 1907 die ersten aus dem allgemeinen gleichen Wahlrecht hervorgegangenen Abgeordneten in das österreichische Abgeordnetenhaus einzogen, fiel unter ihnen durch seine Erscheinung ein Vertreter des italienischen Südtirol auf. Er war nach seinem Alter der Benjamin des Hauses. Man hätte ihn eher für einen Dichter oder Maler als für einen Politiker halten können. So sehen, Idealisten aus. Blond, blauäugig, eine feingeschwungene Adlernase unter der hohen Stern, erinnerte er in etwa an Schiller. Der junge Parlamentarier war Dr. A leide D e g a s p e r i, in Levico daheim, seinem Beruf nach Chefredakteur des Trientiner Tagblattes „Trentino“, dessen Gründer dem geistvollen Fürstbischof Doktor Endrici nahestanden. Heute steht dieser ehemalige österreichische Abgeordnete im Mittelpunkt der großen Entscheidungen, vor die das neue Italien gestellt ist durch die Wahl, ob es dem Kurs folgen will, den ihm bei der ihm anvertrauten Regierungsbildung A'cide Degasperi als Führer der Christlichen Demokraten vorzeichnet. Es ist ein gerader Weg, der den einstigen Wiener parlamentarischen Benjamin zu der heutigen großen Berufung geführt hat. Damals waren in Ita': Mtisch-Südtirol fast überall an Stelle der früheren italienischen Konservativen der Dr.-Conci-Gruppe die neuen Männer der jungen christlichsozialen Bewegung getreten. Unter ihrer Führung strömte mit unbändiger Kraft ein sozial-reformerischer Wille vor, dem binnen weniger Jahre im italienischen Anteil Tirols ein blühendes Genossenschaftswesen, vor allem für die Elektrizitätswirtschaft, entsprang. Auch der loyalste südtirolisebe Italiener hatte es damals politisch nicht leicht: Ansprüche, die auch von der Mehrheit der deutschen Abgeordneten als billig anerkannt wurden, waren gegen den alldeutschen Gegentrieb nicht durchzusetzen. Die Mißtöne der damaligen parlamentarischen Klaviatur vermochten die Harmonie der Beziehungen, die Degasperi und seine nächsten Gesinnungsfreunde mit Dr. Lueger und seiner christlichsozialen Partei verband, nicht zu stören. Das Gleichmaß vieler Ideen, für Dr. Degasperi ein tiefes Erlebnis aus seiner Studienzeit, wirkten in dieser Freundschaft mit. Er hatte in Wien studiert — Germanistik und Geschichte — war hier Gründer eines katholischen Hoch-schülervereines, der „Unione Cattolica Ita-liana“ gewesen, die gute Fühlung mit den deutschen akademischen Körperschaften gleicher weltanschaulicher Sicht hielt. Er hatte in diesen Jahren die großen Kämpfe um Wien, die Erhebung der christlichen Bevölkerung, ihren Sieg und die Errungenschaften christlicher sozialreformerischer Praxis in der Kommunalpolitik einer Großstadt miterlebt. Nun ging er als Abgeordneter in die harte Schule des öster-reidv'schen Parlamentarismus, die schwierig wie keine andere in Europa, aber tingemein lehrreich war. Als ihn der Weltkrieg Österreich entriß, ließ Degasperi, der sich in gleicherweise als Rhetoriker auf der Tribüne, wie als sachlicher Arbeiter in den Ausschüssen bewährt hatte, viele zurück, die ihn ungern vermißten. Es konnte seine österreichischen Freunde nicht überraschen, daß ihm sofort eine Führerstellung in den Reihen der „Popolari“ zufiel, die 1919 mit 99 Deputierten in das erste italienische Parlament der Nachkriegszeit einzogen und 1921 sogar auf 107 Mandate sich verstärken konnten. Den Vertreter des Trentino erwarteten schwere Schicksale. Als Nachfolger des nach England exilierten Gründers der Partei zum Generalsekretär der Partei erwählt und während der ersten stürmischen Jahre der faschistischen Herrschaft in Gefahr, ebenso ein Opfer der Verfolgung zu werden wie viele seiner Gesinnungsfreunde, war er zur Flucht gezwungen. Man entdeckte ihn in seiner Verkleidung. Als er nach mehrjähriger Kerkerhaft nach Rom zurückkehrte, sdiien nichts mehr von seiner Arbeit und seinen Hoffnungen, verschluckt vom Faschismus, übriggeblieben zu sein. Dt alte Journalist und Kämpfer fand eine stille Stätte des Wirkens im Redaktionsstab der „Illustrazione Vaticana“ und als Hilfsbibliothekar der vatikanischen Bibliothek.*

Nun steht Dr Alcidi Degasperi an der Spitze der großen siegreichen Mittelpartei Italiens, der die Aufgabe zugefallen ist, zwischen den Sozialisten der Linken und der ins Leben zurückgekehrten alten Liberalen Partei einen Plan für gemeinsame Arbeit herzustellen, der, unbeirrt durch Überschwenglichkeiten, den hochgesteckten sozialreformerischen Zielen der Christlichen Demokraten vereinbar ist.

Ein Vielgeprüfter und Vielbewährter, berufen durch das Vertrauen von Millionen seiner Volksgenossen, soll der Mann aus dem Trentino jetzt die schicksalschwangere, von heftigem Parteikampf verwirrte Lage des italienischen Staates meistern. Es ist eine Szene voll dramatischer Spannungen, f-

In der englischen Wochenschrift „Liste-ner“ veröffentlicht Barbara Barclay Carter eine lichtvolle Studie über die Partei der Christlichen Demokraten Italiens. Sie ist der direkte Nachkomme nicht nur der „Popolari“ der vorfaschistischen Zeit, sondern auch einer Gruppe von jungen christlichen Demokraten, die 1900 von einem Kreuzzuggeist ergriffen durch die Enzyklika Rerum Novarum, die konservativen Kreise der Katholiken durch ein Manifest in Erstaunen versetzt hatten, das allgemeines Wahlrecht für Männer und Frauen, eine m progressive Einkommenbesteuerung, Vertretung nach dem Proporzsystem, Agrarreform, gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften und Freiheit für das katholische Schulwesen verlangte. Die Unterstützung einer solchen Partei lief gegen die Politik Leo XIII., der mit seiner Bulle „Non expedit“, italienischen Katholiken verboten hatte, am politischen Leben teilzunehmen, als Protest gegen die Wegnahme des Patrimonium Petri und die nunmehrige Unfreiheit des Papstes in Rom. In Befolg dieser Richtlinien wählte die „Volkspartei“ — die 1919 gegründet wurde, wenn schon in ihrem Kern eine Entwicklung der christlich-demokratischen Partei von 1900, den einfachen Namen „Partito populäre“. Vor ihrer Gründung sprach Don Sturzo, einer der Verfasser des Manifests von ,1900, bei Kardinal Gaspari, Staatssekretär Benedikts XV., vor und empfahl nun, da die Zeit gekommen sei, das „Non expedit“ aufzuheben. Nach den Grundsätzen katholischer Sozialpolitik eingestellt, sollte die Partei den Katholiken eine Möglichkeit geben, ihren vollen Anteil am politischen Leben zu nehmen, nicht konfessionell betont und ohne die Kirdie zu belasten, nach ihrer eigenen Verantwortung zu handeln.

Das Parteiprogramm legte besonderen Nachdruck auf die Notwendigkeit, den zentralistischen Staat des Liberalismus in einen organischen Staat zu verwandeln, der, von Recht und Würde der menschlichen Persönlichkeit ausgehend, seine Widerspiegelung finden würde in der Familie, der Verwaltung und in den Berufsvereinigungen. Es forderte religiöse Freiheit für den einzelnen und für die Kirche in der Ausbreitung ihrer geistigen Mission über die Welt, Freiheit der Schule unter Abschaffung des Staatsmonopols; Freiheit der Organisierung der Stände, ohne Privilegierung einer Partei. Das Fehlen irgendeines Hinweises auf die römische Frage ist bezeichnend. Beim ersten Nationalkongreß der Partei wurde der Beschluß der Führer, daß eine solche weltumspannende katholische Frage nicht mit einem Parteiprogramm identifiziert werden solle, mit Mehrheit angenommen. Gleichzeitig stand aber hinter dem Volksparteiprogramm gleich wie hinter dem der christlich-demokratischen Partei von heute die Lehre der wissenschaftlichen Schule der katholischen Sozialpolitik, die in über 70 Jahre langem internationalem Austausch herausgearbeitet worden war, von der Zeit Kettelers, Ozanams und P. Venturas und der großen Kongresse von Mecheln und Lüttich bis zu Manning, bevor die Enzyklika Rerum novarum den sozialen Forderungen die feierliche Bestätigung gab.

Der Erfolg der Volkspartei war sofort bedeutend. Nach 1926, als durch ein faschistisches Gesetz alle Parteien untersagt und jede Propaganda für ihre Ideen als Verbrechen erklärt wurden, waren die Mitglieder der Volkspartei imstande, miteinander in Verbindung zu bleiben, da sie nahezu alle Mitglieder der katholischen Aktion waren (ein Grund für Mussolini und Vorwand für seinen Angriff gegen die katholische Aktion im Jahre 1931). Don Sturzo wurde nach zwei. Anschlägen auf sein Leben von seinen Freunden veranlaßt, ins Exil zu gehen, wohin ihm Donati, der Herausgeber der Parteizeitung „II Popolo“ und der junge hervorragende Jurist F. L. Ferrari folgten. Keiner von diesen sah Italien lebend wieder (zwei andere junge vielversprechende Führer gingen durch frühen Tod in Italien verloren, Necchi und Prassati). Alcide Degasperi war 1924 Parteiführer geworden. Als er verhaftet wurde, durften fortan seine Bücher über die Entstehung der sozialen katholischen Bewegung vor „Rerum novarum“ nur unter einem Pseudonym herausgegeben werden. Unter den jüngeren Anhängern der Bewegung wurde ein unterirdischer Widerstand aufrechterhalten, wie zum Beispiel bei den „Neu-Welfen“ in Mailand und durch Renato Vuillermin, der eine Bewegung ins Leben zu rufen suchte, die den König dazu bringen sollte, die alte, von den Faschisten gestürzte Verfassung wieder herzustellen; er wurde als Geisel durdi die Deutschen im August 1943 erschossen. Die Volkspartei war vor allem eine Partei der jungen Männer gewesen. Als sie daher 1942/43 heimlich als christlich-demokratische Partei wieder zum Leben erweckt wurde — die geschichtlichen Gründe, diesen Namen nicht anzunehmen, waren inzwischen gegenstandslos geworden —, fand sie zahlreiche ehemalige Führer auf ihren Posten. Die Wahlen, die am ersten Parteikongreß im September 1944 abgehalten wurden, bewiesen, daß diese Führer das Vertrauen der jungen Generation gewonnen hatten. Die christlidien Demokraten von heute sind sichtlich reifer geworden, durch die Jahre, die sie in den Katakomben verbracht haben. Der Kernpunkt ihres Programms bleibt unverändert. Dr. Degasperi gab der Verfasserin der Studie des „Listener“ eine interessante Erläuterung während seines Aufenthaltes in London. Die Agrarreform erhält in den Reformbestrebungen seiner Partei den ersten Platz. Das letzte Ziel ist die Ersetzung von Latifundien durch unabhängige Kleinbesitze. Während in verschiedenen Landstrichen die kommunale Er-smgwngttype für eine gemeinsame Führung notwendig sein werde, soll die Schichte des gesunden, bodenverwurzelten Bauernstandes gestärkt werden als Garant der persönlichen Freiheit durch Kooperativen, Landbanken und ähnlidie Maßnahmen. Im Hinblick auf die Industrie verlangt die Partei die Sozialisierung von großen Monopolindustrien, aber Freiheit für die Entwicklung der kleineren und mittleren Industrien, die in Italien 75 Prozent der Betriebe darstellen.

In Sadien der Staatsform hat sich die Mehrheit der Partei für die Republik ausgesprochen, eine Einstellung, die nicht überraschen muß, wenn man bedenkt, daß das Haus Savoyen im Jahre 1866 über große Gebiete mit alter republikanischer Tradition die Herrsdiaft annahm. Man muß sich erinnern, daß die Katholiken des vorausgegangenen Risorgimentos eine 'italienische Federation unter der Präsidentschaft des, Papstes planten. Die wirklidie Hochburg der Christlidien Demokraten liegt in der Lombardei. Ihr Anteil an der Partisanenbewegung war beachtlich, obwohl er publizistisch weniger ausgewertet wurde als der von anderen Parteien, da die Christlichen Demokraten den Truppenteilen, die unter einem nationalen Banner und nidit unter politischen Fahnen fochten, den Vorzug gaben.

In außenpolitischer Beziehung wird das Organ der christlichen demokratischen Partei „II Popolo“, redigiert von Dr. Gonella, dem früheren Auslandsredakteur des „Osserva-tore Romano“, als tonangebend betrachtet. Es ist bezeichnend, daß Signor Nenni, ein Überlebender einer Generation, in der Sozialismus und Antiklerismus gleichgesetzt werden konnten, der sich beklagte, als Dr. Degasperi zum erstenmal zum _ Außenminister bestellt wurde, sechs Monate später erklärte, dieses Ministerium dürfe in keine anderen Hände übergehen.

Der Kampf um die Vorherrschaft zwischen den Christlichen Demokraten und der Allianz der Sozialisten und Kommunisten wird hart sein. Eines ist aber sicher — urteilt Br. Barclay Carter — daß die Christlichen Demokraten im Augenblick und auch für die Zukunft eine der Hauptkräfte des italienischen politischen Lebens bleiben werden.

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