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Die Katholiken huldigen einem totalen Pluralismus

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Obwohl der offizielle Wahlkampf vor dem Gang zu den Urnen im März 1978 noch nicht mit voller Kraft eingesetzt hat, sind doch die großen Linien dieser innenpolitischen Entscheidung bereits sichtbar geworden. Nachdem die beiden Koalitionen, also die bisherige Majorität und die linke Opposition, ve Häufig ihre Reservoirs von Anhängern und Sympathisanten ausgeschöpft haben, geht es für die Parteistrategen darum, jene drei bis vier Prozent von Bürgern anzusprechen, von denen letzlich die Entscheidung über Sieg oder Niederlage abhängt. Darum werden einzelne Berufsstände umworben, und sogar Mitterand hält vor Frankreichs Unternehmern Reden.

Wie schon bei den letzten Legislativwahlen, werden die Katholiken so umworben, als wären sie eine geschlossene Einheit, die vom Großindustriellen bis zum Kleinbauern in der Normandie dieselben wirtschaftlichen Ziele anstreben. Diese Sirenentöne kommen sogar von der Kommunistischen Partei, die daran erinnert, daß bereits ihr erster Generalsekretär, Maurice Thorėz, in der Zwischenkriegszeit den Katholiken die „brüderliche Hand“ gereicht hat. Die Einheit der Katholiken in politischer Hinsicht zerbrach während der Besatzungszeit, in den Jahren 1940 bis 1944. Während die Hierarchie Marschall Pėtain die Treue hielt und politischer Katholizismus sich im Vasallenregime von Vichy breitmachte, wurden die innenpolitischen Karten nach der Befreiung neu verteilt und auch die Katholiken bekannten sich zu einem politischen Pluralismus, wie er in den Verbänden der Katholischen Aktion zutage trat. Kein ernsthafter Historiker kann bestreiten, daß es die Katholiken waren, die in der Widerstandsbewegung die Besatzungsmacht sofort angriffen, während sich die Kommunisten bis zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion passiv verhielten und ihr nationales Herz erst entdeckten, als die östlichen Demarkationslinien von deutschen Panzerspitzen durchbrochen wurden. Aus der Resistance entstand die einzige große christliche Partei, die Frankreich im Lauf der letzten hundert Jahre hervorbrachte. Natürlich gab es auch vor dem Zweiten Weltkrieg Katholiken, die sich in kleinen politischen Parteien betätigten. So gab es eine Christlich-Demokratische Partei mit 13 Abgeordneten im Parlament, die trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche einige wichtige Sozialgesetze ausarbeiteten und der Kammer vorlegten.

Diese Volksrepublikaner integrierten sich nach Kriegsende in das MRP, das der IV. Republik als Staatspartei schlechthin diente. Die Frage wird jedoch immer wieder gestellt, aus welchen Gründen das MRP im Jahre 1965

still und leise von der politischen Bildfläche abgetreten ist. Selbstverständlich war es in erster Linie das Auftauchen General de Gaulles, das dem MRP zahlreiche wertvolle Elemente entführte. Der zweite Grund wird in dem Umstand zu suchen sein, daß die Führungsspitze des MRP eine umfassende Sozialreform plante, während die Wähler, aus den konservativen Lagern stammend, nicht gesonnen waren, eine sozialdemokratische Politik unter katholischen Vorzeichen zu unterstützen.

Seit dem Verschwinden des MRP verfügte Frankreich bis vor kurzem über keine nominell christliche Partei. Der letzte Präsident der Volksrepublikaner, Jean Lecanuet, ersetzte das MRP durch eine Organisation, in der sich neben militanten Christen auch zahlreiche Liberale zur politischen Mitte bekannten. Diese Zentrumspar- tęi vermochte bisher nicht in Bevölkerungsschichten einzudringen, die infolge ihres ökonomischen Standorts zu einer Mittelpartei Vertrauen haben könnten. Andere ehemalige Christdemokraten zogen es vor, in der gaullistischen Sammelbewegung ihr Heil zu suchen und sie beeinflußten die Gaullisten, nicht zuletzt auch in deren Einstellung zu den katholischen Schulen.

Wie so viele andere Parteien, Bewegungen und politische Klubs, wurde auch der katholische Teil der Nation von den Mai/Juni-Ereignissen des Jahres 1968 auf das Tiefste getroffen. Während dieser schweren Staats- und Gesellschaftskrise entdeckten vor allem die katholischen Studentenverbände, wie auch die Jungbauern, daß die Denkmöglichkeit besteht, historische Ereignisse auch nach marxistischen Grundsätzen zu analysieren. So kam es, daß die Parteien der Linken Union über immer mehr katholische Anhänger verfügten. Das galt in erster Linie für die extrem linke PSU. Seit Mitterrand die Leitung der fast im Sterben liegenden Sozialistischen Partei übernommen hatte, kamen zahlreiche jugendliche Christen zu der Ansicht, daß diese Neosozialisten den bisherigen Antiklerikalismus über Bord geworfen hätten und sich einem neuen Humanismus verschreiben wollten. Ernsthafte Politologen beziffern die Zahl der Christen, die in der Sozialistischen Partei arbeiten, mit 50 Prozent der gesamten Mitgliederzahl. Dabei zeigt sich, daß alte Dämonen nicht schlafen. So wurde in diesem Dezember die leidige Schulfrage aus einer verstaubten Ablage hervorgezogen und von Mitterrand persönlich aktualisiert. Da dieses Problem schon von General de Gaulle gelöst wurde, ist es beunruhigend, daß eine Frage, die bis 1958 zu schweren innenpolitischen Konflikten Anlaß gab, jetzt neuerlich zur Diskussion gestellt wird. Nachdem einzelne sozialistische Gemeinden ohne Vorankündigung Zahlungen an die freien Schulen eingestellt hatten, mußte sich jeder Katholik vor seinem Gewissen die Frage stellen, wie weit eine der wichtigsten Einrichtungen der Kirche zur Gänze in die Verwaltung des Staates eingegliedert werden dürfe.

Aus Meinungsumfragen geht hervor, daß die Gaullisten und die Partei Giscard d'Estaings weiterhin auf die Unterstützung vieler katholischer Kreise rechnen können. Zwei Versuche sind noch abschließend zu erwähnen, bei denen es einer Gruppe darum geht, als nominell christliche Partei zum Zuge zu kommen. So existiert seit geraumer Zeit innerhalb Frankreichs Kirche eine Gruppe, die sich anfangs „Die Schweigenden in der Kirche“ nannte. Der demagogisch versierte Journalist Pierre Debray hat dieser Gruppe kürzlich politische Ziele gesetzt. Sie nennt sich von nun an „Christen für eine neue Welt“ und beabsichtigt 200 Kandidaten in verschiedenen Wahlkreisen zu stellen. Die Gruppe hat jedoch keinerlei Chance und wird ihre Wähler veranlassen müssen, im zweiten Wahlgang für- die gegenwärtige Regierungsmehrheit zu stimmen. Unter dem Titel „Christliche Demokratie“ ist vor nicht allzulanger Zeit der bisherige gaullistische Abgeordnete Pierre de Bėnouville aufgetaucht, der gemeinsam mit dem früheren MRP-Politiker Alfred Coste-Floret eine Partei gründete, die ebenfalls nur geringe Erfolgschancen hat. Diese „Christliche Demokratie“, die bisher offiziell keinen Kontakt mit der Christlich-Demokratischen Internationale aufgenommen hat, stellt 60 Kandidaten, dürfte aber ebenso einzustufen sein wie die Gruppe Debrays. Wenn man also eine Bilanz des katholischen Lagers in politischer Hinsicht zieht, so gelangt man zur Erkenntnis, daß auch hier weiterhin der politische Pluralismus triumphiert.

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