6827520-1974_20_01.jpg
Digital In Arbeit

Zurück zur alten Geographie

19451960198020002020

Wie immer auch die Bilanz am 19. Mai um 20 Uhr aussehen wird, eirres steht fest: Das Regime der Fünften Republik, von Charles de Gaulle konzipiert, von Georges Pompidou zur Reifung gebracht, gehört der Geschichte an. Dieses System hatte, trotz erkennbarer Schwächen, der Nation eine sichere Ordnung der staatlichen Einrichtungen gegeben, die im glücklichen Gegensatz zu den Methoden der beiden vorangegangenen Republiken stand. In diesem Zeitraum fanden die umfassendsten Mutierungen statt, die Frankreich seit 1789 kennengelernt hat.

19451960198020002020

Wie immer auch die Bilanz am 19. Mai um 20 Uhr aussehen wird, eirres steht fest: Das Regime der Fünften Republik, von Charles de Gaulle konzipiert, von Georges Pompidou zur Reifung gebracht, gehört der Geschichte an. Dieses System hatte, trotz erkennbarer Schwächen, der Nation eine sichere Ordnung der staatlichen Einrichtungen gegeben, die im glücklichen Gegensatz zu den Methoden der beiden vorangegangenen Republiken stand. In diesem Zeitraum fanden die umfassendsten Mutierungen statt, die Frankreich seit 1789 kennengelernt hat.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Historiker werden das Werk General de Gaulles und seines Nachfolgers entsprechend zu würdigen wissen, aber heute richtet sich die Aufmerksamkeit im Staat und in Europa auf die allernächste Zukunft. Wird die große Unsicherheit, die Westeuropa befallen hat, sich auch in Frankreich manifestieren und einen Unruheherd schaffen, der, von Paris ausgehend, mit großen Wellenschlägen alles das bedroht, was seit 1950 an Positivem geschaffen wurde?

Es dürfte ziemlich sicher sein, daß derjenige Kandidat, der als Sieger aus dieser scharfen Wahlkampagne hervorgeht, nur eine hauchdünne Mehrheit erzielen kann. Wird somit die Nation in zwei Blöcke zerfallen, wobei der eine, an die Macht gekommen, dem andern jedes politische Lebensrecht abspricht? Seit. dem 5. Mai ist das Feld für eine Fülle soziologischer und politologischer Untersuchungen offen, die mit wissenschaftlicher Akribie cTie dominierenden Strömungen der Innenpolitik analysieren. Ob es der rechtsstehende Raymond Aron oder der linke Professor Duverger sind, sie kommen mit vielen anderen zu den selben Schlußfolgerungen. Die seit 1958 tragende politische Kraft ist von der Bühne getreten uhd kann nicht mehr als wesentlicher Stützfaktor einer Mehrheit angesehen werden. Was den Experten bekannt war, wird jetzt auch der breiten Öffentlichkeit ins Bewußtsein gebracht. Der Gaullismus war ein Zwischenfall der Geschichte, formuliert und getragen von einer einsamen politischen Persönlichkeit und ließ sich nicht in das Bild der politischen Gegenwart einreihen. Einer ihrer maßgebenden Sprecher, der Direktor der Zeitung „La Nation“', sagte einmal vor österreichischen Landtagsabgeordneten, der Gaullismus wäre ein entfernter Cousin der Christlichen Demokratie. Dieser Feststellung Habib-Deloncles kann man nur beipflichten. Aber es war eben nur ein sehr entfernter Verwandter, der es nicht für notwendig gefunden hatte, dem reichen Gedankengut der französischen christlichen Demokratie neue Akzente zu setzen. Diese Männer — Frauen spielten im Gaullismus fast keine Rolle — waren durch das Erlebnis des Widerstandes und des Abenteuers in der ersten Sammelbewegung BPF zusammengeschweißt und erkannten im General-Befreier die Quelle des eigenen politischen Handelns. Aus vielen, oft divergierenden sozialen Schichten kommend, konnten diese Leute im Gaullismus keine bleibende Heimstätte finden.

Durch die zwiespältige Natur der Partei war es nicht möglich, den politischen Apparat in der Wahlkampagne im April 1974 aktiv einzusetzen. Die UDR zeigte sich gelähmt und verspielte das kostbarste Gut, das ihr der General als Erbe hinterlassen hatte, die Zustimmung beachtlicher Volkskreise, die seinerzeit von der Linken zum Gaullismus hinüibergewandert waren. Mag auch der oberflächliche Beobachter in den Liebeserklärungen des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei gegenüber den Gaullisten ein arglistiges Täuschungsmanöver grober wahltaktischer Art sehen, so entbehrt diese Geste nicht einer gewissen Logik. Wenn zahlreiche Altgaullisten, wie der markante langjährige Landwirtschaftsminister Pi-sani, für Mitterand plädieren, so bestätigen sie nur eine allgemein anerkannte Feststellung: der Urgaul-lismus steht eher links als rechts.

Frankreich kehrt also zum traditionellen Bild zurück, wie es die politische Geographie Westeuropas seit Jahrzehnten akzeptiert, eine liberale und konservative Mitte, die den englischen Konservativen und der CDU durchaus entspricht. Sie wird von der linken Union als rechts eingestuft, aber wir haben uns immer wieder geweigert, diese polit-wissenschaftliche Fixierung anzuerkennen. In dieser neuen Majorität, deren Formierung Giscard d'Estaing in der Wahlnacht vom 5. zum 6. Mai verkündete, finden sich ehemalige Christdemokraten — man wird weder Jean Lecanuet noch Abelin diese Klassifizierung absprechen können — zusammen mit den Gemäßigten und Liberalen des kleineren und mittleren Bürgertums.

In der Härte dieses Wahlkampfes versucht die linke Union diese sich bewußt gewordene liberale Mitte zu diskreditieren. Bereits tauchen ernste Hinweise auf, daß die Wählerschaft d'Estaings vom 5. Mai „faschistisch“ sei. Mit Bestürzung mußte man selbst in der maßgebenden Zeitschrift der nichtkommunistischen Linken „Le Nouvel Observateur“ vom 7. Mai lesen, daß die Männer der terroristischen Geheimärmee OAS während des Algerienkrieges und die ruhmreiche Partei Robert Schumans, der MRP, in einem Atemzug genannt und des Faschismus bezichtigt werden. Ohne Zweifel eröffnen sich hier, falls dieser Gedanke weiter gesponnen wird, Gefahren für den Pluralismus der französischen Demokratie. Der Unionskamdidat der Linken hat sich zu oft in der feierlichsten Form zur politischen Meinungsfreiheit bekannt, um diese, seine heiligste Überzeugung bei einem eventuellen Amtsantritt als Präsident der Republik zu verneinen. Spricht man jedoch in diesen Tagen mit wahlberechtigten Franzosen, so fühlt man immer wieder in den verschiedensten Varianten das gleiche Unbehagen. Eine neue Sozialordnung wird sicherlich erwartet, erwünscht und sogar heftig gefordert. Aber mit Ausnahme der kommunistischen Phalanx von zirka 20 Prozent der Wähler wünscht kein Anhänger Mitterands die Strukturen des Staates so zu ändern, daß die V. Republik in einer Volksdemokratie ihr Ende findet. Oft muß man gequält lächeln, wenn man die Behauptung hört, der französische Kommunismus sei grundsätzlich etwas anderes als der sowjetische, chinesische oder jener der sozialisti-chen Staaten Osteuropas.

Bis zum 19. Mai steht diese essentielle Frage der Innenpolitik im Raum und kann noch von keiner Seite befriedigend beantwortet werden. Giscard d'Estaing und sein Generalstab streichen mit Nachdruck die kommunistischen Prinzipien einer Gesellschaftsordnung heraus, um sie als Schreckgespenst den Wählern vor Augen zu halten. Manche Argumente wurden bereits der Terminologie des Kalten Krieges entlehnt. So sprechen die Freunde des Unionskandidaten von einem stereotypen und antiquierten Anti-kommunismus, der nicht mehr der Entwicklung der letzten 25 Jahre entspräche. Ein Faktum kann nicht verschwiegen werden: nach dem Sturz der UDR ist die KPF die bestorganisierteste und dynamischste Partei des Landes, die sich von der losen Wählerorganisation der Sozialisten deutlich absetzt.'

Gerade in diesen Tagen ist die beste Kennerin der KPF, Annie Kriegel, mit einem neuen Buch an die Öffentlichkeit getreten: „Com-munismes au miroir francais“. Was diese anerkannte Wissenschaftlerin zu sagen hat, mußte so manchen Idealisten der Linken zum Nachdenken anregen. Die Historikerin der KPF bestätigt, daß diese Partei als Grundlage ihrer Aktivität die Solidarität zur Sowjetunion betrachte; in der Logik dieser Partei sei das Hauptziel die absolute Machtübernahme; das „Gemeinsame Programm“ sei nur ein gutgearbeiteter Vorhang, hinter dem Mitterand und Frankreich an das sozialistische Lager gebunden werden sollen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung