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Inkarniertes Staunen

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Die Winde ziehen kühler über die Sandstrände der Vendée, die seit Beginn des Sommers Zehntausende Menschen beherbergt haben. Es liegt eine leise Melancholie über Sand und Meer, und mag die Sonne noch so strahlen, jeder weiß, daß die Urlaubstage zu Ende sind. Die Schrecken des Alltags nähern sich. Die überfüllten Metrozüge in Paris, die vergiftete Luft in den Großstädten, die sozialen Spannungen. Nach dem 20. August begannen die französischen Zeitungen mit einem beliebten Spiel: Werden die Gewerkschaften zu Streiks auffordem, und wie sieht das soziale Rendezvous im September aus? Die Bilanz des Sommers wird gezogen, und die Regierung, die ebenfalls die Ferien genossen hat, soll Rede und Antwort stehen.

Wie lange ein ausländischer Beobachter auch in Frankreich lebt, vor einem Phänomen muß er kapitulieren: Eine Industrienation macht da wirklich totale Ferien und Millionen Menschen, diesmal waren es über zweiundzwanzig, drängen sich ln dem relativ kleinen Raum der Bretagne und der Côte d’Azur zusammen. Alle Versuche, diese Wanderung zu bremsen, die Ferientermine aufzulockem und sie über eine längere Zeit hin zu erstrecken, sind stets gescheitert. Jedes Jahr wird im Frühling geheimnisvoll verkündet: Jetzt glückt es uns, und die braven Zeitgenossen gehen im Mai, Juni, September oder Oktober ihren Urlaubshobbies nach. Weit gefehlt. In diesem Jahr gewann man den Eindruck, als ob sich noch mehr Arbeiter und Angestellte den August freigemacht hätten. Nachdem die Inflation und gewisse Devisenschwierigkeiten wie die politischen Verhältnisse eine Reise ins Ausland problematisch gemacht hatten, blieb der Kanaumbürger Jn seinen eigenen Grenzen. Selbst das vielgerühmte Sonnenland Spanien vèrzeichnete einen Rückgang von 40 Prozent französischer Touristen. So kam es, daß in Frankreich der kleinste Marktflecken, der bescheidenste Hafen am Atlantik oder am Mittelmeer überfüllt waren. Wo es noch 1973 Oasen der Ruhe und der Reinlichkeit gab, dröhnte diesmal die Blechlawine der Autos, wurde das Wasser verschmutzt, wurden Zeltstädte aufgebaut, daß man glauben durfte.

mittelalterliche Invasionsarmeen seien aufgetaucht.

Der Besucher gewinnt den Eindruck, daß die gewaltige politische Auseinandersetzung im April und im Mai die Energien der Nation voll ausgeschöpft hat. Wie dieser Wahlkampf in die Tiefen des Volkes hin- einreich’te, zeigen die Spuren, die weit nachdrücklioher als in der Hauptstadt heute noch das Gesicht der Landschaft und der Menschen prägen. Die WahUnschriften sind zwar etwas verblaßt, die Plakate mit den Köpfen der wichtigsten Kandidaten verwaschen, aber noch immer lächeln Giscard d’Estaing tmd Mitterrand von den Wänden. In den Gesprächen mit den Ortseinwohnem werden die einzelnen Episoden dieser politischen Söhlaoht höchst lebendig. Die Vendée ist weiterhin eine katholisch-konservative Region. Die Abneigung gegen die Prinzipien der großen Revoluton von 1789 ist dort keineswegs vollkommen verwischt. Wie oft sieht man Inschriften, die nach der Monarchie rufen und die Einrichtimg des Volks- königstums verlangen. Natürlich weiß jeder, daß es sich nicht lun eine Realität von 1974 handelt, aber es ist der Ruf nach echter Legitimität und der Wunsch, wahre Tradition zu schützen. Von einer strukturierten monarchistischen Bewegung kann seit längerer Zeit keine Rede mehr sein. Aber wenn man durch elf Monate ln der Atmosphäre links- intellefctueller Geistigkeit gelebt hat, die in Paris den Ton angibt und die Probleme der Hauptstadt zu nationalen Fragen erhöht, sieht man hier das andere Gesicht des Landes und weiß, daß Paris nicht unbedingt Frankreich repräsentiert. Wenn man manchmal in der Hauptstadt poli-

tische und geistige Erscheinungen des Zusammen/bruches deutet, wird man nach einem kurzen Aufenthalt in einem Stammland der Nation ganz anders belehrt. Trotz des Fernsehens — die kleinste Fischerhütte ist bereits mit diesem Kulturgalgen verziert — sind die gesellschaftlichen Strukturen im wesentlichen bewahrt. Die Bürger wählen, wie es sich gehört, gaullistisch oder sozialistisch, aber die vielen Facetten dieser Bewegungen werden hier vereinfacht’ und auf menschlich vernünftige Thesen gebracht.

Ob Touristen oder einheimische Bevölkerung, sie alle stellen die eine Frage, die man natürlich ln unzähligen Varianten vernimmt: Ist die Zeit der großen Reformen, der einschneidenden Veränderungan angebrochen und kommt die „Revolution im Gesetz“, ohne den überlieferten Kem an individueller Freiheit und ausgeglichenem Privateigentum zu bedrohen? Soweit in diesen Städten und Dörfern die Leute für Giscard d’Estaing gestimmt haben, taten sie dies in erster Linie, um ein kollek-

tivistisches Konzept des Lebens abzuwehren. In diesen Augustwochen entdeckten sie mit Staunen, daß Reformen möglich waren und in Gang gesetzt wurden, die, weit über das gemeinsame Programm der Sozialisten und Kommunisten hinausgehend, Frankreich in das 21. Jahrhundert führen. Der lebendige und zukunftsweisende Stil des Staatschefs, die bisherigen Aktionen der Regierung haben viele Sympathisanten der linken Union zum Nachdenken gezwungen. Mögen die Generalstäbe der linken Parteien vom Wunsch der „aktiven Mehrheit“ sprechen, den „Sozialismus zu begründen“, so wird diese Behauptung nach näheren Beobachtungen in zahlreichen Provinzen kaum aufrechtzuerhalten sein.

Gewiß, die Bürger wollen mehr soziale Gerechtigkeit und das Verschwinden zahlreicher Privilegien, die jeder Einsichtige als überaltert betrachten muß. Keine Anzeichen deuten aber darauf hin, daß die Masse des Volkes jenen Aposteln um KP-Chef Marchals folgen, die von Sozialismus sprechen und die Allgewalt einer Partei meinen. Was sich in den Ergebnissen des 19. Mai 1974 widerspiegelte, entspricht durchaus dem Willen einer Mehrheit des Volkes, wobei die Unbeweglichkeit in der Innenpolitik bis zum Tode Pompidous viele verleitet hat, das gemeinsame Programm als die einzige Alternative zu deuten. Die Überraschung des Sommers ist die Entdeckung, daß mit dem Regime Giscard d’Estain.gs Lösungen für dringende gesellschaftspolitisdie Fragen gefunden wurden, ohne deshalb den Marxismus-Leninismus in Anspruch zu nehmen. Die einen lesen am Strande die klugen Leitartikel der Pariser Presse cmd wissen nicht aus und ein, andere versuchen, am Abend in oft unbeholfenen Analysen dieses Staunen zu inkamieren. Aber der Wanderer gewinnt den Eindruck, daß mit der Wahl dieses Frühlings ein entscheidender Schritt gewagt wurde. Während sich in zahlreichen Staaten des Mittelftieerraumes die Volksfront als Regierungsform anbietet, weist Frankreich auf einen Weg hin, der im besten Sinne konservativ, liberal, fortschrittlich und modern zu sein scheint.

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