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Das Gewissen Frankreichs

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Keine Partei hat in so ausschlaggebender Weise die Politik der 4. französischen Republik beeinflußt wie die Volksrepublikaner. Kommunisten und Sozialisten waren an den Regierungsgeschäften bis 1947 beziehungsweise 1949 beteiligt, die Unabhängigen sicherten sich die Führung 1951 und die Ex- Gaullisten nahmen an der Verantwortung erst im Kabinett Laniel teil. Das MRP bestimmte die französische Europapolitik und wollte die Gegensätze, welche die 3. Republik schließlich gelähmt hatte, durch eine neue Konstellation der politischen Kräfte ersetzen.

Das MRP bezeichnet sich als soziale Partei, ja als Linkspartei, und ist nun doch schon seit langem an streng konservative Parteien gebunden. Durch Wochen versuchen die Zeitungen und politischen Beobachter die Erscheinung einer Partei zu definieren, die seit der Neukonstituierung einer klassischen Rechten und einer klassischen Linken in Versailles praktisch zwischen den Fronten steht. Die einen verkünden die Spaltung und die Auflösung, selbst Katholiken gehen mit dem MRP streng ins Gericht, wie der berühmte Publizist und Nobelpreisträger M a u r i a c. Andere versuchen, dem MRP einen Platz in einer neuen Linkskoalition einzuräumen, aber alle sind sich darüber einig, daß in dieser Legislaturperiode jede Regierung von den Volksrepublikanern abhängt.

Was sind nun die Ziele und Chancen des MRP? Ist ein weiteres Abbröckeln anläßlich der nächsten Wahlen zu erwarten? 1947 erhielt das MRP 5,058.000 und 1951: 2,110.000 Stimmen. Dies könnte zu dem Schluß führen, daß von einer Eingliederung sämtlicher Katholiken in einer Partei nicht mehr die Rede sein kann. Trotzdem konnte sich die Partei einen Wählerstamm schaffen, den bishėr noch keine betont christliche Partei in Frankreich je besessen hat. Alle Nachwahlen beweisen, daß die Volksrepublikaner mit dieser Stimmenanzahl auch weiter rechnen können.

Die große Anziehungskraft des MRP in den ersten Nachkriegsjahren läßt sich durch das Zusammenwirken verschiedener günstiger Umstände erklären. Die Partei galt als das Sprachrohr des Generals de Gaulle. Durch das Fehlen sämtlicher Rechts- und Mittelparteien erwuchs das MRP über Nacht zur ersten Partei des Landes, ohne die Zeit der Reifung zu durchlaufen. Man wird nicht fehlgehen, in diesem so überraschend schnellen Aufstieg jene Bruchstellen und Spannungen zu entdecken, die bis. auf den heutigen Tag bei den Volksrepublikanern sichtbar sind. Die Wähler gaben ihrer antikommunistischen Stimmung Ausdruck, identifizierten sich jedoch in keiner Weise mit dem sehr weit gefaßten sozialen Programm und wollten dem endgültigen Ziel der Partei nicht folgen. Die Zusammenarbeit mit den Kom munisten, verständlich aus der besonderen Situation Nachkriegseuropas, verstärkte die Reserven, bis der schließliche Bruch mit de Gaulle viele antikommunistische Kräfte zum RPF abwandern ließ. Dazu kam noch, daß die Anhänger des Liberalismus, müde der ewigen wirtschaftlichen Reglementierungen, wieder hervortraten und ihren eigenen politischen Ausdruck fanden, während sich die der gelenkten Wirtschaft geneigten Personen den Sozialisten anschlossen.

Allerdings hat sich die christĮįch-demokra- tische Partei niemals unbedingt gegen die freie Wirtschaft ausgesprochen. Wir stoßen damit zu der eigentlichen Ursache vor, warum das MRP in den letzten Jahren immer wieder Rückschläge hinnehmen mußte. Alle oft ausgezeichneten Vorschläge der Partei in wirtschaftlichen und sozialen Fragen vermieden es, die letzten Grundsätze einer modernen Wirtschaftsordnung zu erörtern. Derzeit sind im MRP zwei Richtungen festzustellen. Die eine verkündet sehr offen ihre liberale Ueberzeugung, während die andere ein geordnetes und geplantes, aber nicht starr gebundenes Wirtschaftssystem vorschlägt. Ueber die Notwendigkeit von Sofortreformen sind sich beide Richtungen einig. Sie verstehen darunter: 1. Steuerreform, 2. Verbesserung des Verteilerapparates und Rückbildung des Zwischenhandels, 3. Modernisierung der Landwirtschaft und 4. Aufhebung der Subventionen an die Alkoholerzeuger und an die Rübenbauern.

Wenn man daran denkt, daß über das letzte Problem bereits einige Regierungen gestürzt

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sind, wenn man sich weiter die Summe vergegenwärtigt, welche derartige Stützungsmaßnahmen verschlingen, so wird man sich klar über die Wichtigkeit dieser Forderung. Man muß jedoch auch den Mut bewundern, mit dem stärkste Privatinteressen angegriffen werden.

Das MRP verlangt überhaupt eine gerechtere Verteilung des Sozialeinkommens. Die Beseitigung der zu großen Unterschied« im Lohngefüge und die Vollbeschäftigung sind weitere Punkte des Mindestprogramms. Die Partei kämpft seit dem Experiment Pinay gegen einen sozialen Konservatismus an, der alle Parteien der Regierungskoalitio'n auszeichnet. Pinay hatte die Investitionen auf lange Sicht geopfert, während nach Ansicht des MRP der Nation nur dadurch ein Friede und ein angemessener Lebensstandard gewährleistet werden könne. Der linke Flügel der Volksrepublikaner unter Führung von Bacon, Buron und Madame Chapulis wird nicht müde, die eigentliche Berufung der Partei in der Besserung als eine soziale Bewegung zu sehen.

Die Gegner der Volksrepublikaner dagegen verfehlen nicht, immer wieder zwischen den sentimentalen Forderungen und einem sozialen Immobilismus der Partei Parallelen zu ziehen. Darauf allerdings antwortet das MRP, daß es bisher alle Angriffe auf die Nationalisierung und eine Veränderung der Statuten der sozialen Versicherungsinstitute abgewehrt habe. Im übrigen seien die Gesetze über die Köllektivverträge, die bewegliche Lohnskala sowie die anomal niedrigen Löhne allein durch Initiative der Partei geschaffen worden.

Aber — haben diese Maßnahmen die bisherige Sozialordnung gebessert? Hat nicht doch das MRP mit Rechtswählern eine Politik, die nach links hin orientiert war, durchführen wollen, und ist damit in der Mitte der Kompromisse steckengeblieben? Mauriac glaubt, daß es unmöglich sei, auf die Dauer in der französischen Politik im Zentrum zu wirken. Nach ihm sei jede französische Partei in solcher Position verurteilt, über kurz oder lang zu verschwinden. Wir können diese Ansicht nicht teilen. An besonders exponenter Stellung mußte das MRP die sozialen Forderungen der französischen Volksmassen auffangen und an Stelle der vielleicht heimlich gewünschten, aber gefährlich werdendes Revolution eine Politik evolutionärer Refor- men beginnen. Es ist selbstverständlich, daß die Partei im Verlauf dieses Prozesses gezwungen sein wird, ein auf lange Sicht hin gültiges Programm zu entwickeln, will sie nicht im Zusammenstoß der Konservativen mit den extrem linken Gewalten zerrieben werden.

B i d a u 11 verkündete die Revolution durch das Gesetz. Aber die Gesetze des Jahres 1945 haben wenig Aehnlichkeit mit jenen, die das Jahr 1954 verlangt. Es ist anzunehmen, daß die Partei durch die Europapolitik wieder zu einer Sozialpolitik kontinentalen Stiles übergehen wird, denn die Volksrepublikaner sehen die sozialen Fragen im weiten Feld der Ost-West-Spannung und der Einheit Europas.

Wird diese Umstellung, d. h. die offene Diskussion möglich sein, ohne die Einheit der Partei zu gefährden? Wie jede Massenpartei waren die Volksrepublikaner starken politischen Krisen ausgesetzt. Wurde die Trennung ' von de Gaulle noch beinahe einstimmig durchgeführt, so kam es nach der Gründung seiner Sammelbewegung doch zu erregten Auseinandersetzungen. Die Möglichkeit einer doppelten Parteimitgliedschaft, die bereits von den Radikalen und dem PRL akzeptiert worden war, stand auf der Tagesordnung. Der Nationale Rat des MRP wollte jedoch nicht auf seine Autonomie verzichten, und eine Reihe von Abgeordneten, darunter Michelet und Terrenoire wechselten zum RPF hinüber. In den Fragen einer neuen sozialen Ordnung sowie dem Problem der Listenverbindung mit den Rechtsparteien kam es zu einer neuerlichen Krise. Der derzeit so oft genannte Abbe Pierre verließ mit drei Kollegen die Fraktion und gründete eine eigene Gruppe, die das Gedankengut der katholischen Resistance vertreten sollte. Ein größeres Echo war jedoch dieser Dissidenz nicht beschieden. Viel nachhaltiger und komplizierter waren die Krisen während und nach den Investituren P i n a y s und Mendes Frances. Die Mehrheit des Nationalkomitees sprach sich gegen Pinay aus, aber sie vermochte die Sozialisten nicht für eine Regierung zu gewinnen. Das Eintreten Pinays für Robert Schuman gab schließlich den Ausschlag. Mit Mendes-France hoffte ein Teil des MRP neuerlich Anschluß an die Linke zu erhalten. Seine unklare Haltung in außenpolitischen Fragen bewogen vor allem Bidault, Teitgen und Schuman, gegen diesen Kandidaten Stellung zu nehmen. Es kam jedoch dabei zu einer offenen Revolte der jüngeren Abgeordneten, und nur mit Mühe konnte ein Ausgleich erzielt werden, gewisse Einbrüche sind aber bis auf den heutigen Tag wirksam. Schließlich sah sich die Partei gezwungen, den Abgeordneten Denis auszuschließen, und zwar nicht wegen seines Kampfes gegen die EVG, sondern wegen seiner notorischen Disziplinlosigkeit. Derzeit herrscht in der Partei Einigkeit. Zusätzliche Bemühungen um die Organisation werden der Partei jenen Halt geben, den sie benötigt, um die Mitglieder des Ex-RPF für sich zu gewinnen, sobald die Hypothek der Europäischen Armee gelöscht ist.

Das MRP verfügt über bedeutende Persönlichkeiten in der Führung. Es kann auf die Treue gewisser Departements (Normandie und Elsaß) rechnen und wird in den großen politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart neuerlich entsprechend zu Wort kommen.

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