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Tektonische Beben

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Die Erdbeben dieses Jahres werden mit der Theorie der „Plattenwanderung“ erklärt. Danach sind die Alpen durch einen „Zusammenstoß“ zwischen Itaüen, dem „Rammbock“ der afrikanischen Platte, und dem nördlich davon gelegenen Europa entstanden. In diesem Spiel der auf dem Erdmantel „dahingleitenden Platten“, das entfernt dem Treiben großer Eisschollen vergleichbar ist, scheint die verhältnismäßig kleine türkische Platte von der eurasischen im Norden und der arabischen im Süden gewissermaßen in die Zange genommen worden zu sein.

Der politischen Struktur der westlichen Demokratien scheinen ähnliche „Plattenwanderungen“ bevorzustehen. Darin können sich beachtliche tektonische Veränderungen in der politischen Landschaft ankündigen.

Die Vorgänge in der Bundesrepublik Deutschland, die ihr Epizentrum in München haben, stehen derzeit im Vordergrund des Interesses. Die Strategie der i CSU-Führung zeigt eine „Schollen-Bewegung“, die eine Vergrößerung des bisherigen Wählerpotentials der Unionsparteien nach rechts (wenn die CSU auf die CDU weniger Rücksicht zu nehmen braucht) wie auch nach links (wenn die CDU weniger durch die CSU gehandikapt ist) durchaus als möglich erscheinen läßt. Der Umstand, daß die FDP in Bayern die Fünf-Prozent-Klausel mit 5,2 Prozent nur knapp überspringen konnte und das Vordringen des linken Flügels in der SPD von weiter rechts stehenden Sozialdemokraten mit zunehmender Besorgnis registriert wird, sind die Ausgangspunkte solcher Überlegungen. Der ans Selbstmörderische grenzende innersozialistische Kräfteverschleiß dürfte in der Bundesrepublik auch an der Isar einem Höhepunkt zustreben. Dann mögliche CDU-SPD-, aber auch CDU-FDP-Koalitionen könnten Ausformungen solcher tektonischer Beben werden.

Was in der Bundesrepublik noch Gegenstand heftiger Unions-interner spekulativer Auseinandersetzungen ist, hat in anderen Ländern schon konkretere Formen angenommen. Das Zusammenfinden der bürgerlichen Parteien in Schweden ist mit Recht als ein halbes Wunder betrachtet worden. Hier hat sich eine neue Scholle gebildet, deren Festigkeit sich noch erweisen muß; vieles aber spricht dafür, daß die Beteiligten um die entscheidende Bedeutung ihres Experimentes wissen. Wenn es gelingt, und der linke Flügel der schwedischen Arbeiterpartei unbelehrbar bleibt, sind größere Landschaftsveränderungen nicht ausgeschlossen.

Von den übrigen skandinavischen Ländern ist Dänemark am deutlichsten wahrnehmbaren tektonischen politischen Beben ausgesetzt. Dort hat die Uberdrehung des Wohlfahrtsstaates und die Uberforderung des Staatsbürgers als dessen Financier zur Ausformung der für die übrige Welt besonders obskuren „Anti-Steuerpartei“ geführt. Jede Neuwahl ist für Überraschungen gut. Die Sozialisten führen derzeit verzweifelte, aber nicht sehr hoffnungsvolle Kämpfe um ihr Uberleben in der Regierungsverantwortung.

In den Niederlanden zeigen sich völlig neue innenpolitische Strukturen: dort ist der aus der Provinz Brabant stammende 45jährige Katholik und Jurist Andreas van Agt als Spitzenreiter der neuen politischen Mitte gegen den regierenden Sozialdemokraten Den Uyl angetreten: als Spitzenkandidat des Christen Democratisch Appel (CDA), eines erst vor kurzem zustande gekommenen Bündnisses zweier protestantischer und einer katholischen Partei. Er soll bis zum Mai 1977 als integrierende Kraft für diese neue Partei mit alten, weitverzweigten Wurzeln wirken. Es wird immer mehr offen, ob die Christdemokraten Hollands unter allen Umständen wieder ein Bündnis mit den Sozialdemokraten anstreben (van Agt gehört dem derzeitigen Koalitionskabinett an), oder ob nicht andere Kombinationen in den Bereich des Möglichen kommen. Er stützt sich bewußt auf die neuen gesellschaftlichen Strukturen: die Schwächsten, so meint er,~ seien heute nicht mehr unbedingt die Arbeitnehmer. Ihre Position ist durch mächtige Organisationen wesentlich verbessert. Mit der heutigen Verfechtung der Mitbestimmung sitzen die Sozialisten laut van Agt „auf dem falschen Gleis“, weil sie Mitbestimmung aus den Betrieben in die Gewerkschaften verlagern wollen, van Agt tritt für konservative Begriffe wie „Autorität und Recht“ und „Mitverantwortung“ ein.

Auch im benachbarten Belgien sind die Fronten zwischen den Parteien in Bewegung gekommen. Dort hat der wallonische Flügel der (liberalen) Partei für Freiheit und Fortschritt und die „Ministergruppe der wallonischen Sammelbewegung“ die Gründung einerneuen belgischen Partei unter dem Namen „Partei für Reformen und Freiheit in der Wallonie“ bekanntgegeben, deren Vorbereitungen sehr diskret geführt worden waren. Als Vorsitzender wird der international bekannte EG-Politiker Jean Rey genannt.

Die Ministergruppe der wallonischen Sämmlungsbewegung, die aus einer Reihe von Regierungsmitgliedern besteht, wollte die vom Präsidenten ihrer Partei vorgeschlagene Orientierung nach links nicht mitmachen, erwartet aber für den zum 4. Dezember einberufenen Parteikongreß eine sichere Mehrheit für den Präsidenten. Der Gründer der Sammlungsbewegung, Minister Perin, hat sich vom Sozialisten zum Liberalen gewandelt, wobei betont wird, daß es das erste Mal in der Geschichte des belgischen Staates gewesen ist, daß Minister während ihrer Amtszeit die Parteizugehö rigkeit wechseln. In Belgien fühlen sich die Christdemokraten von dieser Konstellation bedroht. Die erwartete Regierungsumbildung trifft das Land in einer Phase spezieller konjunktureller Schwierigkeiten und könnte auch tiefergehende Änderungen aufzeigen, wobei die Sprachenprobleme der belgischen Innenpolitik ihren besonderen Stempel aufdrücken.

In Frankreich hat der Umstand viel Beachtung gefunden, daß Expre-mierminister Chirac seinen spektakulären Nachwahlsieg durch einen Einbruch in das kommunistische Stimmenpotential verbuchen konnte, während die Giscardisten von ihrer an sich schon nicht großen Fraktion trotz des „Präsidentenbonus“ zwei Mandate -wenn auch nur knapp - eingebüßt haben. Die Sorge Mitterrands aber geht dahin, daß er die Stimmengewinne seiner sozialistischen Partei trotz aller Kunststücke der Kommunisten (Verzicht auf „Diktatur des Proletariats“) auf Kosten dieser und nicht zu Lasten der bürgerlichen Mehrheit gewonnen haben könnte. - Daß die Uhren in den romanischen Ländern ganz anders gehen, ist damit nicht unbedingt sicher. Das gilt auch für Itaüen: dort scheint aus Maüand für die Democri-stiani ein völlig neuer Wind zu wehen.

Sicherlich sind die Vorgänge in Großbritannien nicht mit kontinentaleuropäischen Maßstäben zu messen. Dennoch scheinen dort die Spannungen innerhalb der Labour-Party immer noch zuzunehmen. Die grundsätzliche Auseinandersetzung ihrer Flügel unter fühlbarem Ubergewicht des linken wird offensichtlich ohne Rücksicht auf die prekären Mehrheitsverhältnisse geführt.

Die deutlich spürbaren Grenzen des Wohlfahrtsstaates mit den harten Finanzierungskrisen seiner sozialen Einrichtungen, die zu neuen Weichen-Stellungen zwingen, die Ratlosigkeit gegenüber der strukturellen Arbeitslosigkeit, die steigenden Tendenzen innerparteilicher Polarisierung sind auch auf der sozialistischen Seite mit seismographischen Wahrnehmungen verbunden, die sich aus dem Pluralismus sozialistischer Richtungen ergeben.

Die innerpolitischen Entwicklungen in der jungen spanischen Demokratie sowie der nicht nur für die außerkanadische Öffentlichkeit überraschende Sieg der französisch sprechenden Separatisten (bereits nach ihrem dritten Wahlgang!) und schließlich der Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten, der diesmal mit besonders schwer voraussehbaren Klimaveränderungen verbunden sein wird, runden die Perspektiven nur noch ab, die sich aus politischen „tektonischen Schollenverschiebungen“ unter Umständen ergeben könnten, in einer Zeit, die wie kaum eine in der jüngeren Vergangenheit durch „Tendenzwenden“ und „Trendbrüche“ gekennzeichnet ist. - Entwicklungen, die denen Recht geben, die in der Politik wieder Ordnungsvorstellungen und damit das Grundsätzliche suchen!

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