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Halber Sieg, halbe Niederlage

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Als Finanzminister Giscard d'Estaing, einer der fähigsten Köpfe des gegenwärtigen französischen Regimes, seine Meinung aussprach, Frankreich wolle von der Mitte regiert werden, stieß er bei den Gaullisten auf kühle Ablehnung und erregte den Zorn der geeinigten Linken. Diese verstand es seit dem Spätherbst 1972, mit Hilfe des gemeinsamen Programms eine echte Volksbewegung zu entfachen. Durch das Trommelfeuer der Meinungsmacher unterstützt, bot sie eine Alternative zum aktuellen System an. Obwohl die Gaullisten seit 15 Jahren ununterbrochen an der Macht sind, waren sie nie in der Lage, eine schlagkräftige Presse- und Rundfunkpolitik einzuleiten. Der ganze Wahlkampf wurde dadurch zu einer Auseinandersetzung um das sozialistisch-kommunistische Programm. Die Regierungsparteien waren kaum fähig, diese Attacken aufzufangen und ein wirkliches Konzept zu entwickeln. Die Frage war also gestellt, ob diese schweigende Mitte — nur ungenügend durch die Reformbewegung von Lecanuet und Servan-Schreiber repräsentiert — das Pendel bis zum Triumph einer Volksfront ausschlagen ließe.

Jeder Kenner der Materie wußte nach dem ersten Wahlgang um die Unerhörte Wichtigkeit dieser Wähler-Stimmen. Eine Feststellung hat der objektive Beobachter zu treffen, die in den Kommentaren der linksorientierten Zeitung „Combat“ am besten ausgedrückt wird: eine reformfreudige sozialdemokratische Partei hätte ohne die Allianz mit den Kommunisten wahrscheinlich die Zustimmung der Mitte gefunden und wäre vielleicht die stärkste Partei der Fünften Republik geworden.

Die Nation betrachtete den Aufstieg der zum dynamischen Motor der Linken Union gewordenen kommunistischen Partei mit zunehmender Skepsis. Mochten Marchais und seine Genossen auch noch sosehr beteuern, die essentiellen bürgerlichen Freiheiten wahren zu wollen, so wurden diese Schwüre doch reserviert aufgenommen. Viele Wähler der Mitte gaben im ersten Wahlgang den Sozialisten ihre Stimme, um ihren Wunsch nach Reformen zu dokumentieren. Sie waren aber nicht gewillt, einem KPF-Kandidaten und damit einer Partei das Vertrauen zu schenken, die ausdrücklich den Sturz der bisherigen liberalen Gesellschaftsordnung prophezeite.

Der relative Erfolg der Regierungsparteien ist ausschließlich das Verdienst der Unabhängigen Republikaner und ihres Generalsekretärs Poniatowski sowie des mutigen Einsatzes des Präsidenten der Reformbewegung, Jean Lecanuet. Im letzten Moment wäre es beinahe zu einer Panne gekommen, als der zweite Mann der Reformatoren, Ser-van-Schreiber, entschieden vor einer Stimmenabgabe zugunsten der Majo-ritätskandidaten warnte. Die Abgleitgefahr eines Teiles der Mitte nach Links bewog Staatspräsident Pompidou, den Bürgern einige Stunden vor der Eröffnung des zweiten Wahlganges die beiden Alternativen — hier eine liberale, verbesserungswürdige Ordnung, dort eine marxistisch-kollektivistische, totalitäre — plastisch vor Augen zu führen. Die Initiative des Staatsoberhauptes stieß auf leidenschaftliche Kritik seitens der Linken. Diese zögerte auch nicht, Jean Lecanuet mit vielen Injurien zu beglücken und irrationalerweise „Verräter“ zu nennen.

Pompidous Interventionen und Le-canuets Bereitschaft, die Reformbewegung dem Regierungslager zur Verfügung zu stellen,- hat Früchte getragen. Mit vorläufig 272 Sitzen kann die bisherige Majorität auch weiterhin das Kabinett bilden. Dazu bedarf sie keineswegs der Unterstützung der Reformatoren, die mit 31 — vermutlich aber 33 — Abgeordneten eine eigene Fraktion stellen können. Trotzdem ist es so gut wie sicher, daß Repräsentanten der Reformbewegung in der künftigen Regierung wichtige Portefeuilles erhalten werden. Innerhalb der Koalition haben sich die Akzente wesentlich verschoben. Die bisherigen gaullistischen Kerntruppen vermeldeten einen Verlust von 91 Sitzen. Der Einfluß der Unabhängigen Republikaner (Giscard) und der Gruppe um Kultusminister Duhamel ist sichtlich im Ansteigen begriffen. Das Prestige des jetzigen Unterrichtsministers und letzten Generalsekretärs des MRP, Fontanet, sowie des Generalsekretärs der Unabhängigen Republikaner, Poniatowski, sind unbestritten. Ohne Zweifel sind sie die Männer, die mit Lecanuet die großen, vom Volk in den beiden Wahlkämpfen bejahten Optionen zu realisieren haben.

Was die Linke Union betrifft, kann man, je nach Einstellung, von

einem halben Sieg oder einer halben Niederlage sprechen. Die Kommunisten werden mit 73 Sitzen im Parlament vertreten sein. Sie konnten keinen nennenswerten Zuwachs registrieren. Ihr Reservoir blieb konstant. Die sozialistische Partei Mitterrands fand den angestammten Platz im Spektrum des französischen Parteiensystems wieder. Mit 89 Abgeordneten kann sie den Diskussionen im Parlament neue Schwerpunkte geben. Die Frage wird sich natürlich stellen, inwieweit die Allianz Sozialisten-Kommunisten die Prüfung von fünf Jahren Opposition durchhalten wird. Der Glaube, daß das gemeinsame sozialistisch-kommunistische Programm in kürzerer oder längerer Zeit sterben werde, macht sich bereits bemerkbar. Gestorben ist fürs erste der Glaube an Mitterrand, der Glaube an einen Mythos, hinter dem in Wirklichkeit kein politischer Gedanke, sondern der politische Ehrgeiz eines einzelnen stand. Jener Mitterrand-Mythos, der fast bis in die letzte Minute von den Stimmungmachern in aller Welt als bare Münze gehandelt und derzeit offenbar immer noch nicht überall als Falschgeld erkannt worden ist, kam der Regierungsmehrheit so sehr gelegen, daß sie ihm keineswegs in massiver Form widersprach. Diente er doch einer Klärung der Fronten im Sinne der Alternative, die Pompidou zuletzt der Nation in seiner ORTF-Rede anbot.

Will man die Bilanz dieser erregenden Wochen ziehen, so lautet diese, auf einen einfachen Nenner gebracht: die französische Nation demonstrierte mit bemerkenswert demokratischer Reife den Wunsch nach Reformen in evolutionären Stößen, lehnt aber die Revolution ab. Werden sich die Linksparteien dem Spruch der Mehrheit fügen? Sind sie bereit, die Straße zu mobilisieren, die Gewerkschaften in Marsch zu setzen und den Aufbau des Staates zu stören? Viel hängt davon ab, wieweit Staatspräsident Pompidou. der eigentliche Sieger des Wahlentscheides vom 11. März, den Aspirationen seiner Landsleute Rechnung tragen wird.

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