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Immerhin: Dialog möglich

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Nun kehren auch die letzten Nachzügler der großen Augustwanderung in ihre Werkstätten und Büros zurück, doch es ist nicht die fröhliche Heimkehr früherer Jahre. Die Stimmung der Bürger, in zahlreichen demoskopischen Untersuchungen wiedergegeben, ist keineswegs auf Schönwetter eingestellt. Viele Arbeiter und Angestellte fürchten, daß sie über kurz oder lang den Platz, den sie noch vor den Ferien innegehabt haben, verlieren könnten. Fast alle Industriebranchen sind bereits von der Krise betroffen.

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Nun kehren auch die letzten Nachzügler der großen Augustwanderung in ihre Werkstätten und Büros zurück, doch es ist nicht die fröhliche Heimkehr früherer Jahre. Die Stimmung der Bürger, in zahlreichen demoskopischen Untersuchungen wiedergegeben, ist keineswegs auf Schönwetter eingestellt. Viele Arbeiter und Angestellte fürchten, daß sie über kurz oder lang den Platz, den sie noch vor den Ferien innegehabt haben, verlieren könnten. Fast alle Industriebranchen sind bereits von der Krise betroffen.

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So muß der Textilkonzern Boussac 980 Mitarbeiter entlassen und der gewaltige Industrietrust Rhöne-Pou-lenc führt für seine 90.000 Werktätigen Kurzarbeit ein. Dies sind zwei Beispiele auf einer Liste, die beliebig erweitert werden kann. Nur die Waffenerzeugung hat so viele Aufträge, daß sie bereit ist, Leute einzustellen. Obwohl sich der Handel mit Jagdflugzeugen, Panzern und Elektronenraketen gut anläßt, ist es natürlich unmöglich, die Million Arbeitslose bei Dassault und ähnlichen Betrieben zu integrieren. Am stärksten ist die Aktivität in der Bauwirtschaft paralysiert. Im Vergleich zu den ersten sechs Monaten 1974 verlor dieser Wirtschaftszweig bis Mai 1975 40 Prozent seiner Aufträge.

Man gewinnt den Eindruck, daß die Regierung zuviel Akzent auf die Bekämpfung der Inflation gelegt und das Steigen der Arbeitslosigkeit zu wenig beobachtet hat. Staatspräsident Giscard d'Estaing ist sich mit-lerweile der Gefahr bewußt, die Hunderttausende gezwungenermaßen Beurlaubte für das Regime darstellen. Wird das Wirtschaftsprogramm, Anfang September mit großem publizistischen Aufwand verkündet, eine Entlastung des Arbeitsmarktes mit sich bringen?

Der Staatspräsident weiß genau, daß dieser umfassende Plan dann Früchte tragen wird, wenn sämtliche Sozialpartner an seine Wirkung glauben und die Spielregeln beachten. In erster Linie geht es darum, die Gewerkschaften und die dahinter stehenden politischen Parteien der Opposition zu einem Dialog zu bewegen. Schon während der Wahlkampagne von 1974 hatte der frühere Finanzminister den Gedanken entworfen, der Opposition ein bestimmtes Statut zuzubilligen. Als Beispiel wurden mehrfach die Verhältnisse in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland genannt. Allerdings ist die Sachlage in England und Deutschland von jener der V. Republik verschieden, die beiden Vergleichsländer haben keine mächtige kommunistische Partei. Die regierungsbildende englische und die deutsche Arbeiterpartei haben die liberalkapitalistischen Strukturen ihrer Länder akzeptiert und wollen lediglich gewisse Reformen initiieren. In Frankreich haben die in der linken Union versammelten politischen Gruppen der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur den Kampf angesagt. Wie sollen also Regierung und Opposition ihre Anstrengungen koordinieren, wenn sie von verschieden gelagerten Programmen ausgehen? Obwohl Giscard d'Estaing mehrfach die Generalsekretäre Marchais und Mitterrand zu Gesprächen eingeladen hatte, erhielt er von beiden bisher nur ein eisiges „Nein“. Es sind natürlich die Kommunisten, die jede Zusammenarbeit mit der Regierung ablehnen und die Sozialisten und linken Radikalsozialisten zwingen, dieselbe Position einzunehmen. Mitterrand schien mehrfach geneigt zu sein, mit Giscard d'Estaing in Kontakt zu treten und die linken Radikalsozialisten würden sich gern vom Staatspräsidenten informieren lassen. Beide Parteien sind jedoch mehr oder weniger Gefangene der KPF und wagen einen solchen weitgehenden Schritt nicht allein. Aber die Kritik an dieser starren Haltung wächst in den Reihen der beiden nichtkommunistischen Partner des gemeinsamen Programms. Ein erstes Anzeichen ist da, daß die linken Radikalsozialisten keineswegs geneigt sind, ständig Georges Marchais zu unterstützen. Der Vizepräsident der linken Radikalsozialisten, Henri Caillavet, zog als erster die Konsequenz und verließ seine Partei. Als Grund führte er die zweifelhafte Haltung der KPF in der Beurteilung der portugiesischen Ereignisse an, wie den Willen der sozialistischen Kollegen, sich des Apparats der linken Radikalsozialisten zu bemächtigen. Eine Schwalbe ist natürlich noch kein Sommer und ein Senator noch nicht die gesamte Fraktion! Doch die politischen Experten vertreten die Ansicht, daß die Risse im Gemäuer der Hnktn Union sich vertiefen werden. Nachdem Senator Caillavet bereits zweimal den Weg in den Eiy-seepalast gefunden hat, darf angenommen werden, daß weitere Würdenträger aus seinem Lager folgen werden. Wenn man die verschiedenen Äußerungen der linken Politiker analysiert, kommt man zu dem Schluß, daß die bisher erstarrten Fronten — hier Majorität, dort Opposition — sich lockern. Die kommunistische Partei hat sich selbst in eine gewisse Isolierung • hineinmanövriert und man weiß nicht, welchen Zweck sie mit ihrer Taktik verfolgt. Wünscht sie sich gegen den sozialistischen Partner abzugrenzen, der, soweit es die Mitgliedszahl betrifft, in den letzten Monaten überraschende Erfolge zu vermelden hat? Den Sozialisten ist es auf alle Fälle schneller, als man annahm, geltmgen, Zellen in zahlreichen Betrieben zu bilden und den Kommunisten auf einem Feld entgegenzutreten, das bisher ausschließlich für die extreme Linke reserviert war. Wer wird also in der sozialistischen Partei endgültig zum Durchbruch kommen, der linke Flügel, formiert um die Studienzentrale CERES, oder jene Männer, die nicht der sozialistischen, sondern der sozialdemokratischen Komponente anhängen? Als Wortführer dieser Richtung muß der uopuläre Bürgermeister von Marseille, Gaston Defferre, angesehen werden. Des öfteren wurde von der Mehrheit bestätigt, daß die in der französischen, politischen Geographie durchaus ihren Platz haltende Sozialdemokratie eine Bereicherung für die Mehrheit sei. Bisher wurden nur bescheidene Versuche unternommen, mit ihren Repräsentanten Gespräche aufzunehmen. Inzwischen hat Mitterrand ebenfalls einen Wirtschaftsplan entwickelt, der keineswegs so formuliert ist, daß nicht einige Punkte von der Majorität akzeptiert werden könnten. Auch die Sozialisten wollen die Bürger auffordern, mehr zu konsumieren und durch eine Reform von Post, Spitälern usw. neue Arbeitsplätze schaffen! Der Generalsekretär der Sozialisten plädiert seinerseits für eine Verminderung der Steuerlasten in Klein- und Mittelbetrieben. Zur Finanzierung solcher Vorhaben schlägt Mitterrand die Aufnahme einer nationalen Anleihe in der Größenordnung von 20 Milliarden Francs vor. Die übrigen Ideen Mitterrands verdienen es, studiert zu werden. Er wünscht die Einrichtung einer gleitenden Lohnskala und die Blockierung der Industriepreise. Beim ersten Punkt stößt er natürlich auf den energischen Widerstand des Finanzministers, der neue Inflationsquellen befürchtet. Aus der Gegenüberstellung der zwei Wirtschaftspläne geht hervor, daß zumindest ein bescheidener Dialog zwischen der Regierung und den beiden nichtmarxistischen Oppositionsparteien möglich ist.

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