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Sehnsucht nach der Mitte

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Finanzminister Giscard d'Estaing bewies sich wieder einmal als Hecht im Karpfenteich. Nach einjährigem Schweigen hielt er Mitte Oktober eine aufsehenerregende Rede. Sie war von seinem Berater, dem Prinzen Poniatowski, in der Öffentlichkeit sorgfältig vorbereitet worden. Mit einem Satz zeigte der Herr der französischen Steuern neue, von vielen erhoffte, aber nie zuvor so deutlich proklamierte Perspektiven der Innenpolitik. Giscard d'Estaing meinte in seinem trockenen Tonfall, Frankreich sollte künftighin vom Zentrum regiert werden. Diese wohlberechnete, taktische Bemerkung provozierte unzählige Kommentare und rief auch den Gralshüter der gaullistischen Orthodoxie, Armeeminister Debre, auf das Turnierfeld.

Obwohl Finanzminister und mitverantwortlich für die galoppierende Inflation, konnte Giscard d'Estaing seine Popularitätskurve seit Jahren uneingeschränkt halten. Für die

Präsidentschaftswahlen von 1976 gilt er als einer der aussichtsreichsten Kandidaten. Mit seinem Wunsch, das Zentrum zu aktivieren und die Kräfteverhältnisse in der Mehrheit zu verschieben, verbindet der Chef der Unabhängigen Republikaner verschiedene Ziele. Da — nach allen Sondierungen — die gaullistische Mehrheitspartei UDR Stimmen ein-büssen wird, geht es um das Auffangen und Für-sich-Gewinnen dieser Wähler. Wenn die Unabhängigen Republikaner wesentliche Einbrüche in das gaullistische Reservoir verzeichnen können, werden sie nach dem März 1973 ohne Zweifel das Zünglein an der Waage sein. In diesem Fall wird der Staatschef nicht umhin können, Giscard d'Estaing die Bildung des neuen Kabinetts anzuvertrauen.

Die Leiter der Unabhängigen Republikaner nehmen an, daß ein gewisser, noch nicht definierbarer Prozentsatz von Bürgern grundlegende Reformen, aber keine brüsken Veränderungen der Regierungsstrukturen erwartet. Diese Leute werden sich sicherlich um jene Personen konzentrieren, die als Reformatoren in der Mitte die bisherige Praxis des Regimes scharf kritisieren. Auch der rechte Flügel der Sozialisten muß für Lösungen gewonnen werden, die durch die Allianz Sozialisten-Kommunisten in keiner Weise gegeben scheinen. Bisher erklärte ein einziger sozialistischer Abgeordneter, Max Lejeune (mehrfach Minister in der IV. Republik), seiner Partei, er könne das Bündnis mit der KPF nicht gutheißen und desavouiere es. Und doch gärt es unter den Anhängern dieser Linkspartei. Die Propagandamethoden der Kommunisten, die die Sozialisten als Hilfstruppen benützen wollen, stoßen auf wenig Gegenliebe. Das sozialistische Funktionärs-Corps pflegt weiterhin die Tugenden der pluralistischen Demokratie und des Humanismus.

In den Diskussionen der Vorwahlzeit bemühen sich Pariser Kommentatoren, den Begriff „Zentrum“ neu zu definieren und ihm ein politisches Programm, eventuell sogar eine Ideologie zuzuordnen. Das französische Zentrum kannte seit der III. Republik zwei sich deutlich voneinander unterscheidende Flügel: die Rechtsorientierten, „Gemäßigten“ (Les Moderes) und die linksgerichteten Radikalsozialisten und Sozialisten. Nach der Befreiung von 1944/45, bis zum “Höhepunkt der gaullistischen Herrschaft, verschleierte die christlich-demokratische Partei MRP zeitweise die historisch gewachsenen Grenzen. Gelegentliche Versuche, die Katholiken mit den Sozialisten in einer Arbeiterpartei zu sammeln, scheiterten an den antiquierten, aber immer noch existierenden, laizistischen Konzepten der letzteren. Die Zentrumspartei Lecanuets konnte sich bis zum heutigen Tag nicht entscheiden, welcher Richtung sie endgültig angehören soll. Eine eingehende Analyse kommt zu dem Schluß, daß Lecanuet, Bürgermeister von Rouen, dem amtierenden Finanzminister viel näher steht als etwa dem Bürgermeister von Marseille, Gaston Defferre, der die Rechtssozialisten führt.

Die Unabhängigen Republikaner des Finanzministers muß man als Erben der liberalen Gemäßigten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts klassifizieren. Mit Ausnahme der kurzen Periode von 1936, als eine Volksfront in Paris triumphierte, und der ersten zwei Jahre nach Kriegsende, waren es immer sie, die Frankreich tatsächlich regierten. Der Mann mit dem kleinen Hütchen und der Retter der Währung, Pinay, wurde zu ihrer Symbolgestalt. Trotz seiner 80 Lenze gehört er zum „Gewissen der Nation“. In jeder monetären Krisenzeit wird er im Elysee-Palast oder vom Chef (der Regierung empfangen. Giscard d'Estaing hat nur eine Tatsache ausgesprochen, die den Wählern 14 Jahre lang nicht bewußt war.

Die geheimen Kontaktgespräche zwischen den Abgesandten Giscard d'Estaiings und Lecanuets führten zu einer Annäherung dieser beiden Gruppen. In ihren Wahlprogrammen (liberal, reformatorisch und europäisch) sind sie sich ungemein ähnlich. Soziologisch gesehen, sprechen beide Parteien die gleichen Wähler an. Ihre Parolen finden ein zunehmendes Echo in der öffentlichen Meinung. Die Gaullistischen blicken mißtrauisch auf diese Renaissance der rechten- Mitte. Sie beschwören dagegen die Mannen ihres Gründers und damit den unbedingten politischen Führungsanspruch. Man wird sehen, ob der Zug zum Zentrum im März 1973 wie eine Seifenblase zerplatzen oder eine neue Realität werden wird.

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