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Der Motor heißt Giscard

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Eine neue Ära — das vermeinte Wahlsieger Valery Giscard d'Estaing selbst aus dem Wahlergebnis vom Sonntag herauslesen zu können. Was er selbst unter dieser neuen Ära versteht, wird sich weisen. Bislang bleibt die Tatsache, daß er die landläufigen Schemata der europäischen Politik durcheinandergebracht hat.

Die Ablöse des Gaullismus deutet Frankreichs Rückkehr zur politischen Geographie an. Giscard d'Estaing steht zweifellos dem christdemokratischen MRP und dem Zentrum Lecanuets nahe, er ist aber anderseits durch Herkunft und politischen Habitus ein Konservativer, dessen Sukkurs durch die äußerste Rechte schon typologisch bedingt ist. Daß ein solcher Mann eine Mehrheit hinter sich sammeln konnte, scheint mehr als alles andere das wahre Phänomen dieses Volksentscheids. Daß Giscard d'Estaing darüber hinaus das Kunststück vollbrachte, sich von 13 Prozent zu Wahlkaimpfbeginn (laut Meinungsforschung) auf 33 Prozent im ersten Durchgang und schließlich 51 im zweiten Durchgang hochzubringen, stellt ihm ganz außerordentliche, ja geradezu sensationelle Fähigkeiten des Einflusses auf die Psyche seines Volkes aus. Etwas Vergleichbare3 jSt m der Geschichte demokratischer Wahlkämpfe noch nie erfolgt; und zeigt auch an, wozu die modernen Kommunikationsmedien imstande sind — weil dieser Wahlkampf in Frankreich auch zum erstenmal ein fast exklusiv audiovisueller war.

Giscard d'Estaing ist ein „Technokrat“; der elitäre Absolvent der Ecole d'Inspectdon de Fimance ist sicherlich nicht a priori ein klassischer Außenpolitiker; auch liegen Frankreichs primäre Probleme jetzt in der Innenpolitik. Aber der neue Präsident in Paris weiß wohl um die Intendependenz, wie sehr Frankreichs Wirtschaft — und damit Politik — mit Europa und der westlichen Welt verzahnt ist. Mit Deutschlands neuem Bundeskanzler Helmut Schmidt verbindet Giscard d'Estaing im Übrigen nicht nur die Gleichzeitigkeit ihrer Bestellung oder die Tatsache, daß beide Finanzminister waren; vielmehr ist nicht nur Schmidt ein „politischer Handwerker“ (so die „Zeit“), sondern ebenso auch Giscard d'Estaing. Beide sind Männer der Rationalität und der Logik in der Politik.

Der Erwartungsstatus reduziert sich auf zwei Tatsachen:

• Frankreich hat als einzige europäische Großmacht wieder eine arbeitsfähige Führung. Frankreich ist als einziges Land in Europa in der Lage, Weichen zu stellen. Helmut Schmidt muß erst um die Wähler-gust in Niedersachsen, später in Hessen kämpfen, wo ihm ein politisches Patt droht; Harold Wilson muß jeden Schritt unter dem Damoklesschwert von Neuwahlen setzen, wodurch seine Minderheitsregierung wieder ins Out gedrängt werden könnte. Italien bleibt bis auf weiteres gelähmt.

• Europapolitik ist nunmehr ohne, oder sogar gegen Frankreich nicht möglich. Frankreich wird damit auch bis auf weiteres zum eigentlichen europäischen Verhandlungspartner Moskaus werden, wenn man realistischerweise annimmt, daß sich die deutsche Ostpolitik vorläufig zu Tode gelaufen hat.

Die Entscheidung der französischen Wähler ist ein Faktor auch für neutrale Staaten, die in Europa das Gleichgewicht der Kräfte für ihren Lebensatem brauchen. Moskaus Europapolitik setzt nach wie vor doch primär auf den Abzug der US-Soldaten, auf ein Fortdauern der militärischen und politischen Disharmonie der europäischen Staaten

— und auf eine „Neutralisierung“ des Kontinents westlich von March und Elbe.

Will Österreich nicht in den Sog solcher möglicher Entwicklungen geraten, braucht es auch in Europa einen Angelpunkt. Österreichs Neutralität verlangt nach Partnern, die ein entscheidendes Interesse an der Existenz eines unabhängigen, neutralen Alpenstaates haben. Frankreichs Absicht muß im Interesse Europas in der Sicherung der Existenz des neutralen Österreichs liegen.

Österreichs Außenpolitik hat seine Angelpunkte sehr unterschiedlich gewählt. Nach der Freundschaft mit den USA kam die Freundschaft mit der Bundesrepublik. Die übrigen westlichen Mächte hielt (man in Wien für entbehrbar. Man ignorierte das

— zugegebenermaßen — überspitzte Bedürfnis des Frankreich de Gaulies nach Anerkennung seiner Führungsfunktion, man bediente sich des Quai d'Orsay nicht immer geschickt bei den EWG-Verhandlungen, Österreichs Bundeskanzler fuhr 1973 partout knapp vor Palrmamentswahlen zur Unterstützung der linken Opposition nach Frankreich und man schickte zum Begräbnis von George Pompidou keinen einzigen Vertreter der Regierungspartei.

Immer hat man in Wien gewartet. Gewartet, bis sich in Frankreich „etwas ändert“. Diese Hoffnung erwies sich als schlichtweg falsch.

Mit Giscard d'Estaing ist ein Mann Staatspräsident Frankreichs geworden, der in den alten Traditionen des europäischen Kontinents wurzelt. Nicht im Sinne einer Abendland-mystik, die ihm seine Gegner so gerne andichten möchten, sondern dm Sinne einer ganz neuen liberalen Wertbestimmung, die sich der Dynamik der Demokratie ebenso bewußt ist wie der Substanz, die es nicht mutwillig zu verspielen gilt.

Giscard d'Estaing, dessen Lieblingskomponist Mozart und dessen Lieblingsdiohter Rainer Maria Rilke dst, ist ein Freund Österreichs. Man sollte und könnte das in Wien bedenken.

Wie die Dinge liegen, gibt es in Europa heute nur einen einzigen bewegungsfähigen Staat. Es ist nach dem 19. Mai die Französische Republik.

Diese Französische Republik wird unter Giscard d'Estaing allein deshalb eine stärkere Rolle in der europäischen Politik spielen. Im Zeichen dieses Machtzuwachses wird Frankreich ein vergrößertes vitales Interesse an der Erhaltung der Unabhängigkeit und Bewegungsfähigkeit aller europäischen Staaten diesseits des Eisernen Vorhangs haben.

Frankreich ist — rebus sie stantibus — damit augenblicklich Österreichs natürlichster Verbündeter.

Frankreich als Motor der Einigung Europas — das dst jetzt denkbarer denn je.

Man fahre am Ballhausplatz mit dem Motor — nicht mit dem Auspuff.

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