Wie der Ochs vor dem Berg

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Nicht nur die Einwände und Befürchtungen der EU-Kleinen behindern das europäischeEinigungsprojekt, sondern die gegensätzlichen Vorstellungen unter den EU-Großen.

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Nicht nur die Einwände und Befürchtungen der EU-Kleinen behindern das europäischeEinigungsprojekt, sondern die gegensätzlichen Vorstellungen unter den EU-Großen.

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Es ist höchste Zeit für eine neue, substantielle Debatte über die politische Integration Europas. Denn nachdem "Maastricht" mit der Wirtschafts- und Währungsunion der Elf - künftig mit Griechenland der Zwölf - geschafft und die Osterweiterung im Prinzip entschieden ist, scheint die Einigungsmotorik zu lahmen. Die europäische Integration als Idee wie als Realität wird von der Globalisierungsdynamik überlagert. Von Wirtschaftsführern, gelegentlich auch von Politikern ist zu hören, die kommunikationstechnologische Revolution und die neue Weltwirtschaft erzwängen neue weltweite Gemeinschaftslösungen. Europa rücke damit ins zweite Glied. Und den alten Herren in Paris wie den neuen in Berlin ist allen Europabekenntnissen zum Trotz das nationale Hemd ohnehin immer näher gewesen als der europäische Rock.

Zudem stottert der deutsch-französische Motor schon seit längerer Zeit. Der Schröder-Regierung der "neuen Mitte" erschien ein Bündnis mit einem von Toni Blairs Innovationspolitik überstrahlten Labour-Großbritannien attraktiver als eine Liaison mit der Zwangskohabition zwischen gaullistischem Staatspräsidenten und traditionssozialistischer Regierung in Paris. Es ist nun aber ein ungeschriebenes Gesetz im europäischen Einigungsprozess, dass sich politisch in der EU nur etwas bewegt, wenn es im deutsch-französischen Verhältnis stimmt.

Schon gegen Ende der Regierung Kohl hatte man den Eindruck, der europäische Eifer der deutschen Politik sei erlahmt. Die Krise der Europäischen Kommission, die durch die personelle Neubesetzung mehr gemildert und verschoben als wirklich überwunden ist, tat ein Übriges. Und der Euro zeigt sich nicht nur schwach - wobei für seine Schwäche seltsamerweise immer nur finanzwirtschaftliche und monetäre Gründe angeführt werden und die fehlende politische Verankerung der europäischen Gemeinschaftswährung ausgeklammert bleibt -, sondern entwickelt auch wenig Druck in Richtung politischer Union.

Schrecken gepaart mit Unfähigkeit "Amsterdam" als politische Fortentwicklung von Maastricht brachte symbolische und reale Fortschritte - Kompetenzerweiterungen für das Europäische Parlament, neues Generalsekretariat für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik -, schaffte aber bei den institutionellen Reformen keinen wirklichen Durchbruch, weswegen man jetzt unter französischer Ratspräsidentschaft in Biarritz und Nizza praktisch wieder dort ansetzen muss, wo man in Amsterdam und in den Folgekonferenzen nicht weitergekommen ist.

Wollte man das europäische Verhalten in den führenden Mitgliedsländern der EU auf einen Nenner bringen, dann war es eine Mischung aus Erschrecken vor der Unausweichlichkeit der Osterweiterung und der Unmöglichkeit (oder Unfähigkeit) die institutionellen Voraussetzungen in der Gemeinschaft dafür zu schaffen. Oder anders ausgedrückt: der Berg rückt näher und näher, und der Ochs steht da und weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. (Man könnte in dieser Situation das Abwegigste, was die Mitgliedstaaten seit Gründung der Union zustande gebracht haben - die Sanktionen gegen Österreich - auch als Ventilfunktion der eigenen Schwäche ansehen. Und die österreichische Regierung könnte, wenn es ihr innerer Zustand denn erlaubt, ohne allem Volksbefragungsfirlefanz in Ruhe abwarten, wie die Unionsstaaten dieses Ventil wieder zubekommen.)

Führt nun die neue Debatte - ausgelöst durch die Europa-Reden des deutschen Außenministers Joschka Fischer - aus der Sackgasse heraus? Man wird Fischer nicht nur Gespür für den richtigen Augenblick zubilligen, sondern auch, dass er den Ernst der Lage erkannt hat und eine treffsichere Analyse bietet: "Aus der Vergemeinschaftung von Wirtschaft und Währung gegenüber den noch fehlenden politischen und demokratischen Strukturen ist ein Spannungsfeld entstanden, das in der EU zu inneren Krisen führen kann, wenn wir nicht die Defizite im Bereich der politischen Integration produktiv aufheben und so den Prozess der Integration vollenden."

Für Fischer ist das Ziel klar: Am Ende muss ein aus West und Ost integriertes Europa stehen, das über einen Staatenbund der intergouvernementalen Art hinausgeht. Er nennt das "den Übergang vom Staatenbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation". Deswegen soll laut Fischer das europäische Parlament auch als Zweikammernsystem aus direkt gewählten Abgeordneten und Vertretern der nationalen Parlamente zusammengesetzt sein. Dazu kommt nach seinen Vorstellungen eine eigene europäische Regierung. Und dies alles sollte grundgelegt sein in einem "Verfassungsvertrag", der sich nicht auf eine wie immer gedachte Grundrechtscharta beschränkt, sondern die "Finalitäten" der Union und ihren Verfassungs-charakter, die EU also als politisches System festschreibt. Dass es auf dem Weg dahin eines "Gravitationszentrums" bedarf, das als "Lokomotive" der Integration dient, ist für Fischer ebenfalls klar und dürfte im Prinzip unumstritten sein.

Woher kommt Chiracs neue Europavitalität?

Natürlich gab es für den neuen Vorstoß nicht nur enthusiastischen Beifall, sondern es regnete - weniger gegen die Ausführungen Fischers als nach der Europarede des französischen Staatspräsidenten vom 27. Juni im Berliner Reichstag - Misstrauensäußerungen von London bis Madrid, von Kopenhagen bis Wien, also seitens all der großen und kleinen Mitgliedsländer, die sich nicht von selbst einem solchen Gravita-tionszentrum oder der dafür postulierten "Avantgarde" oder "Pioniergruppe" zurechnen können oder wollen. Denn auch das gehört zu den Gesetzlichkeiten des europäischen Einigungsprozesses, dass, wenn zwei oder einige Große Bewegung einfordern, die langsameren oder Kleineren vor einem "deutsch-französischen Alleingang" oder vor einem "Direktorat der Großen" warnen. Das größte Problem auf dem Weg der Integration dürften aber kaum solche nie ganz unbegründeten Ängste der Kleinen vor der Beherrschung oder Vereinnahmung durch die Großen sein, sondern der nur vordergründige Gleichklang zwischen denen und innerhalb derer, die das Gravitationszentrum oder die alt-neuen europäischen Elitestaaten bilden sollen.

Für die neue Europavitalität des französischen Staatspräsidenten gibt es sehr naheliegende nationale Gründe: Man will in der jetzt angelaufenen französischen Ratspräsidentschaft gut dastehen, und in knapp zwei Jahren sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen. In der Außen- und Europapolitik kann sich der amtierende Staatspräsident gegenüber seinem sozialistischen Mitbewerber am ehesten profilieren. Aber selbst dies alles beiseite gelassen fällt doch auf, dass Fischer und Chirac zwar mit "Pioniergruppe" und "Verfassungsvertrag" in die gleiche Richtung weisen, aber dort, wo es mit der Integration als Endzustand ernst wird, die Gemeinsamkeiten sich im Nebel verlieren. Für die Avantgarde-Gruppe sieht Chirac ein "Sekretariat" vor. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge bleibt dagegen ganz außen vor - übrigens auch bei Fischer. Das klingt nach schlanker Union, riecht aber trotz des beschwörenden Pathos Chiracs, ausgefahrene Wege zu verlassen, mehr nach Staatenbund als nach Integration. Chirac beruft sich auf den Unionsbegriff de Gaulles, nennt aber anders als Fischer mit keinem Wort Schuman und Monnet. Obwohl es zum Zeitpunkt der Chirac-Rede fast genau auf den Tag 50 Jahre seit Bekanntgabe des Schuman-Plans zur Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl waren.

Verteufelung der Nation vorgeworfen Aber war de Gaulle "Europäer"? Sicher im Sinne einer Frieden stiftenden Staatenunion mit gemeinsamen kulturellen Werten, aber in nichts, was über sein "Europa der Vaterländer" hinausgeht. Bei Chirac rückt die "Nation" im de Gaulleschen Sinne wieder in den Mittelpunkt. "Aus unseren Nationen, in denen wir verwurzelt sind, schöpfen wir unsere Identität". Wirklich? Erstens ist die Nation gewiss nach wie vor ein identitätstiftender Faktor, aber nur einer unter mehreren. Zweitens verändern sich im Zeitalter der Globalisierung die Nationen auch von innen - kulturell und bevölkerungsmäßig. Wenn etwa in dem Streitgespräch zwischen Joschka Fischer und dem französischen Innenminister Jean-Pierre Chevenement, letzterer Fischer und der deutschen Seite Flucht vor oder Verteufelung der Nation unterstellt, dann wirkt ein solches Verständnis von Nation auf dem Hintergrund der heutigen wirtschaftlichen und kulturellen Realität geradezu kindlich.

Dies zeigt, an welchen Punkt die Stunde der Wahrheit für die europäische Integration schlägt: an der Einbindung des Nationalen und Regionalen in eine politisch überwölbende Europäische Union, bei der die Kernsouveränitäten - Außen-, Sicherheits-, Umwelt-, Verkehrs- und Wanderunsgpolitik angesiedelt sind und die alle weiteren Zuständigkeiten bei den mitgliedstaat-lichen und regionalen Instanzen belässt. Dies allein ergäbe eine schlanke und zugleich handlungsfähige Union. Und wenn das zunächst nach symbolischer Politik aussieht, ein gemeinschaftlicher (einheitlicher) ständiger Sitz der Europäer im UN-Sicherheitsrat wäre die deutlichere und verbindlichere Probe für den Integrationswillen als die schönste Nationen-Avantgarde. Dieser Vorstoß wäre ein Integrationsschritt, anstatt dass die Deutschen auf ihrem eigenen Sitz beharren, die Franzosen und Briten den Deutschen einen Sitz "zuteilen", um den eigenen behalten zu können, und die Italiener ihn den Deutschen nicht gönnen, weil sie selbst keine Aussicht haben, einen zu erhalten.

Der Autor, freier Publizist und langjähriger Chefredakteur der Herder-Korrespondenz, war von 1991-96 Grundsatzreferent in der Staatskanzlei Baden -Württemberg.

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