"Die in Brüssel" sind "die in Wien"

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Mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern wird der 1. Mai 2004 zum Markstein in der Geschichte der Europäischen Union, aber auch eine Bewährungsprobe für das in Jahrzehnten gewachsene System der EU-Institutionen. Wird es sich bewähren? Das Dossier geht dieser Frage nach und untersucht, wie gut die Brüsseler Zentrale mit den Ländern und Regionen zusammenarbeitet und wie zufrieden die Bevölkerung mit den bisherigen Ergebnissen der europäischen Integration ist. Redaktionelle Gestaltung: Christof Gaspari Was in den Augen vieler als übertriebene Regelungswut der von Lobbys gesteuerten Zentrale erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als von den eigenen Ministern beschlossene Regel.

Ein bayrischer Europaabgeordneter erzählt gerne die Geschichte, wie seinerzeit Ministerpräsident Franz-Josef Strauß in einem Wahlkampf EU-kritische Themen suchte. Er wurde bald fündig. Da arbeiteten die Kommission, die Diplomaten und Politiker der Mitgliedstaaten tatsächlich an einer europäischen Norm für Traktorensitze! Da konnte der bayrische Ministerpräsident in seinen Wahlreden zur Gaudi seiner Zuhörer so richtig losdonnern. Da sieht man wieder einmal den Regulierungswahn von denen in Brüssel! Jetzt wollen sie uns sogar europaweit genormte Hinterteile verordnen! (Er drückte es drastischer aus).

Endlich einheitliche Regeln

Kaum hatte Franz-Josef Strauß seinen Kampf gegen die Traktorensitze in die Öffentlichkeit getragen, rief ein empörter Industrieller bei der CSU an. Er sei einer der größten Erzeuger von Traktorensitzen. Er habe es satt, bei der Herstellung der Sitze für jedes Mitgliedsland andere Normen befolgen zu müssen. Deswegen habe er seit Jahren darum gekämpft, dass endlich die Normen vereinheitlicht werden. Jetzt hätte er endlich die Kommission und die Regierungen von der Sinnlosigkeit unterschiedlicher Normen überzeugt und da komme Strauß daher und gefährde das wieder. Von ihm werde die CSU jedenfalls keine Spenden mehr bekommen.

Das Beispiel ist typisch für die Debatte um die Europäische Union. Es sind oft Interessensvertreter und Lobbyisten, die etwas europäisch gelöst sehen wollen. Die Kommission ist da oft zunächst skeptisch und lässt sich nur schwer überzeugen, dass sie einen formalen Vorschlag machen soll, der dann von den Regierungsvertretern und dem Parlament beschlossen wird. Wenn sich dann in den Mitgliedsstaaten Widerstand regt, sind Minister und Regionalpolitiker dann einer Meinung, dass "die in Brüssel" wieder einmal in ihrer Regelungswut über die Stränge geschlagen oder sich unnötigerweise neue Kompetenzen angeeignet haben.

Der Minister vergisst dann zu erwähnen, dass "die in Brüssel" in erster Linie er selbst und seine Ministerkollegen aus den anderen Mitgliedsstaaten sind. Der Ministerrat ist schließlich das wichtigste Entscheidungsorgan in der Union und daran wird sich auch nichts ändern. Diese Taktik ist fast in allen Ländern bei den Regierenden beliebt. Sie geht auf, weil das Wissen um die Entscheidungsprozesse in der EU fast überall sehr gering ist und die Wähler das Spiel nicht durchschauen können. Das Schulfach "Europäische Bürgerkunde" gibt es leider nicht.

Die Sorgen des Bürgers

Selbst die Staats- und Regierungschefs machen da mit. In der "Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union", in der der Verfassungskonvent proklamiert wurde, schrieben sie einhellig, die Bürger fänden, "dass die Union stärker auf ihre konkreten Sorgen eingehen müsste und sich nicht bis in alle Einzelheiten in Dinge einmischen sollte, die eigentlich besser den gewählten Vertretern der Mitgliedsstaaten und der Regionen überlassen werden sollten".

Die Chefs selbst sind es aber, die bei jedem Gipfel die Kommission auffordern, zu allen möglichen Themen Aktionspläne, Berichte, Vorschläge auszuarbeiten, die dann die Minister und das Parlament ablehnen, verändern oder beschließen können - alles doch "gewählte Vertreter der Mitgliedsstaaten".

Immer wieder erkennen die Mitgliedsstaaten aber auch ihre eigene Verantwortung. Seit 1993 gilt das aus der christlichen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip: Entscheidungen sollten auf der niedrigst möglichen Ebene fallen. Das heißt, dass auf EU-Ebene nur dann etwas geregelt werden soll, wenn es einen "europäischen Mehrwert" gibt; wo grenzenübergreifendes Handeln deutliche Vorteile hat (siehe Seite 23).

Zügel für die Zentrale

Das Prinzip ist leicht zu formulieren, aber schwer umzusetzen. Seit 1993 wurde viel darüber diskutiert, wie das geht. Der Verfassungsentwurf sieht vor, dass die Kommission bei jedem Gesetzesvorschlag den europäischen Mehrwert ausführlich begründen muss und dass dann die nationalen Parlamente ihre Stellungnahme dazu abgeben können. Damit würde die demokratische Legitimierung der EU-Regeln erhöht. Allerdings würde das Gesetzgebungsverfahren dann noch länger dauern.

Der Verfassungsentwurf enthält eine Auflistung der Kompetenzaufteilung zwischen Union und Nationalstaaten. Auf Unionsebene gibt es nur relativ wenige, aber wichtige Bereiche, wo die EU allein zuständig ist: die Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt, die Währungspolitik der Euro-Länder, die Handelspolitik, die Zollunion und die Erhaltung der biologischen Meeresschätze. Die Liste der geteilten Zuständigkeiten ist länger. Dann werden noch Bereiche aufgezählt, wo die Union bestimmte Aufgaben durch Koordination oder Unterstützung der Mitglieder hat.

Beachtlich ist, dass dieser Abschnitt des Entwurfs einer der am wenigsten umstrittenen des Textes ist. Bei der konkreten Umsetzung kann man aber wieder heftige Diskussionen erwarten. Es gibt in den Mitgliedsländern schließlich "eherne nationale Interessen" - wie es ein langjähriger EU-Botschafter einmal genannt hat - die unabhängig davon sind, wer gerade die Regierung stellt.

Keine französische Regierung wird ihre Bauern opfern. Keine deutsche Regierung kann es sich leisten, die Interessen der Industrie zu vernachlässigen. Keine britische Regierung wird auf ihre außenpolitische Sonderstellung verzichten und wenn sie schon bei einer EU-Außenpolitik mitmacht, will sie dort eine führende Rolle spielen. Österreich hat seine Wasserreserven und seine Anti-Kernkraft-Politik.

Europafreundlicher T. Blair

Bei anderen Themen ändert sich die Haltung der Mitgliedsländer mit jedem Regierungswechsel. Als Tony Blair gewählt wurde, war Großbritannien auf einmal deutlich europafreundlicher. Gerhard Schröders Wahl änderte nicht nur atmosphärisch die deutsche Politik. Bereits bei seinem ersten Auftreten in einem EU-Forum, beim Gipfel von Pörtschach, demonstrierte er, dass er von der stark emotional geprägten extrem integrationsfreundlichen Haltung Helmut Kohls abgehen wird. Der Überraschungssieger in Spanien José Luis Rodriguez Zapatero kündigte an, er wolle das Land wieder mehr auf Europa konzentrieren.

Im Gegensatz zu diesen Beispielen hat die schwarz-blaue Wende in Österreich zwar im In- und Ausland viel Staub aufgewirbelt, hatte aber keine besonderen europapolitischen Auswirkungen. Schließlich sind ja mit Wolfgang Schüssel und Benita Ferrero-Waldner die Hauptpersonen der Europapolitik gleich geblieben. In der Zeit der Sanktionen war es Teil der Gegenstrategie zu zeigen, dass Österreich unbeeindruckt von der Aktion der 14 in der EU beharrlich seinen Weg weiter geht.

Eine offene Frage ist, wie sich die Osterweiterung auswirken wird. In den ehemals kommunistisch beherrschten Staaten gibt es häufige Regierungswechsel. In den Fortschrittsberichten der Kommission wurde das immer als Beweis für funktionierende Demokratien eingestuft. Man kann aber auch der Meinung sein, dass dahinter sehr labile politische Systeme stehen.

Labile Systeme im Osten

Angesichts der großen Zahl der EU-Gegner in manchen Beitrittsländern wird es für die Regierungen schwierig sein, in der Union Kompromisse einzugehen. Einen Vorgeschmack gab der scheidende polnische Ministerpräsident Leszek Miller im vergangenen Dezember, als er als der Hauptschuldige am Scheitern der Verhandlungen über den Verfassungsvertrag galt. Auch der Ausgang der slowakischen Präsidentschaftswahlen macht Prognosen nicht einfacher.

Die nächsten Monate werden für die EU nicht leicht. Große Veränderungen stehen ins Haus: die Erweiterung, die Entscheidung über den Verfassungsvertrag, die Wahlen zum Europaparlament und die Bestellung einer neuen Kommission. Wahrscheinlich wird man erst nächstes Jahr sehen, ob die EU der 25 in der Lage ist, die europäische Integration weiter zu führen. Gäbe es da größere Schwierigkeiten, müsste man damit rechnen, dass unter der Führung von Deutschland und Frankreich das oft zitierte Kerneuropa entsteht. Da würden dann wohl auch die Benelux-Länder, Italien, vielleicht Spanien, nach Möglichkeit Österreich die weitere Vertiefung der Integration voran treiben. Vom europäischen Traum der Gründungsväter bliebe in einem Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten nicht mehr viel über.

Der Autor war ORF-Korrespondent in Brüssel.

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