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Für Österreich (k)ein neutrales Schnittmuster?

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„Die Teilnahme an der Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses ist für Osterreich von zentraler Bedeutung“, und deswegen werde die neue Bundesregierung „sicherstellen, daß österreichische Unternehmen an der Dynamik des großen europäischen Marktes und den Technologieprogrammen der EG teilnehmen können“ — so liest man in der Vereinbarung über die Wirtschaftspolitik, die bei den Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP erzielt wurde. Damit ist das Streben nach einer engeren Verbindung zwischen Österreich und der Eu-

ropäischen Gemeinschaft Bestandteil des Regierungsprogramms geworden.

Wie weit die Annäherung gehen soll, darüber wird seit längerem diskutiert — bis hin zur Vollmitgliedschaft, wie sie kürzlich etwa vom FPÖ-Parteiobmann Jörg Haider gefordert wurde.

So kam es nicht von ungefähr, daß der sowjetische Botschafter Gennadij Schikin im Jänner 1987 in aller Form Bedenken gegenüber einem Beitritt Österreichs zur Gemeinschaft erhob, eine weitere Annäherung allerdings als unbedenklich bezeichnete.

Ob aber damit die Probleme, auch die neutralitätspolitischen, einfach vom Tisch geschoben werden können, ist eine andere

Frage. Sie ist übrigens schon oft gestellt und erörtert worden. Mehrere Argumente wurden immer wieder ins Spiel gebracht:

• Der dauernd Neutrale muß außenwirtschaftspolitisch autonom bleiben, der EWG-Vertrag gibt die Handelspolitik aber in die Hände von Gemeinschaftsorganen. Auch gemeinschaftlich beschlossene Embargo- oder Boykottmaßnahmen gegenüber Drittstaaten seien in diesem Zusammenhang möglich - für einen dauernd Neutralen könne ein solches Gemeinschaftsregime nicht in Frage kommen.

• Auch andere Bereiche der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten werden der Autonomie entzogen. Der EWG-Vertrag wolle ja gerade die „Integration“ der beteiligten Volkswirtschaften zu einem unauflöslichen Ganzen, das heißt, die Handlungsfähigkeit des integrierten Staates ist effektiv eingeschränkt, ganz gleich, ob seine Souveränität formell als unangetastet gilt oder nicht.

• Mitgliedsstaaten müssen auch im Kriegsfall der Gemeinschaft eingeordnet bleiben (Artikel 224 des Vertrages).

• Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer - eines der vier Prinzipien des Gemeinsamen Marktes — ist mit den Artikeln zwölf bis 15 des Staatsvertrags kaum vereinbar (sie enthalten ein Beschäftigungsverbot für Ausländer in bestimmten Produktionssparten).

Das waren übrigens nicht die einzigen Bedenken gegenüber dem uneingeschränkten Beitritt.

Man warf die Frage auf, ob es nicht eine Sonderregelung geben könne, die Österreich die Möglichkeit gebe, für alle Bestimmungen, die die Neutralitätspflichten berühren, Ausnahmen zu beanspruchen, bis hin zur Suspendierung oder Kündigung der Mitgliedschaft im Neutralitäts- oder im Krisenfall. Aber daraus wurde nichts. EG-Politiker ließen wissen, das gehe doch nicht an — daß gewisse Staaten sich unter Berufung auf ihre Neutralität die Rosinen aus dem Integrationskuchen holen, sich der entsprechenden Pflichten aber entziehen wollten ...

So kam es in den siebziger Jahren zu einem Abkommen, das viel weniger enthielt als eine wirkliche Teilnahme oder auch nur eine Zollunion mit der Gemeinschaft.

Seither hat sich vieles geändert. Die Österreicher merken, daß sie immer mehr von EG-Entscheidungen betroffen werden, die ohne ihre Mitsprache zustande kommen. Andererseits hat sich auch die Gemeinschaft verändert:

• Die anfangs so stark betonte Supranationalität (die Untertänigkeit der Mitgliedsstaaten gegenüber dem Gemeinschaftsregime) hat sich abgeflacht, zum Beispiel durch den seit 1966 üblichen Verzicht des Ministerrats auf Mehrheitsentscheidungen.

Das gilt manchen als Argument dafür, daß ja nun die Unabhängigkeit Österreichs nicht mehr so wie früher beeinträchtigt würde — auch als Vollmitglied müsse man sich anderen Staaten nicht mehr beugen.

• Die EWG läßt sich nicht mehr einfach als die „wirtschaftliche Basis des aggressiven NATO-Blocks“ bezeichnen, wie das Chruschtschow seinerzeit den EWG-interessierten Österreichern entgegenhielt. Man muß nicht NATO-Mitglied sein, um der EG anzugehören, wie das Beispiel Irlands zeigt. (Indessen ist Irland nicht wirklich „neutral“, es wahrt sich seine Option, um sie eventuell in Verhandlungen um Nordirland ins Spiel zu bringen ...)

Dem stehen jedoch andere Umstände gegenüber, die ebenfalls nicht übersehen werden dürfen:

Seit den sechziger Jahren hat die Gemeinschaft mehrere Beitrittswellen erlebt. Die Zwölf sind

längst nicht mehr so homogen wie die Sechs der Gründerzeit oder wie die Neunergemeinschaft, die gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Österreich-Abkommens begann. Die EG von heute ist schon mit der Lösung der Zwölferprobleme so sehr gefordert, als daß sie Österreichs wegen qualitativ neuartige und für das Integrationssystem problematische Ausnahmeregeln in Kauf nehmen und damit das System zusätzlichen Sprengkräften aussetzen könnte.

Mit Jahresbeginn 1987 ist die „Einheitliche Europäische Akte“ in Kraft getreten, die nach langem Ringen das Gemeinschaftsgefüge immerhin um einige Schritte einer „Europäischen Union“ annähern soll (FURCHE 50/1985). Insbesondere soll in den nächsten fünf Jahren der „einheitliche Binnenmarkt“ hergestellt werden. Das bedeutet aber einen erheblichen Mehrbedarf an gemeinschaftlicher Steuerung auf wirt-schafts- und währungspolitischem Gebiet, so daß zum Beispiel der Begriff der Wirtschafts-

und Währungsunion erstmals im neugefaßten EWG-Vertragstext aufscheint. Dieser Text sieht auch eindeutig den Mehrheitsentscheid des Ministerrats für die Binnenmarktentschlüsse (sowie eine verstärkte Bevollmächtigung der EG-Kommission zu Durchführungsentscheidungen) vor.

Das heißt, die Autonomie, die unabhängige Gestaltungs- und Lenkungsmöglichkeit der Einzelstaaten, wird abnehmen. Anders gesagt: die scheinbar bereits überlebte „Supranationalität“ wird gleichsam hinten herum, als sachnotwendige Voraussetzung für das Funktionieren des Binnenmarktes, wieder relevant werden.

Das gilt um so mehr, da die Gemeinschaft sich in den nächsten Jahren ernsthaft zusammennehmen muß: die Uberwindung der Arbeitslosigkeit oder der Verschuldung ist ohne neue Wachstumsimpulse kaum denkbar.

Solche können aber, so wie die Dinge stehen, in absehbarer Zeit kaum von außen kommen, weder aus den USA noch aus der Dritten Welt ist zum Beispiel ein Mehr an kaufkräftiger Nachfrage zu erwarten. Also ist eine Erhöhung der Binnennachfrage nötig — und deswegen darf das ehrgeizige Vorhaben, bis 1992 einen echten Binnenmarkt zu schaffen, nicht auf dem Papier der „Einheitlichen Akte“ stehenbleiben. Denn wer den Binnenmarkt will, wird an der Wirtschafts- und Währungsunion kaum vorbeikommen.

Man mag einwenden, das würde vielleicht auch nicht so heiß gegessen, wie es nun ausgekocht wurde — die nächsten Bremsmanöver kämen bestimmt. Aber aus österreichischer Sicht auf diese Karte zu setzen, das wäre geradezu verquer: Wollte Wien einerseits an der „Vollintegration“ teilhaben, andererseits aus Neutralitätsgründen darauf spekulieren, daß sie wahrscheinlich doch nicht wirklich funktionieren möge, dann wäre das eine Strategie, die man eher dem Herrn Travnicek unterstellen sollte, als einer Bundesregierung, die Redlichkeit proklamiert.

Je mehr die Fortführung der Integration das bringt, was Österreich sich von der Teilnahme erwartet, desto weniger ist die Mitgliedschaft mit „wirtschaftlicher Unabhängigkeit“ vereinbar. Ähnliches gilt auch für eine an den echten Beitritt heranreichende De-facto-Angliederung.

Was soll und kann aber die vielberufene „Annäherung“ bringen, welches Verhandlungsziel hat Sinn?

Aufs erste versteht sich die Antwort scheinbar von selbst: ein möglichst großes Mehr an Integration, wenn auch wohl ohne Vollmitgliedschaft. Aber läßt sich diese Leerformel konkretisieren? Kanzler Franz Vranitzky und Vizekanzler Alois Mock haben es getan: anzustreben wäre die „volle Teilnahme am Binnenmarkt“. Ist das wörtlich zu nehmen, oder nur als generelle Richtungsangabe? Es gilt wohl eher das Letztere, und zwar aus folgenden Gründen:

„Volle“ Einbeziehung in den Binnenmarkt bedeutet de facto eine Eingliederung in die gemeinschaftliche Wirtschafts- und Währungspolitik, die nötig ist, wenn der Binnenmarkt funktionieren soll. Das hieße eine De-f ac-to-Mitgliedschaft, und ob sie mit der Forderung nach Autonomie verträglich wäre (also mit der inhaltlichen Seite der formell neutralitätsrechtlich nötigen Unabhängigkeit), ist zumindest diskutabel.

Außerdem schloße das den weitgehenden Verzicht auf eine eigene Agrarpolitik ein; Bauern-

verbände und Landwirtschaftskammern würden, überspitzt gesagt, zu Sektionen der „COPA“, der europäischen Bauernbünde-zentrale.

Welche Möglichkeiten gäbe es diesseits einer solchen Radikallösung? Vielleicht eine Weiterentwicklung der Freihandelsregelung zur Zollunion. Aber das wäre eine Binnenmarktbeteiligung zweiter Klasse und für Österreich wohl auch deshalb unbefriedigend, weil die Agrarprobleme ungelöst blieben.

Im übrigen aber gibt es außer den Modellen „Binnenmarkt mit Wirtschaftsunion“, „Zollunion“ und „Freihandelszone“ keine vordefinierten Schnittmuster für ein spezielles Integrationskonzept zwischen Österreich und der EG.

Das heißt: alles ist Verhandlungssache — abgesehen davon, daß das Ergebnis für die Gemeinschaft selbst halbwegs systemkonform sein müßte.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Wien und Direktoriumsvorsitzender für Europäische Politik in Bonn.

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