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Ein langer Weg

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Zwölf Jahre nr ch Gründung der EFTA ist mit dem Beschluß Großbritanniens, der EWG beizutreten, auch die Uhr für die kleine Europäische Freihandelszone abgelaufen. Ihr aus diesem Anlaß einen „Nachruf“ zu halten, wäre verlockend, aber nicht zielführend, denn die EFTA wird sich zwar längstens im Jahre 1973, nämlich am Tage des vollzogenen Beitritts Großbritanniens zur EWG, organisatorisch aus ihrer bisherigen Form lösen, aber als wichtige Entwicklungsstufe zu einem größeren gemeinsamen europäischen Markt wesentlich der weltpolitischen Demarkationslinie in die Geschichte unseres alten Kontinents eingehen.

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Zwölf Jahre nr ch Gründung der EFTA ist mit dem Beschluß Großbritanniens, der EWG beizutreten, auch die Uhr für die kleine Europäische Freihandelszone abgelaufen. Ihr aus diesem Anlaß einen „Nachruf“ zu halten, wäre verlockend, aber nicht zielführend, denn die EFTA wird sich zwar längstens im Jahre 1973, nämlich am Tage des vollzogenen Beitritts Großbritanniens zur EWG, organisatorisch aus ihrer bisherigen Form lösen, aber als wichtige Entwicklungsstufe zu einem größeren gemeinsamen europäischen Markt wesentlich der weltpolitischen Demarkationslinie in die Geschichte unseres alten Kontinents eingehen.

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Als 1956 der Vertrag von Rom geschlossen wurde, war es jenen Eurpäern, die gewohnt sind, über die eigene Kirchturmspitze hinauszublicken, klar, daß die Gemeinschaft der Sechs nur ein Anfang sein konnte. Der wirtschaftliche Zusammenschluß der sechs Westeuropäer — er war und ist heute nur ein solcher und noch lange kein politischer, darüber sollte man sich keiner Täuschung hingeben — mußte die marktwirtschaftlich orientierten europäischen Staaten auf den Plan rufen. Darum begannen ja auch bereits im Herbst 1956 unter britischer Führung die Verhandlungen über eine große europäische Freihandelszone, deren Partner einerseits die EWG, anderseits die anderen europäischen Staaten sein sollten. Das Schicksal dieser Verhandlungen ist bekannt Sie scheiterten, weil — wie wir rückblickend nun feststellen können — der Zeitpunkt dazu einfach zu früh gewählt war. Man müsse, so argumentierten vor allem die Franzosen, zuerst einmal sehen, was aus dieser EWG wirklich wird, bevor man an irgendeine Erweiterung denken könne. Auch war das Programm einer solchen europäischen Freihandelszone für die damalige Zeit zu umfangreich gesteckt. Die potentiellen Freihandelsländer wollten sich — wiederum sei eine fanzösische Äußerung zitiert — „nur die Rosinen aus dem Kuchen herausklauben“ ohne die sonst notwendigen Ingredienzien beizusteuern. Oder, sachlich gesprochen, die Freihandelsländer waren damals weder bereit noch imstande, neben den Vorteilen auch die Verpflichtungen und Nachteile eines gemeinsamen Marktes auf sich zu nehmen. Die Verhandlungen scheiterten, und die Konsequenz war die EFTA der Sieben, der sich später Finnland als assoziiertes Land und ganz zuletzt Island als Mitglied anschlossen. Der Vertrag von Stockholm, mit dem die EFTA geschaffen wurde, hatte aber eine wichtige Präambel, in der ausgesagt wurde, daß diese EFTA auch ein Instrument für eine kommende gesamteuropäische Lösung sein solle. Schon eineinhalb Jahre nach ihrer Gründung beschloß daher der EFTA-Ministerrat in seiner Genfer Sitzung vom Juli 1961, daß seitens der EFTA-Staaten nun Verhandlungen mit der EWG auf genommen werden sollten, und zwar in der Form, daß alle EFTA-Mitglieder zu einem gemeinsamen Zeitpunkt in jenes wirtschaftliche Nahverhältnis zur EWG einzutreten hätten, das ihren speziellen wirtschaftlichen Bedürfnissen entspräche. Man war sich schon damals darüber klar, daß diese Verhandlungen bei einigen EFTA- Staaten zu einer Mitgliedschaft, bei anderen zu einer Assoziierung führen würden; Bedingung war nur, wie schon erwähnt, das gleichzeitige Inkrafttreten der Verträge. Da die ganze Lösung aber davon abhing, inwieweit es Großbritannien gelingen würde, sein Verhältnis zur EWG zu regeln, begannen die Verhandlungen zunächst nur zwischen Großbritannien und der EWG.

Österreichs Alleingang war keiner

Auch diesem Versuch war kein Erfolg beschieden. Mit dem berühmten Veto des französischen Generalpräsidenten vom 14. Jänner 1963 fanden sie ihr Ende. Die Folge davon war,

daß alle EFTA-Staaten bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung ihres Verhandlungswunsches bis auf weiteres ihre Bemühungen um einen Vertrag mit der EWG einstellten. Mit Ausnahme Österreichs. Damals begann das, was man nicht ganz korrekterweise den sogenannten „österreichischen Alleingang“ nannte. Nicht ganz korrekt deshalb, weil Österreich, dessen wirtschaftliche Beziehungen mit der EWG bekanntlich von allen EFTA-Staaten die weitaus bedeutendsten sind, seine Verhandlungen unter vollständiger und ununterbrochener Kontaktnahme mit seinen ETFA-Freunden führte. Exploratorische Gespräche, die ein Jahr dauerten, und anschließend offizielle Vertragsver- handlungen zwischen Österreich und der EWG bildeten in der Folgezeit die einzigen tatsächlichen Integrationsbemühungen im europäischen Raum. Die österreichischen Verhandlungen, deren letzte am 1. Februar 1967 stattfand, führten so weit, daß in einem offiziellen Kommunique der EWG festgestellt werden konnte, daß es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten für den von Österreich angestrebten „wirtschaftlichen Vertrag besonderer Art“ mehr gebe. In der ganzen Zeit dieser Verhandlungen wurde Österreich besonders von französischer Seite unterstützt. Die EWG-Kommisssion bereitete daher einen Antrag an den EWG-Mi- nisterrat vor, demzufolge die Kommission nun zur endgültigen Formulierung und Vorlage eines Vertragstextes ermächtigt werden sollte. Hier nun trat die Kehrtwendung der französischen Integrationspolitik gegenüber Österreich ein. Während noch in einem vielstündigen Gespräch zwischen dem französischen Außenminister und dem österreichischen Handelsminister am 18. Mai 1967 vereinbart wurde, daß die Verhandlungen mit Österreich fortgesetzt werden sollten, erfolgte im Herbst des gleichen Jahres anläßlich eines offiziellen Besuches des französischen Regierungschefs und seines Außenminister in Wien die Absage an Österreich. Auch das österreichische Integrationsvorhaben, so argumentierte man nun auf der französischen Seite, sei ein Bestandteil einer gesamteuropäischen Integrationslösung und könne daher nicht separat verwirklicht werden. Dies, obwohl es gerade die französische Regierung war, die in den vorhergehenden Jahren immer wieder darauf drängte, daß der Vertrag mit Österreich ein Sonderfall bleiben müsse, der keine Beispielswirkungen für die sonstige Integrationslösung haben sollte.

Die Früchte reifen

Damit kamen zunächst alle Integrationsbemühungen zum totalen Stillstand. Erst zwei Jahre später, im Dezember 1969, sollte die Türe zu einer gesamteuropäischen Lösung geöffnet werden, indem im EWG- Ministerrat beschlossen wurde, Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland aufzunehmen, unter gleichzeitiger Ankündigung, daß nach deren Gelingen auch für die neutralen Staaten eine Lösung angestrebt werden sollte.

Betrachtet man die relativ langen Zeiträume, die diese Entwicklungsstufen in Anspruch nahmen, so er scheint die Frist bis zum Beitrittsbeschluß des britischen Unterhauses am 28. Oktober 1971 als außerordentlich kurz. Die Ursache hiefür liegt einerseits in dem großen Verhandlungsgeschick des gegenwärtigen britischen Premierministers, anderseits aber eben in der Tatsache, daß die Früchte am europäischen Integrationsbaum nun reif werden. In einen größeren Zusammenhang gestellt, gehört die wirtschaftliche Einigung Europas in das lebensnotwendige Bemühen, dem Stammkontinent der westlichen Welt seinen mondialen Platz auch für die Zukunft zu sichern!

Für Österreich ist diese Entwicklung nach wie vor von besonderer Bedeutung, kommen doch fast 60 Prozent seines Imports aus den EWG-Ländem und gehen 40 Prozent seines Exports dorthin. Wie wichtig diese Umstände sind, braucht nicht näher erörtert zu werden. Daß bisher infolge der Zolldiskriminierung seitens der EWG noch keine größeren wirtschaftlichen Schäden eingetreten sind, ergab sich einfach daraus, daß die steil ansteigende Weltwirtschaftskonjunktur der letzten Jahre die mißlichen Folgen der wirtschaftlichen Zweiteilung Europas überdeckte. Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, daß die nun eintretende Lösung gerade mit einem Zeitpunkt zusammenfällt, der ohne Zweifel auch den vorläufigen Endpunkt einer solchen einmaligen

Aufwärtsentwicklung der Weltwirtschaft markiert.

Energisches Verhandeln tot not

Freilich ist das Ziel noch nicht erreicht. Wenn auch die Straße dazu offen ist, so muß der Weg bis zu den notwendigen Beitritts- und Assoziierungsverträgen noch zurückgelegt werden. Er weist noch manche Schwierigkeiten auf. Das österreichische Intergrationsziel — darüber sollte man sich im klaren sein! — ist nach wie vor die Herstellung eines gemeinsamen Wirtschaftsbereiches für alle Zweige der Wirtschaft. Praktisch gesprochen, kann dieses Ziel nur durch Beseitigung aller Zoll- und Handelsschranken erreicht werden, was für den Agrarsektor auch die Harmonisierung der Agrarmarktordnung zur Voraussetzung hat. Was gegenwärtig von der EWG aber den Neutralen angeboten wird, ist leider viel weniger. Es sollen nur die Handelsschranken für den industriellen Sektor beseitigt werden und davon soll es wichtige Ausnahmen geben, wie etwa Papier und Stahl. Der Agrarsektor soll zur Gänze ausgeschlossen bleiben. Was die Ausnahmen auf dem industriellen Sektor betrifft, so muß man schlicht und einfach sagen, daß das, sollte es dabei bleiben, mehr als kleinlich seitens der EWG wäre und für Österreich die positiven Wirkungen der Integration beeinträchtigen müßte. Bezüglich des Agrarsektors ist zwar zu sagen, daß hier die Schwierigkeiten auch innerhalb der EWG und noch mehr im externen Verhältnis beträchtliche sind, aber auch die österreichische Agrarwirtschaft ist auf Export angewiesen. In österreichischer Sicht kann man die Landwirtschaft von einer Integrationslösung nicht ausschließen! Mit ein paar Kontigenten, die man uns huldvoll einräumen will, ist die Angelegenheit keineswegs bereinigt! Österreich wird also bei den kommenden Verhandlungen mit der EWG mit einer Energie, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt, vorgehen müssen. Daß man gegen-

über Österreich gewissermaßen ein schlechtes Gewissen hat, zeigt sich im übrigen auch daraus, daß Brüssel bereit ist, durch ein sogenanntes Interimsabkommen gewisse Prioritäten gegenüber den anderen Nichtbeitrittswerbern einzuräumen. Das ist sicherlich zu begrüßen, aber es ist nicht der Kem der Sache, sondern höchstens ein Erfolg der seinerzeitigen österreichischen Bemühungen!

Wie immer dem nun aber auch sei, daß die Europäische Wirtschaftsintegration nun endlich Wirklichkeit wird, ist trotz der aufgezählten Schwierigkeiten Anlaß genug, sich zu freuen. Welche Fortschritte der Europa-Gedanke in seiner wirtschaftlichen Perspektive nun wirklich gemacht hat, sehen wir auch noch aus einem anderen Umstand. Das Angebot an die Neutralen hat die Form einer Freihandelszone. Dies muß als der größte technische Fortschritt der europäischen Integrationsproblematik bezeichnet werden, durfte man doch bisher das Wort „Freihandelszone“ in Brüssel nicht einmal aussprechen, wenn man dort ernst genommen werden wollte. Eine Freihandelszone sei, so behauptete man bisher in Brüssel, mit der Konstruktion des gemeinsamen Marktes einfach unvereinbar. Jede derartige Konstruktion würde das System des gemeinsamen Marktes stören und damit ihn selbst in Frage stellen. Nun, die EFTA hat in ihrem mehr als zehnjährigen Bestand den

Beweis dafür erbracht, daß dem nicht so ist. Der Abbau der EFTA- Zölle bis auf null bei Aufrechterhaltung der autonomen Zölle gegenüber Drittländern hat die wirtschaftliche und vor allem handelspolitsche Entwicklung der EFTA-Staaten nicht nur nicht gestört, sondern wesentlich belebt. Das System der Ursprungszeugnisse an den Staatsgrenzen der EFTA-Länder hat sich als fast reibungslos handhabbar erwiesen und bewährt. Es wird auch vis-ä-vis der EWG funktionieren.

Die weiteren Folgen

Die Erfahrungen, die man bisher sowohl innerhalb der EWG als auch der EFTA gemacht hat, berechtigen aber auch zu der weiteren optimistischen Erwartung, daß sich über den Wortlaut der jeweiligen Verträge hinaus weitere positive Konsequenzen beinahe von selbst ergeben werden. Das beste Beispiel hiefür ist, daß die EWG nun auch ihre Währungspolitik integrieren muß, obwohl darüber im Vertrag von Rom nichts Konkretes ausgesagt ist. Alles, was man dort darüber lesen kann, ist eine Empfehlung des gegenseitigen Wohlverhaltens und eine sehr schwache Konsultationspflicht, die aber in Wirklichkeit zu nichts verpflichtet. Aber allein das Funktionieren des gemeinsamen Agrarmarktes macht die Integrierung auch der Währungspolitik unerläßlich. Auch im Industriellen Bereich ergibt sich laufend die Notwendigkeit weitergehender Harmonisierungen, um beispielsweise auf dem steuerlichen Sektor Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen. Das ist im übrigen ein Problem, das sich schon innerhalb der EFTA bemerkbar machte. Man denke etwa an die Wettbewerbsverzerrungen, die durch die steuerlichen Belastung der industriellen Produkte im Verhältnis Österreichs zur Schweiz eingetreten sind. Logischerweise sind die Produktionskosten in einem Land wie der Schweiz mit einer maximalen Einkommenssteuerbelastung von 30 Prozent andere als in Österreich mit seinen mehr als doppelt so hohen Steuersätzen. Jeder gemeinsame Wirtschaftraum zwingt also zu Harmonisierungen und das wird im großen europäischen Wirtschaftsraum der nun zehn EWG-Staaten und der drei bis sechs Freihandelszonen genau so sein. Das aber ist eine erfreuliche Tatsache, denn sie garantiert, daß auch die Freihandelszonenländer schließlich an der Dynamik der großen EWG teilhaben werden.

In der gleichen Richtung liegt noch eine andere Überlegung. Das gegenwärtige Anbot der EWG an die Neutralen schließt diese von einer Mitbestimmung in Brüssel aus. Das ist zunächst zu bedauern. Bekanntlich hat Österreich bei seinen seinerzeitigen Verhandlungen gerade auf diesen Punkt besonderen Wert gelegt. In den seinerzeit ausgehandelten Grundsätzen war auch die Schaffung einer paritätischen Kommission vorgesehen, die sich laufend mit allen Fragen beschäftigen sollte, die sich aus dem Nah Verhältnis zwischen Österreich und der EWG ergeben würden. Davon wünscht man gegenwärtig in Brüssel nichts zu wissen. Es ist aber nicht zu kühn, vorauszusagen, daß sich die Notwendigkeit solcher Institutionen mit der Zeit von selbst ergeben wird. Es braucht eben alles seine Zeit Auch die Agrarfrage kann nicht ewig ungelöst bleiben. Österreich könnte gerade auf diesem Gebiet einiges selbst zur Vorbereitung einer echten Agrarintegration mit dem gemeinsamen Markt tun. indem es seine Agrarmarktordnung autonom derjenigen der EWG anpaßt.

Fassen wir alles zusammen, so müssen wir sagen, es ist, im großen genommen, der Beginn einer erfreulichen Entwicklung. Ihre Zweckmäßigkeit ergibt sich noch aus einem anderen Aspekt. Es hieße die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, wollte man nicht sehen, daß sich auch östlich der weltpolitischen De- markartionsllnie Integrationsfortschritte bemerkbar machen. Das COMECON ist zwar nicht so Wie die EWG eine echte Wirtschaftsgemeinschaft, aber es zeigt bereits deutliche Merkmale integrationspolitischer Natur. So bahnt sich im Osten eine weiträumige Arbeitsteilung an — eines der bedeutendsten Integrationsmerkmale — und auch auf anderen Gebieten, so auf dem einer großräumigen Energieversorgung werden bedeutende Fortschritte gemacht. Denken wir in längeren Zeiträumen, so müssen wir feststellen, daß sich im gesamteuropäischen Raum zwei riesige Wirtschaftsräume entwicklen, die sich gegenseitig befruchten werden, oder anders gesagt: die nun einsetzende Wirtschaftsintegration Westeuropas ist auch ein Schritt zur Ausweitung der westöstlichen Wirtschaftsbeziehungen.

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